Eine Erinnerung an Uwe Johnson

Die Fähigkeit zu trauern

Vor 30 Jahren starb Uwe Johnson in England. Ein Jahr zuvor hatte er den Roman »Jahrestage« abgeschlossen, den er in den sechziger Jahren in New York begonnen hatte.

Zwei Mütter schauen in Manhattan ihren Töchtern beim Spielen zu. Beide sind nicht in den USA geboren. Die eine, Gesine Cresspahl, Jahrgang 1933, stammt aus Deutschland, die andere, Mrs. Ferwalter, aus der Tschechoslowakei. »Sie trug ein Kleid ohne Ärmel, und als sie sich beim Hinsetzen aufstützte, sah Gesine die Nummer, die innen in ihren linken Unterarm tätowiert war. Sie wandte den Blick ab auf die umfänglichen Beine der Frau, in denen aber Krampfadern hervortraten.« (2. September 1967) Gesine Cresspahl, die bei ihrer täglichen Lektüre der New York Times mit gegenwärtigen Schrecken wie dem Vietnamkrieg konfrontiert wird, lebt in der Vergangenheit. In dem Zeitraum vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968 wird die Protagonistin von Uwe Johnsons Roman »Jahrestage. Aus dem Leben der Gesine Cresspahl« fast jeden Tag heimgesucht von Erinnerungen, an ihre Kindheit im nationalsozialistischen Deutschland, ihre Jugend in der jungen DDR, und sie versucht zu rekonstruieren, was sie über die Zeit davor weiß, als ihre Eltern sich kennenlernten. Der Titel »Jahrestage« verweist also nicht nur auf den Zeitraum von 365 Tagen, sondern bedeutet auch, dass jeder Tag wie ein Jahrestag ist, ein Anlass, sich die Vergangenheit zu vergegenwärtigen. Dieser Vorgang liegt nicht allein im Belieben des Subjekts. Gesine Cresspahl hört Stimmen:

Wir wollen es dir nun sagen, Gesine.
Ich will nichts von den Toten jeden Tag.
Hör uns zu, es soll dir helfen. (17. Mai 1968)

Die »Schwierigkeiten des sich erinnernden Erzählens von Geschichte« deutlich werden zu lassen, sei, schreibt Greg Bond in »Text und Kritik«, die Besonderheit des Roman »Jahrestage«. (1) Ganz grundsätzlich notiert Gesine Cresspahl am 29. November 1967: »Und ich trau dem nicht was ich weiß, weil es sich nicht immer in meinem Gedächtnis gezeigt hat, dann unverhofft als Einfall auftritt.« Ihre Formulierung von der »Katze Erinnerung« ist mittlerweile bekannt geworden: Wie eine Katze führt die Erinnerung ein Eigenleben, kommt, wann sie will, bleibt rätselhaft.
Gesine Cresspahls Erinnerungsprozess ist getragen von Scham- und Schuldgefühlen. Über ihre Studienzeit in der frühen DDR heißt es, dass sie den Vorlesungen eines Professors Ertzenberger nur zuhören konnte, solange sie ignorierte, dass er »einer der überlebenden Juden war«: »Die Touristin Cresspahl belästigte die Leute jeden Auslands mit miserablem Französisch, auch wenn die Deutschen da gar nicht des Menschenraubs oder Geiselmords überführt waren. Die Auswanderin Cresspahl trat vorsichtig und rasch weg und zurück aus einer Imbiss-Stube am Union Square in New York, als sie die Sprache der Wirtsleute erkannte als Jiddisch. Da ist ein Schock nachzuweisen.« (28. Oktober 1967) Im New York der späten sechziger Jahre gibt es zahlreiche Anlässe, die Erinnerungen an die deutsche Geschichte wachzurufen. Zudem stößt Cresspahl im Alltag auf Zeugnisse eines Antisemitismus, der in der DDR tabuisiert war. Wenige Tage nach der Begegnung mit Mrs. Ferwalter liest sie in einer Bahnstation: »Fuck the Jews«. Die Erinnerung wird nicht nur durch die Gegenwart motiviert, sie wird auch durch sie geformt. Als sie an »Ferien« an der Ostsee im Jahr 1944 zurückdenkt, in denen es für kurze Zeit genügend zu essen gab und der Krieg vergessen werden konnte, bemerkt Gesine Cresspahl: »Heute weiß ich, dass die Ferien von anderer Art waren. Nicht weit von Althagen, auf der anderen Seite des Saaler Boddens, war das Konzentrationslager Barth. (…) Wir wussten es nicht. Hilde Paepcke ist mit uns nach Barth gefahren, über die Drehbrücke, damit wir die Stadt ansahen. Wir haben nichts gesehen. (…) Heute weiß ich es. (…) Das Drehkreuz, die Ferien weiß die Erinnerung von diesem Sommer. Er war nicht so.