Das Schreiben mit Maschinen

Die Rache der Handschrift

Vor 300 Jahren wurde das erste Patent auf eine Schreibmaschine ausgestellt. Es war der Anfang einer Epoche. Doch die Schreibmaschinenjahre mussten enden.

Paul Valérys nagelneuer Ideenapparat
Tick Tack, Klick Klack, Hebelzack, nächste Zeile, Tick Tack, Klick Klack, Hebelzack, Halterung hoch, Surr, Blatt raus, nächstes rein, Surr, Papier sitzt, Tick Tack, repeat forever.
Wie geistlos! Wie mechanisch! Unterm Hölderlin hätt’s das nicht gegeben.
Seit man Maschinen besitzt, die bei der Kunst helfen, machen sich Spontanspinner gegen sie mausig: Das Funktionieren des Apparats sei der Tod der Subjektivität, Dichtung oder Bildfindung sollten sich der Schreibmaschine und der Kamera widersetzen, Kunst müsse passieren, fließen, aus Tiefen emanieren, dem Pimmel oder Uterus des Genies nur mit knapper Not entkommen und was dergleichen Unappetitlichkeiten mehr sind.
Das Mechanische soll ein Feind der Schönheit sein? Gegenfrage: Gibts einen reichhaltigeren Denker als Paul Valéry, gibt’s einen farbvielfältigeren Kristallgarten als seine Poesie, und hat nicht gerade er produziert wie am Fließband, regelmäßig, präzise, ohne jeden Rausch? Der Mann hätte gar keine Maschine gebraucht, er verhielt sich selbst wie eine: Jeden Morgen saß er am Schreibtisch und kratzte in seinen Heften, den mit Recht weltberühmten Cahiers. Inspiration spielte dabei so wenig je eine Rolle wie beim Zähneputzen, beim Nachtgebet oder beim Heckenschneiden. Tagebuch? Ephemeriden? Privatheit? Ach was. Das waren Mitteilungen und Begriffsmeditationen von äußerster Allgemeinheit, die da notiert wurden, übers Wesen der Zeit, die Rhythmen der Erinnerung, Versfüße. Das Zusammenfallen von Privatheit und Subjektivität einerseits, Öffentlichkeit und Objektivität andererseits, das die klassisch bürgerliche Denkweise für gegeben hält, weil sie mit ihren naturwüchsigen Elendszuständen wie mit anthropologischen Konstanten umzuspringen gewohnt ist, erweist sich an Valérys Werk als scheinhaft: Wenn er an Akademien sprach oder in irgendeinem Ausland die französische Geistigkeit repräsentierte, äußerte er Plaudereien und Ansichtssachen, die Hegel das »schlechte Besondere« genannt hätte, vergängliche Bonmots zumeist. Im stillen Kämmerlein aber schrieb er über gültige, objektive, bedeutende Sachen. Bei Leuten, die etwas zu sagen haben, ist das Private eben manchmal objektiv und das Öffentliche umgekehrt oft reiner Zufallskram, den man auch weglassen könnte.
Irgendwann, soll Valéry sich gesagt haben, wird das alles, was ich da für mich ganz allein denke und dichte, ein der Welt zugänglich gemachtes Werk, ich muss nur noch die richtigen Proportionen und Konstellationen für das Verhältnis der einzelnen Teile finden, die ich da immer so rüstig und maschinenakkurat vor mich hin akkumuliere.
Zwischen dem privat Gültigen und dem öffentlich Ungenauen gab es damals eine noch recht neue Schnittstelle: die Schreibmaschine. Valéry besorgte sich so ein Ding und ersetzte es, sobald es hinter seinen Erwartungen zurückblieb, gern durch ein tüchtigeres. Bornierte Halsstarrigkeit gegen funktional gebotenes upgrading war ihm fremd.
Die Herstellung der ungeheuren Cahiers-Textmassen lief allerdings weiterhin von Hand: kratz, kratz, in tagesformabhängiger Leserlichkeit. Als das Projekt dann sehr weit fortgeschritten war, übergab er, eingedenk seiner Verpflichtung der Menschheit gegenüber, einige teils thematisch geordnete Materialhaufen einer Unterstützerin, die das Zeug abtippte. Was dabei herauskam, war nun also nicht mehr mit der Pranke des Löwen vorkomponiert, aber auch noch nicht gedruckt: ein Schwebezustand, in dem Privatheit, Öffentlichkeit, Beliebigkeit, Gültigkeit einander überkreuz begegnen konnten.
Als er den getippten Schatz las, war aber die plötzlich gewonnene Übersichtlichkeit und skelettierte Letterndeutlichkeit, befreit von Handschriftschlacken, ihm plötzlich gerade das, was den Spontanspinnern ihr Fetisch »Inspiration« ist: Eine ihm selbst und seinen Zwecken ganz offensichtlich äußerliche, fremde Gewalt, die auf ganz neue Art zur Arbeit trieb – beim Lesen des Maschinentexts kam Valéry auf das, was denen, die Maschinen verachten, lieb und teuer ist: neue Ideen.
Wer mit Computern zu arbeiten gewohnt ist, kann sich leicht ausmalen, was aus der Sache wurde – in der elektronischen Musik nennt man es einen Loop: Kritzeln, Tippen, Lesen, Kritzeln, repeat forever.

