Die rechten Proteste in Frankreich

Das große Durchdrehen

Nach den Demonstrationen gegen die gleichgeschlechtliche Ehe geraten Frankreichs Schulen ins Visier einer reaktionären Bewegung. Mit Schulboykotten agitiert sie gegen eine neue Unterrichtseinheit, die die Rechtsgleichheit der Geschlechter vermitteln soll.

Finstere Zeiten brechen an. Weinende Kinder sitzen auf Schulbänken und wissen nicht mehr, ob sie Jungs oder Mädchen sind. Knaben müssen sich mit Röckchen bekleiden und sind darob so verunsichert, dass sie auf lange Zeit traumatisiert bleiben. Böse Erwachsene kommen in die Schulklassen und veranstalten seltsame Spiele mit den Kindern, neben denen die altbekannten »Doktorspielchen« verblassen. In Rollenspielen müssen sie Masturbation, homosexuelle Handlungen und andere ihnen unbekannte Dinge erlernen.
Etwa so malen die Personen, die in den vergangenen Wochen eine Panikkampagne in Frankreich initiiert haben, die Gegenwart oder nahe Zukunft im öffentlichen Schulwesen aus. Am 24. oder am 27. Januar – je nach Örtlichkeit – fand die erste Auflage eines Schulboykotts statt, der seinen Initiatorinnen und Initiatoren zufolge nun allmonatlich für je einen Tag stattfinden soll. Die Kampagne wurde offiziell auf den Namen »Tag des Rückzugs aus der Schule« getauft: Die Eltern sind dazu aufgerufen, ihre schulpflichtigen Kinder für einen Tag aus dem Unterricht zu nehmen.
Landesweit hatte die Kampagne im Januar nur punktuell Erfolg. Es gibt insgesamt 40 000 Schulen in Frankreich, rund 100 waren stark beeinträchtigt. Dort waren Abwesenheitsquoten im zweistelligen Prozentbereich festzustellen. Aber es kann nicht ausgeschlossen werden, dass andernorts Eltern ihren Unterrichtsboykott relativ unbemerkt durchführten. Die Erfolge der Boykottkampagne sind geographisch stark konzentriert. Sie betreffen vor allem den Großraum Paris, den Raum Lyon und den Einzugsbereich von Straßburg. Aus dem von sozialen Brennpunkten geprägten Osten des Ballungsraums Lyon berichteten Mitglieder der linken Bildungsgewerkschaft SUD-Education der Jungle World, an manchen Schulen seien am betreffenden Tag Fehlquoten von 20 bis 40 Prozent zu verzeichnen gewesen.
Der Anlass des Aufrufs für den Schulboykott ist die Einführung des Programms »ABCD de l’éga­lité«. Es handelt sich um eine Unterrichtseinheit für Grundschülerinnen und -schüler, die ihnen die Rechtsgleichheit zwischen den Geschlechtern vermitteln soll. Derzeit wird dieses Unterrichtsprogramm an insgesamt 600 Schulen probeweise eingeführt. Bei der zurzeit erprobten Unterrichtseinheit geht es um so harmlose Dinge wie darum, dass Kinder ein Märchen lesen, in dem ein stolzer und charmanter Prinz eine schöne und holde Prinzessin errettet, die in einem Turmverlies schmachtend auf ihn wartet. Daraufhin sollen die Grundschulkinder sich fragen, ob nicht etwa auch die weibliche Protagonistin einmal die aktive Rolle im Märchen übernehmen könnte.
Doch es brodelt in der Gerüchteküche. »Unterricht in Masturbation«, »Werbung für Homo- und Transsexualität« – solche Behauptungen kursierten in SMS-Botschaften, die an Eltern verschickt wurden. Auch wurde behauptet, die Kinder sollten zu »Versuchskaninchen für das sozialistische Experiment der Begründung eines Neuen Menschen« gemacht werden. Im November wurden in Paris bei einer Aktion gegen ein Büro der Bildungsgewerkschaft FSU, die die umstrittenen Programme gegen reaktionäre und anti-aufklärerische Kritik verteidigt, Mäuse im Gewerkschaftslokal ausgesetzt. Dies sollte angeblich darauf hinweisen, dass man dabei sei, die Kinder wie Labormäuse zu behandeln.

Die Gerüchte auf die Spitze trieb eine SMS-Kampagne im Raum Straßburg mit der Behauptung: »Da kommen Juden in die Schulen und untersuchen das Geschlecht Ihrer Kinder.« Die SMS erhielten dort vor allem Eltern aus der türkischen Community. Beileibe nicht alle von ihnen glaubten daran, viele Eltern kamen auch in die Schulen und fragten die Direktion oder die Lehrkräfte, ob das denn stimme, worauf sie über die wahre Situation unterrichtet wurden.

