Arbeitende und arbeitslose behinderte Menschen

Motiviert, leistungsbereit, abgehängt

Die Aktion Mensch hat das »Inklusionsbarometer Arbeit« zur Lage behinderter Menschen auf dem Arbeitsmarkt vorgestellt.

Sozial abgesichert sein, eine Aufgabe haben, den Alltag mit anderen teilen – die meisten Menschen wollen das. Nicht nur Psychologen und Sozialwissenschaftler wissen, dass Arbeit wichtig ist für das Wohlbefinden vieler Menschen – Arbeitslosigkeit erhöht die Wahrscheinlichkeit, depressiv zu werden. Denn ohne Job fehlen gesellschaftliche Anerkennung, Tagesstruktur und soziale Kontakte. Viele Menschen definieren sich über ihre Arbeitsstelle – und nicht umsonst bekommen manche Jobsuchende bei der scheinbar unverfänglichen Small-Talk-Frage »Und, was machst du so beruflich?« Beklemmungen.

Teilhabe am Arbeitsleben ist also in dieser Gesellschaft ein entscheidendes Moment von Inklusion – für alle. Für Menschen mit Behinderung ist Arbeitslosigkeit ein doppeltes Problem: Ohnehin durch Barrieren vielfach ausgeschlossen, werden sie durch einen fehlenden Job noch weiter an den Rand gedrängt. Und umgekehrt sorgt erst die Beschäftigung behinderter Menschen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt dafür, dass Inklusion langsam, aber sicher Realität werden kann. Denn für einen selbstverständlicheren Umgang miteinander müssten Begegnungen zwischen behinderten und nichtbehinderten Menschen in einem geteilten Alltag jenseits von Sonderwelten wie Behindertenwerkstätten normal werden.
Doch das Gegenteil ist bislang der Fall. Zwar sinkt die allgemeine Arbeitslosenquote in Deutschland stetig, doch vom »Aufschwung« am Arbeitsmarkt der vergangenen Jahre profitieren behinderte Menschen nicht gleichermaßen, auch wenn sich ihre Lage leicht verbessert hat. Das zeigt die Studie »Inklusionsbarometer Arbeit«, die das Handelsblatt Research Institute in Kooperation mit dem Meinungsforschungsinstitut Forsa durchgeführt hat. Rund 400 Unternehmen, die behinderte Menschen angestellt haben, und rund 800 behinderte Beschäftigte wurden zu ihren Erfahrungen befragt. Das »Inklusionsbarometer« soll in den kommenden Jahren regelmäßig und vergleichend Fortschritte und Rückschritte bei der Inklusion messen. Auftraggeber der Studie ist die Aktion Mensch, die die Zahlen am Dienstag voriger Woche veröffentlicht hat.