« (4. April 1968) Nicht nur der Ferienort, auch der abwesende Onkel »war nicht so«; der Onkel war als Mitglied der Organisation Todt in der Ukraine. Zwei Tage vor dieser Erinnerung, am 2. April 1968, besteht der gesamte Tageseintrag aus einer Liste Mecklenburger Bürger, die unter den Nazis zu Zuchthaus verurteilt oder ins KZ gebracht wurden. Als müsste sich Gesine mit Gewalt die Erschütterung vergegenwärtigen, stellt sie die über viele Seiten verlängerbare Liste der Toten und Verschollenen neben die Erinnerung an Blaubeeren und Strandnachmittage und macht sie zu Bestandteilen einer einzigen Geschichte. Es war nicht so, dass die Sommer unbeschwert waren, der Onkel liebenswert, die Orte malerisch. Wenn die Erinnerung trügt, dann wird sie sich ändern müssen mit dem, was Gesine Cresspahl »heute weiß«. Das Lamento der Deutschen nach dem Krieg: »Wir wussten es nicht, wir haben nichts gesehen«, wird in Gesine Cresspahls Erinnerung zum Ausweis des Erschreckens über die eigene Blindheit, das dieses nachträgliche Wissen bei jedem auslösen müsste, dem es nicht nur zur Abwehr dient.

Schuld und Abwehr
Gleich zu Beginn von »Jahrestage« formuliert Gesine Cresspahl, während eines Badeausflugs, einen Brief an die Gemeindeverwaltung ihres Geburtsorts: »Als ehemalige Bürgerin von Jerichow, und als ehemals regelmäßige Besucherin von Rande, bitte ich Sie höflichst um Auskunft, wie viele Sommergäste jüdischen Glaubens vor dem Jahr 1933 in Rande gezählt wurden.« Indem sie die Schuld bewusst erlebt und nicht verdrängt, ist Gesine Cresspahl ein Gegenentwurf zu dem, was die deutsche Gesellschaft nach 1945 ausmachte. Auf der Basis von Gruppeninterviews beobachtete Theodor W. Adorno in den fünfziger Jahren die Genese einer neuen Form der Judenfeindschaft, für die Peter Schönbach, ein Mitarbeiter des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, den Ausdruck »sekundärer Antisemitismus« prägen sollte. Wie Adorno in dem Essay »Schuld und Abwehr« schreibt, führte das einzigartige Verbrechen der Shoah in der deutschen Nachkriegsgesellschaft »nicht zu einer radikalen Abkehr vom Antisemitismus«. (2) Vielmehr stellte sich heraus, dass die Befragten die Shoah nicht leugneten, aber auf antisemitische Vorstellungen zurückgriffen, um ihr eigenes Verhalten in den Jahren von 1933 bis 1945 zu rechtfertigen. In dem Radiobeitrag »Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute« beschreibt Adorno, wie das vor sich geht. Da die Elterngeneration »seinerzeit zu der aktiven Gefolgschaft des Dritten Reiches« gehört habe, sehe sie sich nach 1945 »gezwungen«, »ihren Kindern gegenüber ihre damalige Haltung zu verteidigen«, und würde dadurch »fast automatisch veranlasst, ihren Antisemitismus aus den dreißiger Jahren aufzuwärmen«. (3)
Zentral für Adornos Argumentation in »Schuld und Abwehr« ist die Annahme, dass in der deutschen Nachkriegsgesellschaft unbewusste Schuldgefühle existierten. Man könne, so Adorno, »von der Annahme ausgehen, dass tatsächlich etwas wie eine latente Erfahrung von der Schuld vorliegt und dass diese Erfahrung verdrängt und rationalisiert« werde. (4) Da es sich um eine »latente«, nichtbewusste Empfindung handle, werde sie als ein unangenehmes Gefühl wahrgenommen, das abgewehrt würde. Zugleich richte sich die Abwehr gegen Personen, die als »Repräsentanten oder Verkörperungen einer unerwünschten und verdrängten Erinnerung« gelten und abgewehrte Gefühle hervorrufen könnten, Überlebende der Shoah oder allgemeiner Jüdinnen und Juden. (5) Die Schuldgefühle resultierten nicht nur aus einer persönlichen Beteiligung an der Vernichtungspolitik. Auch die Kinder der Tätergeneration konnten sich für die Verbrechen ihrer Eltern latent schuldig fühlen. Nicht einmal eine direkte familiäre Beziehung war eine notwendige Voraussetzung. Es genügte, wie Adorno ausführt, die »mehr oder minder blinde Identifikation mit der Nation«, weshalb »Schuld und Abwehr« auch die »Gewalt dieser Identifikationsmechanismen« behandelt. (6) Eine Identifikation mit dem nationalen Kollektiv beschreibt in »Jahrestage« auch Gesine Cresspahl: »Betroffen war die eigene Gruppe: ich mag zwölf Jahre alt sein, ich gehöre zu einer nationalen Gruppe, die eine andere Gruppe abgeschlachtet hat in zu großer Zahl (einem Kind wäre schon ein einziges Opfer als Anblick zuviel gewesen).« (28. Oktober 1967)