Lanciert hatte die Kampagne der antisemitische Schriftsteller, Verleger und Verschwörungsideologe Alain Soral mitsamt seinem Umfeld, insbesondere in Gestalt der vor kurzem zu Sorals The­orien »bekehrten« früheren Linken und ehemaligen Antirassistin Farida Belghoul. Es ist nicht bewiesen, dass Belghoul ein Mitglied von Alain Sorals Vereinigung Egalité et Réconciliation (E & R, Gleichheit und Aussöhnung) ist, aber alle ihre Veranstaltungen und Kampagnen werden durch die Website von E & R aktiv beworben. 1978 war die damals junge Frau zunächst Mitglied in der Studierendenvereinigung der Französischen Kommunistischen Partei, UEC, und 1983/84 war sie eine der Protagonistinnen der Bewegung von Jugendlichen aus der zweiten Generation der nordafrikanischen Immigration für Rechtsgleichheit. Nach zwei Jahren kehrte sie ihrem Milieu allerdings enttäuscht und verbittert den Rücken, da sie beobachten musste, wie die damals regierenden Sozialdemokraten unter François Mitterrand die neu gegründete Vereinigung SOS Racisme stark subventionieren und der sozialen Bewegung dadurch die kritische Spitze nahmen. SOS Racisme rekrutierte ab etwa 1985 künftige Parteifunktionäre – wie den jetzigen Parteivorsitzenden der französischen Sozialdemokratie, Harlem Désir, damals Sprecher der Vereinigung –, veranstaltete Konzerte und entpolitisierte die Bewegung, indem kulturalisierende Folklore statt des Kampfs für Rechtsgleichheit in den Vordergrund rückt.
Nach dem Bruch mit ihrem vormaligen Milieu driftete Farida Belghoul jedoch selbst in eine fragwürdige Richtung ab. Sie machte eine religiös-mystisch vernebelte Sinnkrise durch, war zeitweilig vom islamischen Sufismus angezogen – eine in der Regel relativ tolerante, aber dem Mystizismus zuneigende Richtung – und wollte sich dann in Ägypten niederlassen, von wo sie aber nach Frankreich zurückkehrte. Ende des vorigen Jahrzehnts machte sie auf sich aufmerksam, als sie ihre Kinder aus der Schule nehmen und Heimunterricht für sie organisieren wollte. Ein solcher von Eltern organisierter Privatunterricht ist in Frankreich gesetzeswidrig, aber seit längerem auch ein Steckenpferd christlicher Fundamentalistengruppen, die ihren Kindern im Unterricht Sexualaufklärung, Evolutionstheorie und anderen Schweinkram ersparen möchten. Jüngst lancierte Belghoul auch noch eine Kampagne für 2014: das »Jahr des Rocks«. Frauen sollen dabei wieder »erlernen, sich weiblich zu kleiden«.
Unterschiedliche reaktionäre Milieus, darunter christliche Fundamentalisten, Rechtsextreme und bestimmte – insbesondere salafistisch ausgerichtete – Moscheen, griffen die Kampagne zum Unterrichtsboykott dankbar auf. Auch die stärkste Oppositionspartei in Frankreich, die konservativ-wirtschaftsliberale UMP, betreibt dabei ein doppeltes Spiel. Einerseits verurteilt sie den Aufruf zum Schulboykott offiziell als Gesetzesbruch, andererseits betont sie ihr »Verständnis für die Sorgen und Ängste der Eltern« – und beschuldigt die sozialdemokratische Regierung, »ideologisch überfrachtete Lehrpläne« aufzulegen. Als Bürgermeister von Meaux, wo eine salafistische Moschee die Unterrichtsboykottkampagne sehr aktiv betrieb und diese ziemlich erfolgreich war, argumentierte der UMP-Vorsitzende Jean-François Copé in diese Richtung. Er betonte seine Opposition zur Unterrichtspolitik der Regierung und bekundete ausdrücklich sein »Verständnis«. Allerdings ist er seitdem in erhebliche Argumentationsnot geraten. Denn Unterrichtseinheiten, die stark dem jetzigen »ABCD de l’égalité«-Programm ähneln, hatte im Jahr 2011 der damalige Schulminister der UMP, Luc Chatel, explizit verfochten. Chatel setzte ihre Ausarbeitung gegen reaktionär motivierten Widerstand auch in der eigenen Partei durch.
Neben den religiösen Milieus und dem Kreis um Alain Soral und Farida Belghoul spielen auch die Anführer der Bewegung gegen die gleichgeschlechtliche Ehe, die unter dem Titel »Demo für alle« – als Replik auf die »Ehe für alle« – bekannt wurde, eine wichtige Rolle. Auf der Suche nach Perspektiven für eine Protestbewegung, die sich nach einer zweistelligen Zahl von Großdemonstrationen totzulaufen droht, konzentrieren sich die Veranstalter dieser Kampagne bereits seit Mai vorigen Jahres auch auf den Protest gegen unliebsame Unterrichtsprogramme. Ein besonderer Dorn im Auge ist ihnen jegliche »Kritik an Geschlechterstereotypen«, die sie als »totalitäre Gehirnwäsche für unsere Kinder« hinstellen.

Bei Schulboykotten bleibt es nicht. In der ersten Februarwoche forderte Béatrice Bourges, Sprecherin des radikaleren Flügels der Bewegung gegen die gleichgeschlechtliche Ehe und der Plattform Le printemps français (Französischer Frühling), dazu auf, Eltern sollten systematisch Druck auf örtliche Bibliotheken ausüben, unliebsame Werke zu entfernen. Im Stadtparlament von Toulon griff der rechtsextreme Front National (FN) diese Kampagne auf – nachdem er schon einmal die städ­tische Bücherei ideologisch »gesäubert« hatte, als er die südfranzösische Großstadt von 1995 bis 2001 regierte. Doch dies rief auch Gegenkräfte auf den Plan. Alle Gewerkschaften der städtischen Angestellten wandten sich in einer gemeinsamen Erklärung gegen dieses Vorhaben.
Auch sonst regt sich Widerstand. Eine von mehreren Dutzend Vereinigungen nordafrikanischer Migranten und vielen Franzosen mit maghrebinischem Hintergrund unterzeichnete Erklärung wendet sich dagegen, dass Gegner der gleichgeschlechtlichen Ehe »in unserem Namen sprechen« – mit der Behauptung, Muslime wie Christen seien von der Reform schockiert. Die eher der Linken zugehörigen Vereinigungen wenden sich gegen reaktionäre Ideologien und Homophobie. Not in our name heißt in diesem Falle auf Französisch: Nous ne nous reconnaissons pas.