Der Koalitionsvertrag und das Votum der SPD-Mitglieder

Das Hoffen auf die Genossen

Der Koalitionsvertrag von SPD und Union liegt vor, es fehlt nur noch das Votum der SPD-Mitglieder.

Es gab Sondierungsgespräche, Verhandlungen, die knapp fünf Wochen dauerten, und eine letzte Sitzung, die noch einmal 17 Stunden zur Klärung von Streitfragen benötigte. Am Mittwoch voriger Woche war es dann endlich so weit, SPD und Union präsentierten ihre Pläne für die neue Legislaturperiode, 66 Tage nach der Bundestagswahl. Dass die drei Parteivorsitzenden von CDU, CSU und SPD bei der Vorstellung ihres Koalitionsvertrags mit dem nichtssagenden Titel »Deutschlands Zukunft gestalten« wenig euphorisch wirkten, war kein Wunder. Ob es überhaupt eine Große Koalition geben wird, hängt schließlich vom Votum der SPD-Mitglieder ab.

Mindestlohn, Mütterrente und PKW-Maut, das waren die Themen, die schon zu Beginn der Koalitionsverhandlungen feststanden. Bei der Präsentation im Haus der Bundespressekonferenz einigte man sich auf die Formel von »einer großen Koalition für große Aufgaben«. Das Werk umfasst rekordverdächtige 185 Seiten, dieser »Koalitionsvertrag ist dick, aber nicht stark«, urteilte die Süddeutsche Zeitung. Ausgesprochen zufrieden zeigte sich hingegen Horst Seehofer (CSU), der seinen Wahlkampfschlager »PKW-Maut für Ausländer« unterbringen konnte. Die Einführung einer PKW-Maut für in Deutschland nicht zugelassene PKW steht im Koalitionsvertrag, trotz des Widerstands der SPD und einiger CDU-Politiker. Die Maut soll in Form einer Vignette erhoben werden, allerdings dürfe kein deutscher Fahrzeughalter stärker belastet werden. Ein Gesetz dazu soll bereits im kommenden Jahr verabschiedet werden, die Ausgestaltung werde »EU-rechtskonform erfolgen«. Wie das funktionieren soll, wird nicht verraten. »Schon jetzt feixt die SPD und lässt keinen Zweifel daran, dass sie nicht sieht, wie die CSU aus dieser Falle wieder rauskommt«, schrieb die FAS. Für die Sozialdemokraten dürfte es allerdings einer der wenigen Anlässe zum Feixen gewesen sein.
Die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns war die Bedingung der SPD für ein Bündnis mit der Union. Als eines der letzten EU-Länder will Deutschland ihn nun einführen: »Wir wollen: Gute Arbeit für alle – sicher und gut bezahlt.« Ein ohnehin bescheidener Stundenlohn von 8,50 Euro brutto soll allerdings erst ab 2015 gelten und nicht bereits im kommenden Jahr, wie es sich die SPD gewünscht hätte. Und dann gibt es auch noch Ausnahmeregelungen, bis Ende 2016 können Tarifverträge weiter Bestand haben, in denen die Tarifparteien geringere Entgelte vereinbart haben. Sehr zur Freude der Arbeitgeberverbände, die in den vergangenen Wochen immer wieder darauf hingewiesen hatten, dass es in Deutschland 41 Tarifverträge mit DGB-Gewerkschaften gibt, in denen Löhne unter 8,50 Euro vorgesehen sind. »Ab 1. Januar 2017 gilt das bundesweite gesetzliche Mindestlohnniveau uneingeschränkt«, lautet die frohe Botschaft des Koali­tionsvertrags. Viele der 5,6 Millionen Arbeitnehmer, die derzeit weniger als 8,50 Euro verdienen, müssen sich also noch fast bis zum Ende der neuen Legislaturperiode gedulden.