Die Möglichkeiten und Schwierigkeiten einer »Aufarbeitung der Vergangenheit« beschäftigten während der fünfzigerer und sechziger Jahre viele Intellektuelle in Deutschland. Nicht erst Ralph Giordano schrieb 1987 von einer »zweiten Schuld«. Schon Hubert Fichte betitelte eine Sammlung von Porträts und Interviews, die er in den sechziger Jahren niedergeschrieben hatte, die allerdings erst posthum erschien, mit »Die zweite Schuld«. (7) Die Schuldabwehr war bei den deutschen Nachkriegsintellektuellen nicht nur ein Thema, über das sie schrieben, sondern sie war, wie Klaus Briegleb am Beispiel der Gruppe 47 zeigt, auch ihr Problem. Briegleb wirft der Gruppe 47, zu der neben Günter Grass und Martin Walser auch Uwe Johnson gehörte, nicht vor, dass sie Antisemiten, wie man sie bis dahin kannte, gewesen seien. Er betont, dass es sich bei ihrer Haltung nicht um den alten nationalsozialistischen Judenhass gehandelt habe, sondern um einen »besonderen deutschen Antisemitismus nach der Shoah«, an dem die Gruppe 47 »aus der Position einer angemaßten moralischen Unbescholtenheit und Sprecherkompetenz heraus mitgewirkt« habe – auf der Basis einer weit verbreiteten Verdrängung der Vergangenheit. (8) Wie zum Beweis für Brieglebs These brachte sich Grass 2012 ins Gespräch, als er in seinem Gedicht »Was gesagt werden muss« phantasierte, ein Militärschlag Israels gegen Iran würde das »iranische Volk auslöschen« und »uns« zu Überlebenden, »allenfalls Fußnoten« der Geschichte, machen. (9) Grass ist während des Zweiten Weltkriegs Mitglied der Waffen-SS gewesen, hatte dies aber bis ins 21. Jahrhundert verheimlicht.
Anders als Grass, der in seinem Gedicht drastisch die Abwehr der Schuld und ihre Projektion auf den Staat Israel betreibt, hat Uwe Johnson die Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte gesucht. Gegen welche inneren Widerstände dies geschah und wie auch Johnson daran immer wieder scheiterte, berichtet Max Frisch in einer eindrücklichen Szene in seinem »Berliner Journal« aus dem Jahr 1971. Johnson wird, bereits im Westen lebend, von Frisch besucht. Frisch kommt gemeinsam mit dem DDR-Autor Jurek Becker, der die KZ Ravensbrück und Sachsenhausen überlebt hat. Bei dem Treffen soll nach Darstellung Frischs alles schief gelaufen sein. Johnson befragt Becker, so die Darstellung Frischs, »wie ein Staatsanwalt im Verhör« über sein Leben im Ghetto von Lodz und seine Entscheidung, in der DDR zu leben. In einem Telefonat noch am selben Tag gibt Johnson Frisch die Schuld an dem peinlich verlaufenen Treffen. Johnson erklärt, er »wisse, dass sechs Millionen Juden, sogar acht Millionen« ermordet wurden. Warum, fragt er Frisch, habe Frisch Becker zu dem Treffen mitgebracht und diesen dazu gebracht, Johnson »das zu erzählen?« (10) Auch Christa Wolf wird von Johnson, nach Frischs Aufzeichnungen, barsch zur Rede gestellt, warum sie weiterhin in der DDR lebe: »Wofür will Uwe sie strafen? Er kommt nicht darüber hinweg, dass er und Elisabeth die DDR verlassen haben, dass andere es nicht tun und nicht zu tun gedenken. Etwas wie schlechtes Gewissen; (…) Trauma. (…) Eine Art von Heimweh-Hass.« (11) In den Figuren der »Jahrestage«, vor allem in den beiden Frauen Gesine und Marie, konnte der »Genosse Schriftsteller« möglicherweise seinen »Trend zum moralischen Rigorismus« (12) zumindest in Gedanken überwinden und eine erreichbare Hoffnung auf Versöhnung und die wiedergewonnene Fähigkeit zu trauern formulieren:

Wer erzählt hier eigentlich, Gesine.
