Geheimdienstskandal und Regierungskrise in Luxemburg

Wer hat an der Uhr gedreht?

Der luxemburgische Premierminister Jean-Claude Juncker ist wegen eines Geheimdienstskandals zurückgetreten. Der Fall zeigt, wie schwierig es ist, geheim agierende Beamte zu kontrollieren, und wie ­unterhaltsam echte Agentenstorys sein ­können.

»Ech hunn d’Flämm mat där Saach!« Das ist Luxemburgisch, ins Deutsche übersetzt heißt es in etwa: »Mir hängt die Sache zum Hals heraus.« Die Worte stammen von Jean-Claude Juncker. Der luxemburgische Premierminister sprach sie vor gut drei Wochen, als er noch mitten in jener Geheimdienstaffäre steckte, die nun dank seines Rücktritts weit über die Grenzen des kleinen Großherzogtums bekannt ist.
Dass ausgerechnet sein Nebentätigkeit als Dienstherr des 60 Mann starken, landläufig als »Spëtzeldengscht« bezeichneten Geheimdienstes zum Ende seiner Amtszeit führen würde, hatte der dienstälteste Regierungschef Europas wohl nicht erwartet. Offiziell heißt der Dienst Service de Renseignement de l’Etat de Luxembourg (SREL) und Juncker ist ebenso lange dessen Chef, wie er im Land regiert.
Am Mittwoch voriger Woche kam es auf dem Krautmarkt, direkt neben dem großherzoglichen Palast, zum Showdown. In der »Chamber«, dem Abgeordnetenhaus Luxemburgs, debattierten die Parlamentarier sieben Stunden lang über den Bericht der Untersuchungskommission, die seit Januar die Aufklärung zahlreicher »Dysfonctionnementer« beim SREL betreibt. Juncker hielt ein zweistündiges Plädoyer, doch diese ­rhetorische Übung war selbst für den wortgewandten »Mister Euro« zu schwer.
Viele Luxemburger werfen dem Miterfinder des Euro vor, er habe über sein Engagement für ­Europa das eigene Land vernachlässigt. Die »Geheimdienstwelt« habe er, als er 1995 als Premierminister antrat, überhaupt »erst entdeckt«, ­begann Juncker seine Rede. Er habe dort neben tüchtigen Beamten auch »Paranoiker« und »Mythomanen« getroffen und es sei nicht immer leicht gewesen, diese »auseinanderzudividieren«.
Wie viel Spielraum es selbst im kleinen Luxemburg mit seinen 500 000 Einwohnern für einen weitgehend unkontrolliert agierenden Geheimdienst gibt, zeigt der 150seitige Bericht des Untersuchungsausschusses. Er liefert ausreichend Stoff für eine ebenso spannende wie unterhaltsame Agentenserie. Die Pilotfolge handelt von ­einer Uhr. Am 31. Januar 2007 befand diese sich mitsamt integrierter Wanze am Arm des damaligen Geheimdienstchefs Marco Mille. Ihm gegenüber saß Juncker, sein Vorgesetzter. Während beide ausführlich über Aktivitäten des Geheimdiensts plauderten, tat die Wanze ihren Dienst. Juncker ahnte davon nichts.
Mille sprach mit dem Premierminister unter anderem darüber, wie vage die Behörde früher ihre Mission definierte. Davon zeugen etwa »die 300 000 Karteikarten, die im Keller liegen«, und der Umstand, dass einst »alles, was nicht stramm konservativ« war, als »staatsgefährdend« galt. Erst zwei Jahre nach seinem Treffen mit Mille erfuhr Juncker von einem früheren Mitarbeiter des SREL davon, dass er selbst Opfer einer Abhöraktion geworden war.
Die Art und Weise, in der er auf die zahlreichen Unregelmäßigkeiten reagierte, zeigt, dass er sich durchaus um den Geheimdienst kümmerte – auf seine Weise. Gegen Marco Mille wurde keine disziplinarische Maßnahme eingeleitet, Juncker gab seinem Geheimdienstchef stattdessenunbezahlten Urlaub. Mille wechselte ein paar Monate später »auf eigenen Wunsch« in die Privatwirtschaft und wurde Sicherheitschef bei der Siemens AG in München.

