Berlin Beatet Bestes. Folge 230.

Der Jazz geht in die Knie

Berlin Beatet Bestes. Folge 230. DLow: The DLow Shuffle (2014).

Keine Szene, in der ich mich in den letzten 30 Jahren herumgetrieben habe, war so sehr underground wie die, in der ich mich jetzt bewege. Es gibt keine Labels, fast keine greifbaren Veröffentlichungen, niemand spricht über diese Musik. Keine war so sehr von Frauen dominiert, aber auch in keiner anderen Szene hat frau sich weniger für die Musik interessiert. In der Szene, von der ich spreche, interessieren sich noch nicht mal die Männer für Musik. Hauptsächlich deshalb nicht, weil die Leute so sehr miteinander beschäftigt sind. So sehr, dass sie auf den Konzerten immer verzögert, erst nach 30 Sekunden, applaudieren.
Die meisten werden wissen, wovon ich spreche – ich rede ja seit Jahren von nichts anderem: natürlich von der Swing-Szene. Aber eigentlich meine ich eine ganz spezielle Szene, nämlich die der kleinen Jazz-Combos, die sich darauf spezialisiert haben, wieder für Jazz-Tänzer zu spielen. Berliner Bands wie Savoy Sattelites, Dizzy Birds, Dixie Wankers und Berlin Busketeers spielen keine Swing-Musik, sondern improvisieren mit Jazz-Standards.
Wie soll ich diese Musik nennen? Im Gegensatz zu modernen Jazzbands, die für ein Sitzpublikum spielen, oder Jazzbands, die de facto Soul oder Jazzrock spielen, wozu solo getanzt wird, spielen die Bands, die ich meine, Musik für Paartänzer. Das wirklich Besondere an dieser Musik ist allerdings, dass sie überwiegend improvisiert ist. Im Gegensatz zum schlichten rocklastigen Neo-Swing der späten neunziger Jahre, der weitgehend arrangierten Musik der modernen Bigbands und dem vorprogrammierten Elektro-Swing, weißt du bei diesen Live­bands nie, ob der Song vier oder sechs Minuten lang wird. Die Musiker wissen es selbst nicht. Vielleicht dauert das Gitarrensolo eine Minute, das des Pianisten auch, dann eine halbe Minute Bass-Solo. Es ist eine besondere Freude, wenn man sieht, dass der Bassmann soeben bemerkt hat, dass man gerade sein improvisiertes Bass-Solo tanzt. Leider fehlt es den oft über hervorragende technische Fähigkeiten verfügenden Instrumentalisten an Kreativität. Während jede Teenypunkband gleich hemmungslos eigene Songs schreibt, machen sich bisher nur wenige Jazz-Gruppen diese Mühe. Es wird einfach nicht von ihnen verlangt.
Im Allgemeinen steht in der heutigen Popmusik das Tanzen nicht zur Debatte. Da, wo der Tanz im Vordergrund steht, neigt er dazu, die Musik zu verdrängen. Ein Beispiel dafür ist das Bop-Phänomen des Chicagoer Underground-Rap. Der Bop-Grundschritt ist ein reiner Jazzstep, angelehnt an den Charleston der zwanziger Jahre, der Rest ist improvisierter Streetdance, wie ihn bis jetzt fast nur Afroamerikaner beherrschen. Nur soviel: Es geht tierisch in die Knie! Stars der Chicagoer Szene sind bezeichnen­derweise nicht irgendwelche Rapper, sondern die Bop-Tänzer Lil Kemo und DLow, die unter dem Namen »King of Bop« performen. Ihre Youtube-Videos werden von Millionen angeguckt. Veröffentlichungen auf Tonträgern gibt es nicht. Für die Musiker interessiert sich auch niemand.

Mein Name ist Andreas Michalke. Ich zeichne den Comic »Bigbeatland« und sammle Platten aus allen Perioden der Pop- und Rockmusik. Auf meinem Blog Berlin Beatet Bestes (http://mischalke04.wordpress.com/) stelle ich Platten vor, die ich billig auf Flohmärkten gekauft habe.