Wir beide. Das hörst du doch, Johnson.
(3. November 1967)

Die Romanfigur Gesine Cresspahl erscheint so als Wunschfigur im Vergleich zum Schriftsteller Uwe Johnson, der in »Jahrestage« ebenfalls als Figur auftritt. 1967 wollte Uwe Johnson dem American Jewish Congress (AJC) die deutsche Politik und die Wahlerfolge der NPD in der BRD erklären. Die Regierungsmitglieder unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, heißt es in dem Roman, schauten auf »die Hand, mit der sie ihre überlebenden Opfer ohrfeigen, und begreifen es nicht: sagte der Schriftsteller Uwe Johnson. Darauf bekam er eine Ohrfeige.« Johnson, der mit Glatze und Ledermantel tatsächlich wie ein Deutscher aussah, der »etwas nicht begriffen« hatte, verstand nicht, dass sein jüdisches Publikum in New York von einem Deutschen nicht hören wollte, dass der Kanzler nicht »wegen seiner Verbindung mit den Nazis« gewählt worden sei, es sei nur »diese Seite der Sache vergessen worden«. Was dabei »vergessen« worden war, rief ihm das Publikum 1967 in Erinnerung: »Und sie sagten: Meine Mutter. Theresienstadt. Meine ganze Familie. Treblinka. Meine Kinder. Birkenau. Mein Leben. Auschwitz.« (3. November 1967)

Alexander Mitscherlich und Gesine Cresspahl
Die »Jahrestage« enden mit dem Prager Frühling. Am letzten Tag des Tagebuchs, das keines ist, denn »hier macht ein Schreiber in ihrem Auftrag für jeden Tag eine Eintragung an ihrer Statt, mit ihrer Erlaubnis, nicht jedoch für den täglichen Tag«, wie es am 2. Juli 1968 heißt, dringen sowjetische Panzer in Prag ein. Die Angestellte Gesine Cresspahl sollte im Auftrag ihrer Bank nach Prag gehen, um dort eine Staatsanleihe zu vermitteln. Nicht einmal sechs Wochen zuvor macht sie sich Sorgen: »Die Pravda erwähnt Ungarn. Das kann sich anhören wie Panzer.« (12. Juli 1968) An diesem Tag schreibt sie einen »privaten Brief« an einen deutschen Professor, denn sie wüsste »doch gern, ob sie sich für psychisch gestört halten soll«: »Grundsätzlich möchte ich mich oft für normal halten. Die Ausnahme ist: ich höre Stimmen. (…) Auch verstorbene Personen sprechen mit mir wie in meiner Gegenwart. (…) Jetzt werde ich von denen in Situationen hineingezogen, in denen ich nicht anwesend war, die ich auch keines Weges habe auffassen können, sei es mit einem acht-, einem vierzehnjährigen Verstand. Ich höre mich also nicht nur sprechen von der subjektiv realen (vergangenen) Stelle aus, auch von der Stelle des heute fünfunddreißigjährigen Subjekts aus. (…) Beschwerden: keine. (…) Ist dies eine Krankheit?« (12. Juli 1968)
Der »deutsche Professor«, ein gewisser »A. M.« vom »Forschungsinstitut für Psychoanalyse zu Frankfurt am Main«, ist unschwer als Alexander Mitscherlich zu dechiffrieren. A. M. war mehr als eine literarische Figur. Johnson hatte Alexander Mitscherlich tatsächlich kontaktiert und um eine Antwort auf die Befürchtungen der literarischen Figur Gesine gebeten. (13) Mitscherlich antwortete: Wenn eine Person »die Stimmen von Toten, von Abwesenden höre, wenn sie mir antworten, es kann auch liegen an der Ausstattung der Person mit dieser Art von Erlebnis. (…) Demnach eine feste Bindung an die Vergangenheit der Person; keine Rede, sie sei darüber hinaus. Sie ist auf dem richtigen Wege mit der Vermutung, hier wirkten Folgen von Verletzungen fort, von Verlusten; sie irrt sich, wenn die da an Jakob denkt, an Cresspahl; angefangen hat es in der Tat mit der Mutter, die sich aus der Welt ›ver-rückt‹ hat.