Alaya Allani im Gespräch über Jihadismus in Tunesien

»Al-Nahda steht dem salafistischen Denken nahe«

Im Verlauf dieses Jahres haben sich in Tunesien die Attacken salafistisch-jihadistischer Gruppen gehäuft, zunächst in Grenzregionen, dann auch im Innern des Landes und in den Städten. In der vorvergangenen Woche begann die Armee nach Angaben aus Regierungskreisen Bergregionen nahe der algerischen Grenze mit schwerer Artillerie zu bombadieren. Die jihadistischen Angriffe tragen zu den politischen Spannungen zwischen der islamistischen Partei al-Nahda und der eher säkularen Opposition bei. Über die Entwicklung des Jihadismus in Tunesien seit dem Sturz des autoritären Präsidenten Zine al-Abidine Ben Ali sprach die Jungle World mit Alaya Allani, Professor für zeitgenössische Geschichte an der Universität von Manouba und international bekannter Forscher über den Islamismus im Maghreb.

In Tunesien mehren sich jihadistische Attacken, für die die Behörden vor allem die salafistisch-jihadistische Bewegung verantwortlich machen. Wie hat sich diese seit dem Sturz von Ben Ali im Januar 2011 entwickelt?
Der salafistische Jihadismus ist ein relativ neues Phänomen. Er existierte bereits vor der Revolution, jedoch in einem sehr geringen Ausmaß. Vor der Revolution gab es alle fünf Jahre eine terroristische Operation. Im August 1987, gegen Ende der Herrschaft von Präsident Habib Bourguiba, gab es Bombenanschläge auf Hotels. Die zweite Operation war im Jahr 2002 die Attacke auf die Synagoge in Djerba, bei der es Tote gab. Die dritte war 2007, die man den Angriff von Soliman nennt – Soliman ist eine kleine Stadt nahe Tunis. Nach der Revolution gab es zunächst eine Generalamnestie, die alle politischen Gefangenen betraf, auch die, die wegen Terrorismus inhaftiert waren. Abou Yadh etwa ...
… ein Militanter aus der Vorläuferorganisation von al-Nahda, dann Afghanistan-Kämpfer, der nach Ben Alis Sturz in Tunesien die salafistisch-jihadistische Organisation Ansar al-Sharia gründete …
… der zu 30 Jahren verurteilt war, wurde freigelassen, seine Kameraden auch. Ihre jihadistischen Aktivitäten wurden nicht weiter verfolgt.
Wie viele Vertreter dieser Tendenz fielen unter die Amnestie?
Man sagt, es seien Hunderte, in Wirklichkeit besteht der harte Kern aus einigen Dutzend. Die Salafisten haben in Tunesien seit der Revolution zwei Etappen durchschritten. Die erste war vor den Ereignissen vor der amerikanischen Botschaft in Tunis am 14. September 2012, die zweite danach. Davor gab es fast jeden Monat drei oder vier salafistische Angriffe auf Politiker der Opposition, auf Kulturschaffende, auf Frauen. Die meisten dieser Attacken blieben ungestraft.
Nach der Attacke auf die amerikanische Botschaft verschärfte sich der Ton gegenüber den Sa­lafisten. Zum einen wegen der Reaktion des US-Außenministeriums. Zum andern gingen die Salafisten zu ein wenig ausgefeilteren Aktionen über. Es gab beispielsweise die sogenannten Zelte der Predigt der Salafisten auf den Wochenmärkten und vor Schulen. Nach einem halben Jahrhundert des Modernismus und der Frauenrechte sieht man plötzlich eine Salafistenpolizei in den cités, man sieht Bärtige, die Leute einschüchtern, und so weiter.
Wie haben sich die Salafisten auf gesellschaftlicher Ebene etabliert?
Es gibt viel Geld, das aus dem Orient nach Tunesien fließt, um diese salafistischen Tendenzen zu unterstützen. Mittlerweile existieren Koranschulen und sogar Korankindergärten, die Prinzipien vermitteln, die keine lokale Tradition haben. Und es gibt einen totalen Ausfall des Staats bei der Kontrolle dieser Institutionen.
Zum Erstarken der Salafisten hat zudem der informelle Sektor beigetragen, die Parallelökonomie, die nach Schätzungen 40 bis 45 Prozent der tunesischen Wirtschaft ausmacht, und in diesem Sektor finden sich die Salafisten. Es geht vor allem um den Schmuggel, und es gibt eine Verbindung zwischen dem Schmuggel und dem Terrorismus. Sie existierte bereits vor der Revolution. Mokh­tar Belmokhtar aus Algerien beispielsweise …
… der als einer der Anführer von al-Qaida im Maghreb galt …
 … der hinter der Operation von In Amenas in Algerien im Januar steckte, war bekannt als »Mr. Marlboro«. In den Waffenverstecken in Tunesien werden inzwischen nicht nur leichte Waffen gefunden, sondern auch schwere wie Raketenwerfer. Diese Terroristen geben sich nicht damit zufrieden, in den Bergen zu bleiben. Nun gehen sie auch in die Städte.
Aber ist der Honeymoon zwischen al-Nahda und den Salafisten nicht beendet, spätestens seit Ansar al-Sharia im August zur terroristischen Organisation erklärt wurde?
