Über den Friedensprozess in Kolumbien

Frieden in kleinen Schritten

In Kolumbien werden Friedensverhandlungen zwischen der Regierung und der Farc-Guerilla geführt. Erste Ergebnisse gab es bereits bei der zentralen Frage der Landrechte, den Kleinbauern ist das allerdings nicht genug.

Der alte Röhrenverstärker ist angeschlossen, der Lautsprecher funktioniert, im Hintergrund brummt der Generator. Heyler Santos macht einen letzten Soundcheck, spricht schnell und doch verhalten ins Mikro. »Die Worte springen wie von selbst aus mir heraus«, sagt er, »nach allem, was wir mitgemacht haben.« Und los geht’s. Wer die Geschichte des 21jährigen und seiner Freunde Enua und Francisco verstehen will, muss nun einfach zuhören. Denn heute findet in der Gemeinde Las Camelias die »Nacht der Erzählungen« statt, und weil an diesem Abend jeder hier am Ufer des Curvaradó über das sprechen soll, was ihn bewegt, sind auch die drei Jungs mit dabei. Unter dem Dach eines schlichten, aus Holz gezimmerten Hauses rappen die »Resistentes«, die »Widerständigen«, wie sie sich nennen, vor ihrem Publikum vom »verfluchten Krieg«, von der Vertreibung und natürlich von den Señores, den paramilitärischen Banden.
Jeder, der hier dem Sprechgesang zuhört, weiß genau, was gemeint ist. Alle Bewohnerinnen und Bewohner der 35-Familien-Gemeinde in der kolumbianischen Region Urabá haben erlebt, was die Rapper in ihren Zeilen zum Ausdruck bringen.
»Schon 1996 haben uns Paramilitärs und Soldaten bedroht«, erinnert sich Heylers Großmutter, María Ligia Chaverra. Ein Jahr später flüchtete die heute 72jährige mit ihrer Familie vor der Gewalt. Erst in anliegende Dörfer, später in den Regenwald. Andere zogen in die Städte, manche überlebten die Angriffe nicht. »Sie verfolgten uns, weil wir angeblich der Farc-Guerilla angehörten. Dabei waren wir nur Bauern.« Erst später verstand Doña María, was hinter der Invasion steckte. Nach der Vertreibung nutzten Agrarunternehmer das Land im Departement Chocó, das einst sie und ihr Mann im Regenwald nutzbar gemacht hatten. Soweit das Auge reichte, pflanzten die Unternehmer Ölpalmen. Später bauten sie auch Bananen an. Auf den Wiesen weiden inzwischen unzählige Rinder. Von den Palmen sind heute nur noch die vertrockneten Stümpfe zu sehen. Denn 2008 kehrten die Vertriebenen zurück. Sie zerstörten die Plantagen, die ihren Boden auslaugten, und siedelten sich in sogenannten humanitären Zonen an, die von internationalen Organisationen unterstützt werden.

»Kein Zugang für bewaffnete Akteure«, warnt ein Schild neben den hölzernen Eingangstor von Las Camelias. »Daran halten sich alle: die Paramilitärs, die Guerilla, die Soldaten«, sagt Santos. Rund um die Gemeinde sorgt ein Zaun für Schutz. Nur ein paar Quadratmeter Sicherheit. Aber nach und nach versuchen die Rückkehrer so, ihre alte Heimat zurückzuerobern, und bekommen dafür sogar Unterstützung von höchster Ebene. 2011 verabschiedet die Regierung von Präsident Juan Manuel Santos ein Gesetz, das eine Entschädigung und die Rückgabe des gewaltsam enteigneten Landes vorsieht.
Doch so einfach ist das nicht. Allein in den Jahren 2010 und 2011 wurden in Kolumbien 26 Menschen ermordet, die ihre Ländereien eingeklagt hatten. Heyler hat deshalb Angst, allein aufs Feld zu gehen. Seine Großmutter wurde erst jüngst wieder bedroht. Wer dahinter steckt? »Die Paramilitärs«, ist Doña María überzeugt. Diese Leute seien zwar offiziell demobilisiert, dennoch agierten sie weiter im Auftrag der Agrarunternehmer. Deshalb machen sich die agile Frau mit den müde wirkenden Augen und ihr Enkel auf eine lange Reise. Gemeinsam mit 14 weiteren Dorfbewohnern fahren sie nach Bogotá, um an einer Demonstration teilzunehmen, mit der die seit November laufenden Friedensverhandlungen zwischen Regierung und Guerilla unterstützt werden sollen.
30 Stunden quält sich der Bus über die holprigen Straßen. Durch die Provinzstadt Bajirá de Belén, wo paramilitärische Einheiten die Straßen kontrollieren, geht es vorbei an großen Rinderfarmen und unzähligen Bananenstauden, dann auf den Serpentinen der Kordilleren über Medellín nach Bogotá. Schon vorher weiß die 72jährige, dass ihr die Knochen noch Tage danach schmerzen werden. Doch für sie ist klar: »Ohne Abkommen wird es auch für uns keinen Frieden geben.« Frieden, das heißt für Doña María Sicherheit, Reparationszahlungen, die Rückgabe allen geraubten Landes, und dass die Verantwortlichen endlich zur Rechenschaft gezogen werden.
Die Guerilla taucht am Curvaradó nur selten auf. Dennoch spielen Konflikte wie die in Doña Marías Heimat beim Friedensdialog, der in Havanna stattfindet, eine zentrale Rolle. Es war die Farc, die darauf gedrängt hat, dass die Themen Landrechte und Agrarwirtschaft ganz oben auf der Tagesordnung stehen.