(…) Entfremdung ja; keine Wahnbildung. Nur dass sie unerledigt ist, die erste Verstoßung durch die Mutter (die zweite, die dritte). Keine Gefahr von Vererbung.« Gesine solle nur ihrem Kind mehr Unabhängigkeit lassen, nicht seine Gedanken überwachen wollen. »Sie bedürfen des erheblichen Mutes, auf Sicherungen verzichten zu wollen, obgleich das nach den Erfahrungen Ihres Lebens aussehen könnte wie Fahrlässigkeit.« Die eindeutige Antwort, die Gesine erwartet hat, ist dies nicht: »Was er deutlich ausgelassen hat: ein Bedenken wegen Unfähigkeit zur Arbeit. Nach meinem brieflichen Betragen bin ich noch gerüstet für eine Arbeit in einem Ausland, in Prag.« (17. August 1968)
Mitscherlich war, als der erste Band der »Jahrestage« erschien, kein Unbekannter mehr. 1967 veröffentlichten er und Margarete Mitscherlich »Die Unfähigkeit zu trauern«, den Versuch einer psychoanalytischen Antwort auf die Frage, warum »wir«, die Deutschen, die Verbrechen und Opfer des Nationalsozialismus scheinbar mühelos hinter dem manischen »Wiederaufbau« verschwinden lassen konnten. Dabei gingen sie von der These aus, dass zwischen der in den sechziger Jahren beobachteten »Ich-Entleerung unserer Gesellschaft«, der Abstumpfung gegenüber dem politischen und sozialen Geschehen, dem »in der Bundesrepublik herrschenden politischen und sozialen Immobilismus und Provinzialismus einerseits und der hartnäckig aufrechterhaltenen Abwehr von Erinnerungen, insbesondere der Sperrung gegen eine Gefühlsbeteiligung an den jetzt verleugneten Vorgängen der Vergangenheit andererseits ein determinierender Zusammenhang besteht«. (14) Die Abwehr der Erinnerung an den Nationalsozialismus sei nicht nur die Abwehr von Scham und Schuld, sondern richte sich auch gegen massive Vergeltungsängste und vor allem gegen eine Melancholie, die durch den Verlust des »Führers« als externalisiertem Ich-Ideal drohe: »Die Unfähigkeit zur Trauer um den erlittenen Verlust des Führers ist das Ergebnis einer intensiven Abwehr von Schuld, Scham und Angst; sie gelingt durch den Rückzug bisher starker libidinöser Besetzungen. Die Nazivergangenheit wird derealisiert, entwirklicht. Als Anlass zur Trauer wirkt übrigens nicht nur der Tod Adolf Hitlers als realer Person, sondern vor allem das Erlöschen seiner Repräsentanz als kollektives Ich-Ideal«, also der »Verlust eines narzisstischen Objekts und damit eine Ich- oder Selbstverarmung und -entwertung«. (15) Die Verleugnung der Vergangenheit verunmöglicht die Erinnerung und erzeugt eine »auffallende Gefühlsstarre«. Diese Derealisierung des »soeben noch wirklich gewesenen Dritten Reiches« ermöglichte den Deutschen die prompte Identifikation mit den Siegern, dieser »Identitätswechsel« schließlich bereitete die »Phase des manischen Ungeschehenmachens«, den »Wiederaufbau« vor. (16)
Die Mitscherlichs entlassen keinen ihrer Leser aus der Verantwortung, sich der »kollektiven Schuld« und Scham zu stellen, die »Korrektur unseres falschen und eingeengten Bewusstseins« anzugehen, um die »Fähigkeit zu trauern« wiederzugewinnen. Sie sprechen ihr Publikum 1967 durchgehend mit »wir« an und beziehen damit sowohl jene, die in der »inneren Emigration« verharrten, als auch die Kindergeneration ein. In seiner Rede zur Verleihung des Büchner-Preises 1971 nannte auch Uwe Johnson die »Kindergeneration nach der schuldigen« eine »an den Verbrechen der Deutschen gegen die Juden noch beteiligt(e)«. Seine Figur Gesine ist sich der Schuld bewusst, »das Kind eines Vaters« zu sein, der »von der planmäßigen Ermordung der Juden gewusst hat« (28. Oktober 1967).