Demnach sind mit rund 14 Prozent doppelt so viele behinderte Menschen arbeitslos wie Nichtbehinderte – trotz im Durchschnitt höherer Qualifikation. Nach wie vor zahlen Unternehmen lieber die Ausgleichsabgabe, als einen behinderten Arbeitnehmer einzustellen. In einem Betrieb mit mehr als 20 Beschäftigten müssten mindestens fünf Prozent der Arbeitsplätze mit behinderten Menschen besetzt werden. Doch stattdessen zahlt die Mehrheit der Unternehmen die Abgabe von 290 Euro pro Monat. Besonders hoch ist dieser Anteil bei mittelständischen Unternehmen, bei größeren Unternehmen steigt die Inklusionsrate. Dennoch sind lediglich vier Prozent aller Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft schwerbehindert. Außerdem haben im vorigen Jahr rund fünf Prozent mehr Arbeitgeber einen Antrag auf Kündigung behinderter Arbeitnehmer bei den Integrationsämtern gestellt als während der vorangegangenen fünf Jahre.
Dabei ist der Großteil der Arbeitgeber, die behinderte Menschen in ihren Betrieben tatsächlich beschäftigen, sehr von ihnen angetan. »Mehr als 80 Prozent der Arbeitgeber stellen keine Leistungsunterschiede zwischen Angestellten mit und ohne Behinderung fest«, so Bert Rürup, Präsident des Handelsblatt Research Institutes. »In einer Marktwirtschaft verspricht sich jeder Unternehmer mit einer Einstellung die Verbesserung seines Unternehmensergebnisses«, sagt der ehemalige »Wirtschaftsweise« – und offenbar geht die Rechnung gerade mit behinderten Arbeitnehmern meistens auf. Viele Arbeitgeber loben deren hohe Motivation und Einsatzbereitschaft.
Und auch die überwiegende Zahl der Arbeitnehmer mit Behinderung findet, dass Inklusion in ihrem Fall gelungen ist: Fast alle (94 Prozent) fühlen sich von ihren Kollegen akzeptiert und 70 Prozent sehen ihre Aufstiegschancen an ihrem Arbeitsplatz als »eher gut« bis »sehr gut« an. Ihre eigene Lage beurteilen sie deutlich positiver als die anderer behinderter Menschen auf dem Arbeitsmarkt.
Inklusion zahlt sich auch für das Betriebsklima aus. 19 Prozent der befragten Unternehmen sehen positive Effekte von behinderten Arbeitnehmern auf ihr Arbeitsumfeld. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch eine Expertise der Humboldt-Universität, die die Antidiskriminierungsstelle des Bundes in Auftrag gegeben und im Mai veröffentlicht hat. Inklusion sei oft recht unkompliziert möglich, wenn Unternehmen den Willen dazu hätten.
Demgegenüber verzeichnet die Expertise der Humboldt-Universität zugleich einen besorgniserregenden Trend: Statt in regulären Beschäftigungsverhältnissen landen immer mehr vor allem psychisch behinderte und lernbehinderte Menschen in Reha-Maßnahmen und Werkstätten für Behinderte. Diese eigentlich hilfreichen Maßnahmen führen jedoch nicht immer dazu, diese Menschen wieder in Arbeit zu bringen. Viele Arbeitssuchende mit Behinderungen stellen aus Frustration einen Rentenantrag. All diese Gruppen fallen aus der Arbeitslosenstatistik heraus.
Anders als das Handelsblatt Research Institute haben die Forscher um Ernst von Kardorff, Rehabilitationssoziologe der Humboldt-Universität, auch Unternehmer interviewt, die keine oder nur wenige Menschen mit Behinderungen beschäftigen. Dabei sind sie auf viele Vorbehalte gestoßen: Behinderte Menschen seien nicht leistungsfähig und flexibel genug, außerdem machten sich Personalverantwortliche Sorgen darüber, ob man ihnen auch wieder kündigen könne. Es wird befürchtet, dass behinderte Beschäftigte die Arbeitsabläufe stören oder »dem Team« Mehrarbeit bereiten würden. »Es findet eine merkwürdige Umkehrung statt: Als ob die Arbeitgeber ihre Beschäftigten vor den behinderten Arbeitnehmern schützen wollten«, so von Kardorff.

Vor allem in der Bewerbungsphase stünden Menschen mit Behinderungen also immer wieder »vor einer unsichtbaren Glaswand«. Offenbar lösen sich die Ängste der Personaler aber wieder auf, hatten behinderte Menschen erstmal Gelegenheit, sich zu zeigen. Eine Erfahrung, die vor allem für sichtbar behinderte Menschen Alltag ist. »Du bist ja total normal«, staunen Nichtbehinderte, wenn die Unsicherheiten der ersten Kennenlernphase überwunden sind.
Deswegen empfiehlt die Aktion Mensch, Arbeitgeber für das Thema Behinderung zu sensibilisieren. Positive Beispiele und Erfahrungen müssten Schule machen und grundlegende Informationen verbreitet werden. Zum Beispiel wüssten viele Unternehmen nicht, dass sie Geld vom Staat erhalten können, wenn sie behinderte Menschen einstellen. Selbst von den Unternehmen, die schon behinderte Beschäftigte haben, ist bei 21 Prozent nicht bekannt, dass es staatliche Förderungen gibt. Und von den Unternehmen, die darüber Bescheid wissen, nutzen nur rund 70 Prozent die staatliche Unterstützung. Die wenigsten Unternehmen sind vollständig barrierefrei oder haben einen schriftlichen Plan darüber, wie sie behinderte Menschen in ihren Betrieb integrieren wollen. »Die Lage von Menschen mit Behinderung hat sich zwar verbessert, doch es gibt noch viel Handlungsbedarf«, so Armin von Buttlar, Vorstand der Aktion Mensch. »Nicht die Defizite, sondern die Fähigkeiten der potentiellen Beschäftigten sollten bei der Einstellung im Fokus stehen.«