Es gibt dabei ein kleines Problem. Ali Laarayedh von al-Nahda hat als Regierungschef erklärt, dass die Regierung Ansar al-Sharia als terroristische Vereinigung betrachte. Aber es gibt Erklärungen von drei Mitgliedern des Politbüros von al-Nahda, dass sie Ansar al-Sharia eben nicht als terroristische Vereinigung ansehen würden.
Welche Gründe gibt es für diesen Widerspruch?
Zunächst haben die Islamisten einen doppelten Diskurs und eine doppelte Allianz gepflegt. Was den doppelten Diskurs betrifft: Die Islamisten haben gesagt, sie seien für die Demokratie, die Menschenrechte, die Rechte der Frauen, aber ihr ideologischer Diskurs steht im krassen Gegensatz zu ihrem politischen Diskurs. Al-Nahda steht dem salafistischen Denken nahe.
In welcher Hinsicht?
Geht man auf die ideologische Grundlage von al-Nahda zurück, auf ihre Dokumente, die sie in ihrer Anfangszeit geschrieben hat, so kann man darin lesen, dass al-Nahda sich auf die im 10. Jahrhundert gegründete ascha’ritische Schule bezieht, die eine wörtliche Auslegung des koranischen Textes praktiziert. Aber wie kann man eine wörtliche Auslegung des koranischen Textes und zugleich die Prinzipien der Menschenrechte, der Demokratie, des zivilen Staats verfechten?
Und worin besteht die doppelte Allianz?
Al-Nahda will ein Bündnis mit den demokratischen Kräften und betreibt dies auch unter einem ziemlich effektiven Etikett, dem einer Allianz von Islamisten und Säkularen, in der Regierungskoalition. Und sie will eine Allianz mit den Salafisten. Es gibt ein Video von Rachid Ghannouchi, das im Oktober 2012 verbreitet wurde, in dem er sagt, die Salafisten sind unsere Kinder, sie kommen nicht vom Mars, und in diesem Video hat er die Sa­lafisten ermutigt, Institutionen, Koranschulen und Vereinigungen zu schaffen. Man müsse sich beeilen, weil man weder die Polizei noch die Armee kontrolliere.
Al-Nahda hat drei salafistische Parteien legalisiert, die die demokratischen Regeln des politischen Spiels nicht anerkennen, außerdem die Partei Hizb al-Tahrir, die dem radikalen Islam angehört. Zudem haben die Islamisten mehr als 200 karitative Vereinigungen legalisiert, die den Salafisten und den Muslimbrüdern nahestehen. Al-Nahda hat also alles getan, um eine salafistische und islamistische Welt zu schaffen, die ihr nahesteht.
Warum hat al-Nahda sich dafür entschieden, seit Ende Oktober den sogenannten nationalen Dialog zu führen?
Es gibt drei Gründe dafür: erstens die regionalen Veränderungen, das, was in Mali und in Ägypten passiert ist. Der zweite Grund ist die sozioökonomische Krise in Tunesien, und der dritte ist, was in den vergangenen Wochen in Tunesien geschehen ist, eine Krise zwischen der Regierung und Teilen der Sicherheitsapparate. Gewerkschaften der Sicherheitskräfte haben die Absetzung der Regierung gefordert. Nun spielt al-Nahda wieder die demokratische Karte.
Aber in den höchsten Gremien von al-Nahda dominieren Hardliner …
Das liegt an der gegenwärtigen Organisationsform der Islamisten und ebenso an den Entscheidungen, die auf dem Kongress von al-Nahda im Juli 2012 getroffen wurden. Es war der erste Kongress al-Nahdas, der in der Legalität abgehalten wurde, mit 1 200 Teilnehmern. Dabei wurde der liberale Flügel geschwächt, die Hardliner haben gewonnen. Es gab ein Kräfteverhältnis von zwei Dritteln »Konservativen« und einem Drittel »Liberalen«. Ein Antrag, der von den Konservativen abgelehnt wurde, forderte etwa, dass zwischen der politischen Funktion und der religiösen Funktion der Partei unterschieden wird.
Al-Nahda plante 1987 einen Putsch, mit der berühmten groupe sécuritaire. Wie verhält es sich mit eher klandestinen Strukturen bei al-Nahda heute?
Die Islamisten sind in ihrem Wesen Leute, die glauben, dass man Beziehungen selbst mit den Polizisten und den Militärs haben muss. In dem Buch »L’Islamisme en Maghreb« des französischen Forschers François Burgat findet sich ein Interview mit einem islamistischen Führer namens Saleh Karkar. Karkar war ein Stellvertreter des Parteivorsitzenden Rachid Ghannouchi, mittlerweile ist er gestorben. Er sagte: Die Islamisten müssen die Da’wa (heute etwa: Ruf zum Islam, missionarische Aktivität) machen und Anhänger in den Strukturen von Polizei und Militär haben. Daher spricht man manchmal von einem bewaffneten Arm der Islamisten. Das existierte bei den Muslimbrüdern, und ich denke, dass das auch hier existierte. Denn in der Zeit von Ben Ali hat man islamistische Militärs verurteilt, in der Zeit von Bourguiba ebenfalls. Aber derzeit sprechen die Zeitungen nur von einer Infiltration al-Nahdas in einige Strukturen des Innenministeriums.