Als weitere Bedingungen für eine Regierungsbeteiligung nannte der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel auf dem Bundesparteitag, der vor drei Wochen in Leipzig stattfand, »faire Zugänge zur Rente« für Arbeitnehmer nach 45 Beitragsjahren und die doppelte Staatsbürgerschaft. Beim Thema Rente konnten sich die SPD und die Unionsparteien einigen, überraschend ist das nicht. Bereits die schwarz-gelbe Regierung hatte sich in ihrem Koalitionsvertrag vor vier Jahren der »Bekämpfung von Altersarmut« verschrieben. Im Werk von Schwarz-Rot wird in fast jedem Kapitel der »demographische Wandel« als größte Herausforderung der Großen Koalition erwähnt. Wer 45 Jahre in die Rentenversicherung eingezahlt hat, soll nun mit 63 Jahren in Rente gehen können, und zwar ohne Abzüge. Die Union hat sich mit ihrer Forderung nach einer Mütterrente durchgesetzt. Für arme Rentner wollte die Union die Lebensleistungsrente, die SPD die Solidarrente. Im Koalitionsvertrag wurde daraus die »solidarische Lebensleistungsrente«. Die spärlichen Renten von Geringverdienern, die 40 Jahre lang Beiträge gezahlt haben, sollen nun auf 30 Rentenpunkte aufgestockt werden, das entspricht derzeit etwa 844 Euro. Jüngere Arbeitnehmer werden davon nicht mehr profitieren, in zehn Jahren soll eine zusätzliche Altersvorsorge die Voraussetzung für einen Anspruch auf die Lebensleistungsrente sein.
Bei der doppelten Staatsbürgerschaft haben SPD und Union einen Kompromiss ausgehandelt. Bisher müssen sich in Deutschland geborene Kinder migrantischer Eltern spätestens im Alter von 23 Jahren entscheiden, ob sie die Staatsangehörigkeit ihrer Eltern aufgeben wollen, um die deutsche zu behalten. Wenn nicht, werden sie ausgebürgert. Im Koalitionsvertrag ist vorgesehen, dass diese sogenannte Optionspflicht wegfällt, allerdings nur für Kinder, die 1990 oder später geboren wurden. Eine generelle Zulassung doppelter Staatsbürgerschaften – wie von der SPD gefordert – etwa für die im Ausland geborene Eltern- und Großelterngeneration ist nicht geplant. Die SPD-Mitglieder im Bundesvorstand der Türkischen Gemeinden wollen deshalb ein Zeichen des Protestes setzen und kündigten am Freitag voriger Woche an, beim SPD-Mitgliedervotum gegen den Koalitionsvertrag zu stimmen.
Auf dem Leipziger Parteitag Mitte November forderten die Sozialdemokraten unter dem Eindruck der Schiffkatastrophe vor der Mittelmeerinsel Lampedusa, bei der Anfang Oktober mehr als 100 Flüchtlinge ertranken, einen »Kurswechsel in der europäischen Flüchtlingspolitik«. Davon kann im schwarz-roten Koalitionsvertrag nicht mehr die Rede sein. Es gibt zwar einige wenige Änderungen für Asylbewerber im Inland, aber bei der europäischen Flüchtlingspolitik ist ein »Triumph der Hardliner« (Spiegel Online) von der Union zu verzeichnen. Profitieren würden von der angestrebten Neufassung des Bleiberechts Menschen, die seit längerem mit einer Duldung in Deutschland leben. Sie sollen eine Aufenthaltsgenehmigung erhalten, wenn sie überwiegend selbst für ihren Lebensunterhalt sorgen können. Abschaffen wollten die SPD-Politiker die umstrit­tene Regelung, nach der Flüchtlinge ausschließlich in dem Land Asyl beantragen dürfen, das sie als erstes betreten. Davon wird im Koalitionsvertrag nichts erwähnt, Schwarz-Rot hält weiter an der deutschen Abschottungspolitik fest, für die sich Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) schon unter Schwarz-Gelb eingesetzt hat. Im Herbst vorigen Jahres hatte Friedrich verkündet, »den massiven Zustrom serbischer und mazedonischer Staatsangehöriger« nach Deutschland stoppen zu wollen. Der Koalitionsvertrag sieht nun vor, dass Bosnien-Herzegowina, Mazedonien und Serbien als »sichere Herkunftsstaaten« eingestuft werden sollen. Pro Asyl kritisierte, das stehe in einem »eklatanten Widerspruch zur Realität«. Erst vor kurzem hatte die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Maria Böhmer (CDU), noch »erhebliche Diskriminierungen« von Roma auf dem Balkan beklagt. Menschen, die von dort nach Deutschland fliehen, hätten künftig keine Chance mehr auf Schutz.