Zu recht, wie der Kolumnist Jaime Fajardo Landaeta meint. Einst selbst Guerillero, sitzt der Mittfünfziger heute in einem Großraumbüro im 15. Stock eines Verwaltungsgebäudes in Medellín, weit über den unzähligen Händlern, die in den umliegenden Straßen Saft, Kaffee oder Turnschuhe feilbieten. Dort berät Landaeta die Landesregierung in ihrem Bemühen um Versöhnung. Die Landfrage sei der Grund dafür gewesen, dass die Guerilla Mitte der sechziger Jahre zu den Waffen gegriffen habe, sagt er. Schließlich sei der Boden extrem ungleich verteilt. 1,5 Prozent der Bevölkerung besäßen 53 Prozent des kultivier­baren Landes. »Der Mehrheit unserer Kleinbauern wurde das Land geraubt, über fünf Millionen Menschen sind vertrieben worden«, erklärt er und ist überzeugt: »Wenn es keinen Friedensvertrag gibt, wird kein Unternehmer das Land zurückgeben.«
Die erste Hürde dafür ist nun genommen. Ein halbes Jahr verhandelten Vertreter der Regierung und der Farc, bis sie über die Landfrage eine Einigung erzielt haben. Ende Mai verkündeten die Dialogpartner in einem gemeinsamen Kommuniqué: »Was wir vereinbart haben, ist der Anfang einer radikalen Veränderung der ländlichen Wirklichkeit und der Agrarsituation in ­Kolumbien auf demokratischer und gleichberechtigter Ebene.« Im Zentrum stünden das Wohl der Kleinbauern, die Verteilung von Land und der Kampf gegen die Armut in den ruralen Gebieten. Die Campesinos sollen einen besseren Zugang zum Gesundheits- und Erziehungssystem bekommen sowie Besitztitel und damit rechtliche Sicherheit über ihre Territorien erhalten. Auch die Schutzzonen sollen ausgeweitet werden.
Uneinig sind sich die Unterhändler jedoch darin, welche Konsequenzen Großgrundbesitzer für diese Maßnahmen akzeptieren müssen. »Die ­legalen Besitzer haben nichts zu befürchten«, beschwor der Verhandlungsführer der Regierung, Humberto de la Calle. Wie aber soll die ungleiche Verteilung des Landes aufgehoben werden? An solchen Fragen wird sich entscheiden, ob die Vereinbarung Bestand hat. Der Farc-Vertreter Ricardo Tellez zeigte sich trotzdem optimistisch und meinte, nun werde »eine historische Schuld mit den Bauern beglichen«. Doch in den nächsten Monaten muss über die weiteren strittigen Punkte verhandelt werden: die Wiedereingliederung der Guerilla ins politische Leben, der Kampf gegen den Drogenhandel, die Aufarbeitung der Verbrechen von Soldaten, paramilitärischen Banden und der Guerilla sowie die Entschädigung der Opfer. Nur wenn sich die Verhandlungspartner in allen Fragen einigen, wird ein Abkommen in Kraft treten. Denn, so die Prämisse des Dialogs, »bevor nicht alles vereinbart ist, ist gar nichts vereinbart«. Für Doña María und ihre Leute heißt das: weiterkämpfen.