Als ihre »aufklärerische Absicht« bezeichnen es die Mitschlerlichs, »die Chancen für den freundlichen Deutschen zu vermehren«. (17) Die Geschichte von Gesine und ihrer Tochter Marie ließe sich in der Tat als die Entstehung einer Generation »freundlicher Deutscher« lesen. Wenn A. M. Gesine in seinem Brief partout keine »Unfähigkeit zur Arbeit« bescheinigen will, sondern sie nur darum bittet, Marie, der kommenden Generation, ihre Unabhängigkeit zu lassen (und sie bittet, ihre Vorbehalte gegen »Shrinks« zu überdenken, denn eine Psychoanalyse könne ihr zu mehr »zeitgemäßer innerer Sicherheit« verhelfen), so bestätigt sich darin die Figur Gesine Cresspahl als Gegenentwurf zur manisch abwehrenden deutschen Bevölkerung. Sie stellt sich der Erinnerung an die Toten, privat wie politisch. Die »feste Bindung an die Vergangenheit«, die A. M. feststellt, wird bewusst gemacht statt verdrängt. Gesine hat Schuldgefühle, aber statt sie abzuwehren, reflektiert sie sie. Das ist keine angenehme Erfahrung. Kein Schuldgefühl kann dem ungeheuerlichen Ereignis angemessen sein. Gesine Cresspahl bleibt demgegenüber ohnmächtig. Und verwirrt, als sie erfahren muss, dass Mrs. Ferwalter ihr Sympathie entgegenbringt:

Ich mag dich nämlich gern, du Deutsche. Kannst du es verstehen?
Nein, Mrs. Ferwalter. Aber es soll uns recht sein, und wir erwidern es. (28. Februar 1968)

Die Begegnungen mit der eigenen Geschichte, mit den Toten ihrer Familie wie mit den Überlebenden der Shoah, sind Gesine erst möglich in »der Stadt am Hudson«, nachdem sie beide deutschen Staaten verlassen hat. Vor allem ihre Tochter Marie erscheint in »Jahrestage« als eine utopische Figur, als hybride Existenz mit einer deutsch-englischen Muttersprache, mit deutscher Geschichte und New Yorker Gegenwart, ein erster Vorschein des Wunsches nach einer Welt, in der man »ohne Angst verschieden sein« kann. (18) Sie repräsentiert die von den Mitscherlichs gemeinte »Freundlichkeit« stärker als Gesine, denn sie ist, da sie die Vergangenheit nicht verleugnen muss, sondern sie sich kritisch anzueignen bemüht, intellektuell wie emotional offen für die gesellschaftlichen Konflikte ihrer Gegenwart, für den Vietnamkrieg, für den gegenwärtigen Rassismus, dem sie selbst sich auch nicht entziehen kann, als die erste Afroamerikanerin in ihre Klasse einer katholischen Mädchenschule kommt, dem sie sich aber zu stellen vermag, in einem kindlichen Kampf um Annäherung und Verständnis ihrer eigenen Ressentiments. Sie kann mit Rebecca Ferwalter, der Tochter von Mrs. Ferwalter, befreundet sein, ohne durch deren Judentum befremdet oder befangen sein zu müssen. Anders als ihre Mutter weiß sie, warum Rebecca samstags nicht mit der South Ferry von Manhattan nach Staten Island fahren darf: »Wie oft vergisst du noch, Gesine, dass sie jüdisch ist?« (13. Januar 1968) Bernd Neumann schreibt ­
in seiner Uwe-Johnson-Biographie: »Denn erst wenn sicher ist, dass Marie, die Tochter der jüngsten Generation, nicht verstoßen wird, hat die Erinnerungsarbeit ihr Ziel erreicht, ist die jüngste Gegenwart frei von der Last der Vergangenheit.« (19)
Marie verkörpert die noch einzulösende Hoffnung, dass die generationelle Weitergabe der Verleugnung durchbrochen werden könnte, eine Hoffnung, in deren Namen Gesine sich der schmerz- und schuldhaften Erinnerungsarbeit stellt. Die Mädchenfigur bekommt dadurch gleichzeitig etwas Unglaubwürdiges, möglicherweise, weil eine solche Utopie kaum realisierbar erscheint, auch wenn die vaterlose Marie zumindest »der herkömmlichen harten Herrschaft deutscher Väter« nicht ausgesetzt war. (20)

Kein Dichter der beiden Deutschlands