Beinahe eine »Sehnsucht nach der FDP« überkam Heribert Prantl von der SZ angesichts der innen- und rechtspolitischen Forderungen des Koalitionsvertrags. Die »konservative Rigidität« einiger Passagen veranlasste ihn zu der Frage, ob der frühere Innenminister Otto Schily für die SPD an den Koalitionsverhandlungen beteiligt gewesen sei. Man einigte sich auf die Einführung von Massengentests zur Aufklärung von Sexual- und Gewaltverbrechen. Beim Thema Vorratsdatenspeicherung haben CDU und SPD die Zurückhaltung, die sie angesichts des NSA-Skandals im Bundestagswahlkampf noch an den Tag gelegt hatten, aufgegeben. »Wir werden die EU-Richtlinie über den Abruf und die Nutzung von Telekommunikationsverbindungen umsetzen«, heißt es im Vertrag. Eine Umsetzung des Gesetzes war in der letzten Legislaturperiode am Widerstand der FDP gescheitert. Zum Datenschutz findet sich im Vertrag von Schwarz-Rot ohnehin nicht viel. Zu den »Konsequenzen aus der NSA-Affäre« heißt es lediglich, dass Bürger, Regierung und Wirtschaft vor »schrankenloser Ausspähung geschützt werden« sollen. Präziser hätte Kanzleramtminister Ronald Pofalla (CDU) das auch nicht formulieren können.
Die SPD ist im Unterschied zur CDU mit vielen Versprechen in den Wahlkampf gezogen. Die Abschaffung des Ehegattensplittings konnte sie bei den Koalitionsverhandlungen ebenso wenig durchsetzen wie die des Betreuungsgeldes. Auch die Forderung nach kostenlosen Kita-Plätzen hat es nicht in den Koalitionsvertrag geschafft und strengere Regeln gegen ausufernde Managergehälter wird es nach Protesten aus der Wirtschaft ebenfalls nicht geben. Dass das Werben um die Zustimmung der SPD-Mitglieder zur Regierungsbeteiligung kein Selbstläufer werden wird, wusste die Parteiführung von Anfang an. Nach der Präsentation des Koalitionsvertrags scheint die Nervosität jedoch gestiegen zu sein. Mittlerweile eilt die Parteiprominenz hektisch von einer Regionalkonferenz zur nächsten, um bei der Basis für die Große Koalition zu werben. Fast jeden Tag sitzt derzeit ein SPD-Politiker in einer Talkshow, um jene unberechenbare Mehrheit von Mitgliedern zu erreichen, die zwar brav ihren Beitrag zahlen, sich aber kaum im Ortsverein blicken lassen und erst Recht nicht auf einer der Regionalkonferenzen anzutreffen sind. Schließlich geht es auch um die eigene Zukunft. Generalsekretärin Andrea Nahles machte in der Welt am Sonntag noch einmal deutlich, dass der Ausgang der Befragung über das politische Schicksal der SPD-Führung entscheide.
Am 6. Dezember bekommen die 474 820 stimmberechtigten Mitglieder der SPD die Briefwahlunterlagen, den Stimmzettel und die eidesstattliche Erklärung zugesandt. Am 12. Dezember ­ist Einsendeschluss, am 14. Dezember wird ausgezählt. In der jüngsten Umfrage des Forsa-Instituts sprachen sich 78 Prozent der SPD-Wähler für eine Große Koalition aus, das Meinungsforschungsinstitut Emnid gelangte zu einem ähnlichen Ergebnis. 70 Prozent der SPD-Wähler empfehlen demnach den Sozialdemokraten, dem Vertrag zuzustimmen. Ob sie ihn gelesen haben, ist eine andere Frage.