Die Uhrenaktion war jedoch längst nicht die einzige Verfehlung eines Agenten, von der Juncker wusste und die personell und juristisch ohne ­direkte Folgen blieb. Eine weitere Folge der Serie spielt ebenfalls im Jahr 2007 und handelt vom russischen Milliardär Alexander Lebedew. Der SREL wollte dem Privatmann dabei helfen, zehn Millionen Dollar zurückzubekommen. Das Geld war ihm von einem ehemaligen Franco-Spion ­abgeluchst worden, dessen Nichte in Luxemburg wohnt. Als Juncker davon durch einen SREL-Mitarbeiter – seinen ehemaligen Chauffeur – erfuhr, soll er gesagt haben: »Jungs, was macht ihr für Sachen.« Das jedenfalls gab der Fahrer zu Protokoll. Bis heute ist ungeklärt, ob Juncker seinen Chauffeur beim SREL als Kontaktmann ­platziert hat und was genau dessen Aufgabe bei der Agententruppe ist.
Junckers Erläuterungen hierzu in der »Chamber« trugen eher zur Unterhaltung denn zur Erhellung bei. Weil sein Chauffeur den Wunsch geäußert habe, zum Geheimdienst zu wechseln, habe er sich beim SREL-Chef für ihn eingesetzt. »Wir kannten uns seit 20 Jahren und ich bin der Patenonkel seines Sohnes«, sagte Juncker. »Machen Sie nie einen Finger für jemand anderen krumm?« Er habe zudem mehrere dubiose Aktivitäten des SREL beendet, unter ihm habe es auch keine innenpolitische Spionage mehr gegeben. Linksextreme lasse er nicht observieren. »Ich mache mich doch nicht so lächerlich, wie sie sich selbst machen.«

Neben Autoschiebereien und der Gründung einer privaten Sicherheitsfirma, in die ehemalige Mitarbeiter des SREL ihr geheimes Wissen als künftiges Unternehmenskapital einbrachten, liefern die zahlreichen Verbindungen zur sogenannten Bombenleger-Affäre Stoff für eine weitere episodenreiche Staffel der Agentenserie. In den Jahren 1984 und 1985 sprengten Unbekannte in Luxemburg in einer Serie von Anschlägen vor allem Strommasten in die Luft. Die Taten sind bis heute nicht aufgeklärt. Das Motiv für das Uhrengespräch war Marco Mille zufolge eine illegale Abhöraktion im Zusammenhang mit den Bombenlegern. Er habe dokumentieren wollen, dass der Premierminister Kenntnis von der Bespitzelung hatte.
Der Dienstherr des Geheimdienstes wusste auch über andere Ermittlungstätigkeiten des SREL Bescheid. Der Geheimdienst verfasste etwa einen Bericht über den obersten Staatsanwalt des Landes, Robert Biever, in dem dieser der Pädophilie verdächtigt wird. »Anscheinend besitzt du einen Puff in Esch«, waren Junckers Worte, als er den Betroffenen darüber informierte. Er habe die Geschichte nicht ernst genommen, verteidigte der Premierminister im Nachhinein diesen saloppen Spruch.
Jean-Claude Juncker kam am Mittwoch voriger Woche zu dem Schluss, er sei für die Unregelmäßigkeiten in seinem Geheimdienst politisch nicht verantwortlich. Dies passt zur Selbsteinschätzung des Rhetorikers, der sogar auf Veranstaltungen von politischen Gegnern schnell die Lacher auf seiner Seite hat. Mit seinen für einen Staatsmann ungewohnt lockeren Sprüchen machte sich Juncker auf der europäischen Tribüne vor allem bei den Journalisten beliebt. »Können Sie nicht ein letztes Mal den Juncker für uns machen?« bettelte etwa eine deutsche Reporterin, als sie dem Chef der Euro-Gruppe beim Abschied das Mikrophon unter die Nase hielt. Der ­mehrsprachige Luxemburger ist mit vielen per du und empfing so manchen Pressevertreter im Garten seines bescheidenen Eigenheims. So nah kommt man Politikern seines Ranges selten.
Dass ihm nun der sozialdemokratische Koalitionspartner kündigte und der Premierminister deshalb die Auflösung seiner Regierung verkünden musste, ist ein großes Ereignis in Luxemburg. Seit 1945 kam es hier erst einmal zu vorgezogenen Neuwahlen, zudem stellte seit diesem Jahr mit Ausnahme einer Legislaturperiode Junckers Christlich Soziale Volkspartei (CSV) stets den Premierminister. Nicht umsonst reden viele vom »CSV-Staat«, wenn nicht gar vom »Juncker-Staat«. Dies wäre nur einer von vielen möglichen Titeln für die erfolgversprechende Fernsehserie.