Bis heute gilt Uwe Johnson als der »Dichter der beiden Deutschlands«. Dabei bemüht sich die Johnson-Forschung seit längerem, diesem Bild entgegenzuwirken. Weil Johnsons erster veröffentlichter Roman, »Mutmaßungen über Jakob«, von der Staatssicherheit in der DDR handelt, weil Johnson 1959 nach West-Berlin »umgezogen« war, wie er es selbst nannte, und weil er in einer Zeitungskolumne für den West-Berliner Tagesspiegel das Programm des ostdeutschen Fernsehens beschrieb, schien er zu denen zu gehören, die die deutsche Teilung überwinden wollten. Das war ein Missverständnis. Sicherlich war Uwe Johnson ein deutscher Schriftsteller, der liebevoll die norddeutsche Landschaft beschrieb und seine Figuren Mecklenburger Platt reden ließ. Doch die Bezeichnung »Dichter der beiden Deutschlands« war ihm unangenehm, wie er 1979 in den Frankfurter Vorlesungen »Begleitumstände« ausführte: »Peinlich ist in solcher Nachrede die Vermutung wahrzunehmen, er befasse sich mit den für ihn vorliegenden ›beiden Deutschland‹, weil die Mehrzahl ihn verstimme und er einen Singular vorziehe in einer Wieder-Vereinigung.« (21) Zur Frage einer »Wiedervereinigung« hatte er fünf Jahre zuvor gesagt, es bestehe »keine Aussicht, dass beide deutschen Staaten noch einmal vereinigt werden können, eben wegen der in einem Vierteljahrhundert gewachsenen Unterschiede in den Produktionsverhältnissen, der Machtverteilung, der moralischen und egoistischen Werteskala, ja auch schon in der Kultur«. (22) Mitte der sechziger Jahre hatte er öffentlich über die Mauer gesagt, die »ostdeutschen Kommunisten« hätten sie aus »Notwehr« errichtet. Vier Millionen Menschen hatten den neuen Staat verlassen: »Dies stellte die ostdeutschen Behörden einem Arbeitskräftemangel gegenüber, den sie nicht länger aushalten konnten. Darum versperrten sie alle Fluchtwege.« (23)
Dennoch waren die Geschichte der DDR und der BRD und ihre gemeinsame Geschichte vor 1945 Johnsons Thema, sein Material. Wie es Iris Dankemeyer 2009 in Konkret ausdrückte, war Uwe Johnson »Chronist ›beider Deutschland‹ an genau der Stelle, an der die gesamtdeutsche Gemeinsamkeit besteht: in der nationalsozialistischen Vergangenheit«. (24) In seinem ersten Roman, »Ingrid Babendererde. Reifeprüfung 1953«, der allerdings erst nach Johnsons Tod erschien, verarbeitete er seine biographische Enttäuschung in der jungen DDR. Seine Haupt­figur war schon hier wie später in »Jahrestage« eine Frau. Ingrid Babendererde, eine Vorzeigeschülerin, erklärt als Sprecherin der Freien Deutschen Jugend, es widerspreche der Verfassung des sozialistischen Deutschland, die Mitglieder der christlichen »Jungen Gemeinde« zu überwachen und zu diskriminieren. Zwei Schüler, die zur Jungen Gemeinde gehörten, waren von der Schule verwiesen worden, nachdem sie sich nicht von der christlichen Gruppierung losgesagt hatten. Babendererde flieht wenig später in den Westen. Gesine verließ die DDR etwas später aus einem anderen Grund: »Sie schaltete das Vertrauen zur ostdeutschen Republik ab, nur weil die Anstalten machte, Stalins Ärzteprozess vom Januar 1953 zu übernehmen, und so ein ungefähres antifaschistisches Versprechen brach.« (28. Oktober 1967) Ihr Professor, Ertzenberger, wurde von Kollegen an der Universität Halle geschnitten und verließ das Land: »Aus einem solchen Land ging ich weg. Wenn ich nur wüsste, warum Jakob da blieb!« (15. August 1968)