Lettern nach dem Verfallsdatum
Ich erinnere mich noch gut, wie wir dummen Kinder Anfang der achtziger Jahre des vorigen Jahrhunderts bei der anstrengenden Herstellung einer von zweieinhalb Personen erdachten, von höchstens fünf gelesenen linksradikalen Schülerzeitung plötzlich staunten, unser Zeug »gedruckt« zu sehen – das heißt, mit der Maschine meiner Mutter getippt, dann ausgeschnitten, auf Musterblättern zurechtgeklebt und kleinfotokopiert. Diese Erfahrung (und das wenig später begonnene Flugblattmachen) veränderten unsere Schreibhaltung, den Duktus, den Satzbau in wenigen Wochen grundlegend (nicht immer verbessert, übrigens, aber was willst du machen, Lernen braucht Fehler).
Hätte uns Friedrich Kittler damals erzählt, man könne und müsse die Geschichte des Schreibens als Geschichte der dabei verwendeten Geräte erzählen, hätten wir das ungeprüft geglaubt. 14jährige sind medientheoretisch immer Grobmaterialisten. Sie denken, Materialismus oder überhaupt weltgerichtetes Denken setze voraus, dass man den jeweils auf irgendeiner gegebenen Kulturstufe vorherrschenden akuten Idealismus einfach umdreht. Wenn also Computeridealisten in unserer Epoche sagen, Software sei alles, Information wolle frei sein und ähnlichen Quatsch, dann sagt Kittler im Namen aller 14jährigen wider diesen Unfug seinen berühmten Satz: »Es gibt keine Software.« Nicht der Sinn, die Semantik und so weiter regieren den Informationsprozess, sondern die Taste und die Type, der Regelkreis und das Gehäuse, der Chip und der Datenträger. Bloß stimmt es nicht. Aus einem idealistischen Satz wird nicht automatisch ein materialistischer, wenn man ihn umdreht. Man kann Idealismus gar nicht »vom Kopf auf die Füße stellen«, das war nur so ein unglücklich gewähltes Bild für das, was Marx mit Hegel angestellt hat (ihm viel Verfehltes ausgezupft nämlich). Versucht man, Idealismus auf die Füße zu stellen, fällt er um, denn er hat keine Füße (und oft genug auch keine Hände).
Was bei Sätzen wie dem Kittlerschen, die suggerieren wollen, die sogenannte Maschine entscheide im Zweifelsfall über den sogenannten Geist statt umgekehrt, schief läuft, ist die Verwechslung des Materialismus mit dem Dingschema. Es geht in Fragen der Materialität menschlicher Praxis nicht ums Ding. Es geht um soziale Beziehungen. Das Entscheidende an einer Maschine ist, wie sie solche Beziehungen neu sortiert – wie sie also etwa die Möglichkeit der Zeitersparnis oder eine verbesserte Leserlichkeit erzeugt, einen neuen kommunikativen Rhythmus oder eine höhere kommunikative Reichweite. Sie alle bedingen ein neues Maß an kommunikativer Objektivität, nämlich Allgemeinheit, das Gegenteil des verstockten Vor-sich-hin-Rödelns oder Vor-sich-hin-Sudelns irgendwelcher Einsiedlerinnen und Einsiedler.