Bogotá. Es ist ein anstrengender Weg vom Parque Nacional zum Plaza Bolívar. Meter für Meter schieben sich Doña María und die anderen aus Las Camelias voran, fünf Stunden lang drängeln sie sich zwischen Gewerkschaftern, Indigenen und Studenten durch das Zentrum der Hauptstadt. In ihrer türkisfarbenen Hose und mit ihrer bunten Ledertasche kämpft sich die 72jährige durch die Menschenmenge. Die Strapazen der Fahrt scheinen plötzlich verschwunden. Rapper Heyler denkt bereits darüber nach, wie er die Demonstration in seinen nächsten Song einbaut. »Für ­einen Frieden in Chocó«, steht auf seinem T-Shirt. Und: »Marcha Patriótica« – der Name des Bündnisses, das zu dem Marsch aufgerufen hat. ­Während die Unterhändler verhandeln, wollen die Linken Druck von unten machen und können mit großem Zuspruch rechnen. Nach Umfragen, die das Wochenmagazin Semana veröffentlicht hat, unterstützen 63 Prozent der Bevölkerung den Friedensprozess. Allerdings sprechen sich fast zwei Drittel dagegen aus, dass die Guerilleros straflos bleiben. Etwa genauso viele wollen nicht, dass die Rebellinnen und Rebellen künftig am legalen politischen Leben teilnehmen. Über diese Fragen verhandeln die Gesprächspartner seit Anfang Juni in Havanna.
Und das mit einem Erfolg für die Farc: Vor zwei Wochen hat der Staatsrat die linke Partei Unidad Popular (UP) rehabilitiert. Die UP, die mehreren Guerillaorganisationen nahestand, war in den achtziger Jahren im Rahmen von Friedensverhandlungen gegründet worden. In der Folge ermordeten paramilitärischen Banden und Sicherheitskräfte etwa 3 000 Mitglieder ihrer Mitglieder, worauf hin viele Linke den bewaffneten Kampf fortsetzten.
Kein Vergeben! Am Rande der Demonstration zeigen Angehörige von Menschen, die in den Händen des Militärs verschwunden sind, Fotos ihrer verlorenen Söhne, Töchter und Ehemänner. Auch für sie ist klar: Es darf kein Abkommen ­geben, in dem Straffreiheit festgeschrieben wird. »Doch weder die Guerilla noch die Armee wird einen Vertrag unterstützen, der sie ins Gefängnis bringt«, wirft Landaeta ein.
Wie aber lässt sich das mit den Ergebnissen von Recherchen vereinbaren, die der Internationale Strafgerichtshof in Kolumbien durchgeführt hat? Die Haager Richter beobachten beide Seiten: Sie werfen der Farc und staatlichen Kräften Verbrechen gegen die Menschheit und Kriegsverbrechen vor. Landaeta hat auf dieses Problem, das bei den Verhandlungen eine zentrale Rolle spielt, keine Antwort. »Ich kenne keinen einzigen Friedensvertrag weltweit, der nicht auch Straflosigkeit mit sich brachte«, sagt der Mann, der sich seit Jahren mit Fragen der Versöhnung beschäftigt. Dann spricht er von den Erfolgen, etwa in Südafrika, und vom wichtigen Einsatz der Ange­hörigen der Opfer. Und von der Guerilla: »Auch die Farc muss endlich ihre Fehler eingestehen und für Wiedergutmachung sorgen.«
Nicht nur in Sachen Straffreiheit haben die Dialogpartner gleiche Interessen. Die Guerilla ist durch die militärischen Angriffe unter dem ehemaligen Präsidenten Alvaro Uribe erheblich ­geschwächt, und Santos, so Landaeta, »braucht einen erfolgreichen Abschluss der Gespräche, wenn er im nächsten Jahr wiedergewählt werden will«. Wohl deshalb stehen in Bogotá entlang der Demonstrationsroute der Marcha Patriótica, der eine Nähe zur Farc nachgesagt wird, Großleinwände, die den Präsidenten zeigen. »Wir alle brauchen den Frieden«, ruft Santos den Vorbeiziehenden vom Bildschirm entgegen, und plötzlich scheint es so, als hätten sich die politischen Verhältnisse in Kolumbien grundsätzlich gewandelt.