Weil Marx weiß, dass an Maschinen nichts wichtig ist als allein das, was sie mit dem Umgang der Leute untereinander anstellen und was der Umgang der Leute untereinander mit ihnen anstellt, nennt er Maschinen hin und wieder, um auf diesen Umstand hinzuweisen, »vergegenständlichte Arbeit«. Die Arbeit ist das Hauptwort, der Gegenstand, das Ding, nur ein Attribut dieser Arbeit. Man findet also etwa die Schreibmaschinenschrift besser als die Handschrift, wenn man an weiter entferntem, fremderem, unberechenbarerem, größerem, weniger im persönlichen Kreis befangenem Publikum für Geschriebenes interessiert ist. Der Traum aus der Schreibmaschine, dass so ein größeres, allgemeineres Publikum etwas ist, das zu erreichen sich lohnt, ist in den vergangenen 50 Jahren weltweit zunächst an der Massenzeitung (Bild, USA Today) verzweifelt und dann am vernetzten Computer verreckt.
Auf dem Bildschirm erkennt man erschrocken: Selbst wenn mir der Apparat 3 000 verschiedene Schriften anbietet, wirds mit dem Glück der Objektivität und dem Segen der Allgemeinheit nichts mehr, sobald diese Allgemeinheit nur noch die verallgemeinerte Vereinzelung, die schriftgewordene Beliebigkeit von Millionen Individualmonaden ist, die alle »Ich« krähen, selbst ausgedachten Schrott bloggen, sich in Amazon-Publikumsbewertungen oder analphabetischen Forumsbeiträgen als Kundschaft, Manövriermasse für Stimmungsmache, jederzeit für jeden Krieg, Rabatt und sonstigen Schwachsinn mobilisierbarer Pöbel zeigen.
Einige besonders empfindliche, besonders wache Leute hatten schon vor dem Ersten Weltkrieg das mulmige Gefühl, die Reise zur vorgeblichen Demokratisierung des Lesens und Schreibens wolle unter den Bedingungen der Profit- und Warenwirtschaft hin zu dem grässlichen Punkt, der inzwischen erreicht ist. Sie haben dagegen gestisch hübschen, sachlich notgedrungen ergebnislosen Protest erhoben: Karl Kraus hat Abonnentinnen oder Abonnenten seiner Fackel, wenn sie ihm Briefe schrieben, die allzu deutlich verrieten, dass sie sich als moderne Massendeppen in der Überzahl wissen, das Abonnement entzogen. Valéry ließ Luxusausgaben seiner Sachen für ein paar verständige oder wenigstens zahlungsfähige Bürgerkinder drucken, die damals noch mit dem, was tatsächlich einzigartige Köpfe erdachten, zu locken und zu unterhalten waren. Diese Notkundschaft gibts kaum mehr; ich weiß nur von einem einzigen Reemtsma.
Wie also, und mit was für Geräten, soll man schreiben, was alle angeht?
Was sagst Du? Ganz einfach? Gut, es gibt diese ganz alten, allerersten Maschinen der Mitteilung, die Wörter selbst. Wie? An denen könnte man, wenn die späteren, die jüngeren Maschinen versaut sind, ja mit einigen wenigen … was? Ach so: Nicht hier ausplaudern. Nicht tippen. Nicht drucken lassen. Für uns behalten. Gut. Sag aber Bescheid, Liebling, wenn wir uns wieder raustrauen können.

Der Text ist ein Vorabdruck aus der Abhandlung »Früher war alles später«, die spätestens nie und wahrscheinlich nirgends erscheint.