Der Feind steht für Santos derzeit nicht links, sondern im eigenen Lager. Denn sein autoritärer Vorgänger und Parteifreund Uribe torpediert systematisch die Verhandlungen. Immer wieder polemisiert der rechte Ideologe gegen den Dialog mit »Terroristen« oder prangert vermeintliche Farc-Anschläge an, die gar nicht stattgefunden haben. Lange Zeit hielt Santos still, schließlich ist er selbst dank Uribe groß geworden, in dessen Regierung war er Verteidigungsminister. Doch als sein Vorgänger jüngst über Twitter geheime ­militärische Informationen darüber veröffentlichte, von wo aus die Unterhändler der Guerilla von Kolumbien nach Havanna fliegen, platzte dem Staatspräsidenten der Kragen. Es sei unverantwortlich, diese Angaben zu publizieren, kritisierte Santos. Außerdem würden »Feinde des Friedens« wie Uribe »Lügen erfinden«, um die Verhandlungen zu sabotieren.
Uribe? Padre Alberto Franco ist zurückhaltend, wenn es um Namen geht. »Auffällig ist, dass die Angriffe auf uns zunehmen, wenn in den Gemeinden wichtige Schritte unternommen werden.« Francos Organisation, Justicia y Paz, hat ihren Sitzt in Bogotá, unweit der Demonstrationsroute. Die Menschenrechtler setzen sich für Menschen in vielen Regionen ein, die unter dem Krieg leiden. So haben sie Doña María und ihre Leute unterstützt, als es galt, Las Camelias aufzubauen, gemeinsam mit ihnen demonstrieren sie jetzt auch in der Hauptstadt. Vor dem Gebäude der Organisation stehen einige Männer, die genau beobachten, wer sich auf der Straße bewegt. Wie die drei weißen Kombis mit den abgedunkelten Scheiben, die vor dem Eingang stehen, sollen sie für den Schutz der Aktivisten von Justicia y Paz sorgen. Auch ein engmaschiges Metallgitter sorgt dafür, dass kein unerwünschter Besucher die Räume betritt.
Padre Alberto und seine Mitstreiter haben allen Grund, sich über ihre Sicherheit Sorgen zu machen. Regelmäßig werden sie angegriffen. Der 53jährige mit dem hageren Gesicht berichtet von einem geplanten Anschlag auf einen seiner ­Kollegen im März. Im Februar wurde er selbst angegriffen. Unbekannte schossen auf den Wagen seiner Bewacher: »Die Kugeln schlugen genau da ein, wo ich sonst sitze«, erinnert sich der ­Geistliche. Nicht nur sein politisches Gespür sagt ihm, dass auch Angehörige des Militärs in diese Angriffe verstrickt sind. Auch vertrauliche Informanten, die Zugang zu militärischen Informationen haben, berichteten ihm davon.
Dass der ehemalige Staatspräsident Uribe und ihm nahestehende Armeeangehörige mit den im Chocó ansässigen Agrarindustriellen und mit den paramilitärischen Einheiten unter einer Decke stecken, ist längst aktenkundig. Prozesse wie der gegen General Rito Alejo del Río, der 2012 wegen des Mordes an einem Bauern zu 25 Jahren Haft verurteilt wurden, haben das bestätigt. Dass sich nun aber die Widersprüche zwischen Uribe und Santos so zuspitzen, ist auch für Padre Alberto neu. Trotzdem hat er eine Erklärung: »Für Leute um Uribe, der aus Kreisen der Land­oligarchie stammt, war der Krieg immer ein gutes Geschäft.« Santos setze dagegen auf Modernisierung und Projekte wie den Bergbau. Dafür bräuchten multinationale Unternehmer sichere Investitionsbedingungen anstelle des Risikos, von der Guerilla angegriffen zu werden. »Das erste Mal braucht das Kapital Frieden«, meint der Geistliche, dessen befreiungstheologischer Hintergrund aus seinen Worten deutlich herauszuhören ist. »Und das sollten wir nutzen.« Franco, der in seinen Jeans und dem schlichten Hemd eher an einen Campesino als an einen Pfarrer erinnert, setzt deshalb auf den Friedensdialog und freut sich trotz seiner Skepsis über die im Mai vereinbarten Beschlüsse in Sachen Agrarpolitik. »Natürlich bewegt sich alles in der Logik der kapitalistischen Welt«, räumt der Padre ein. »Aber für die Menschen auf dem Land wird diese Vereinbarung große Rückwirkung haben.«
Doña María und ihr Enkel sind indes ans Ufer des Curvaradó zurückgekehrt. Dort wartet eine Überraschung auf die 72jährige. Beamte haben einen Personenschutz organisiert, einen Wagen samt Fahrer, wie es ihre Mitstreiter schon lange von der Regierung gefordert hatten. Der weiße Kombi steht nun unter einem ausladenden Mangobaum. Heyler Santos und seine Freunde putzen ihn wie wild, als gelte es, einen Schönheits­wettbewerb zu gewinnen. Spannend sei es in Bogotá gewesen, findet er. Dennoch ist der junge Mann glücklich, wieder zu Hause zu sein. Hier kann er die Felder mit Reis bestellen, mit Freunden Fußball spielen und mit seinen Jungs rappen. »Ich hoffe von ganzem Herzen, dass es endlich Frieden gibt«, sagt er. Denn vom »Kämpfen, Kämpfen, Kämpfen«, wie es einer seiner Songs fordert, hat auch Heyler einfach genug.