Die »Mutmaßungen über Jakob« versuchen, die Todesumstände des Bahnhofsvorstehers Jakob Abs zu ermitteln, der auf dem Nachhauseweg von einem Zug erfasst wurde. Beide Geschichten tauchen in »Jahrestage« wieder auf. Jakob ist der verstorbene Vater von Marie Cress­pahl, mit dem Gesine oft in Gedanken spricht. Gesines neuer Lebenspartner, Dietrich Erichson, fast durchweg D. E. genannt, stammt wie sie aus Mecklenburg. Während seiner Studienzeit in der jungen DDR hatte er sich mit Ingrid Babendererde solidarisiert: »Er hatte die selbe Schule besucht, von der Klaus Niebuhr und die Babendererde in jenem Frühjahr vorzeitig abgingen, und er sollte von seinem Physikstudium in Ostberlin ausgeschlossen werden, nachdem er in einer Fakultätsversammlung den Fall Babendererde als ein Beispiel für Verfassungsbruch in der Deutschen Demokratischen Republik (durch die Regierung der Deutschen Demokratischen Republik) dargestellt hatte.« (1. September 1967)
Dass Uwe Johnson von Teilen der westdeutschen Literaturszene als DDR-Dissident vereinnahmt wurde, konnte er jedoch nicht verhindern. Sein Freund und Kollege aus der Gruppe 47, Günter Grass, echauffierte sich stellvertretend auf dem V. Deutschen Schriftstellerkongress 1961 in Ostberlin: »Ich kenne Uwe Johnson. (…) Er musste die Republik verlassen, weil ihm seine Arbeitsmöglichkeiten genommen wurden (…). Was hat er getan, dass man ihn zwingt, diesen Staat zu verlassen? (…) Ich will hierüber nicht viele Worte machen. Das ist eine Schweinerei.« (25) Johnson entschuldigte sich später stellvertretend bei dem Lektor des Aufbau-Verlags für Grass’ Anwürfe. Hätte er von Grass’ Vorhaben gewusst, hätte er ihn gebeten, zu schweigen. Er habe Grass von seinen Schwierigkeiten als Autor in der DDR nur erzählt, weil »es aufschlussreich erschien für die Verhältnisse in Ihrem Land, und weil ich wünschte Grass möge sie verstehen«. (26) Grass wollte sich jedoch lieber empören, im Namen ungefragter Anderer.

»Wenn das wieder anfangen soll«
In einer Diskussion mit den Toten verteidigt Gesine Cresspahl ihre politisch resignative Haltung. Sie werde sich nicht an Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg beteiligen. Sie informiere sich in ihrer obsessiven Lektüre der New York Times über das politische Zeitgeschehen: »Es ist was mir übriggeblieben ist: Bescheid zu lernen. Wenigstens mit Kenntnis zu leben.« (22. Oktober 1967) Trotzdem verband sie mit dem Auftrag, für ihre Bank nach Prag zu gehen, im Stillen eine Hoffnung: »Wenn das wieder anfangen soll in einem sozialistischen Land: dass ein Tod nicht von Staats wegen rechtens ist; dass zu einem Mord ein Mörder gehört; dass die Toten wenigstens ein Recht haben auf die Wahrheit ihres Todes; dass die Todesfälle durch Gewalt, in der Nacht, im Geheimnis, hinter verschlossenen Türen verboten werden, und wenn nicht verhindert, verurteilt: es könnte ja ein Sozialismus anfangen, mit einer in Kraft gesetzten Verfassung, mit der Freiheit zu reden, zu reisen, über die Verwendung der Produktionsmittel zu bestimmen, auch für den Einzelnen.« (7. Februar 1968) Davon allerdings raten die Toten ihr ab:
Darum soll ich nicht nach Prag?
Du kannst da nicht reden, nicht arbeiten, nicht leben. Gib es auf. (17. Mai 1968)

Wie auch der Schriftsteller Uwe Johnson macht sie der DDR zum Vorwurf, dass sie Anfang der fünfziger Jahre »ein ungefähres antifaschistisches Versprechen brach«. Aber die Enttäuschung bezieht sich auf den Bruch, nicht auf das Versprechen. Auch wenn er nicht realistisch ist, bleibt der Traum von einem anderen Sozialismus bestehen. Im Jahr 2000 strahlte das Erste Deutsche Fernsehen Margarethe von Trottas Fernsehverfilmung der »Jahrestage« aus. In Trot­tas Verfilmung sind es ausschließlich die Geschäftsinteressen des Bankchefs de Rosny, derentwegen seine Angestellte Cresspahl in das sozialistische Land reist. Dass die Kritik an der DDR in Johnsons Romanen im »Zeichen einer sozialistischen Auseinandersetzung mit dem Sozialismus« steht, wie es Norbert Mecklenburg formuliert, fehlt bei Trotta. (27) Das Bild von Uwe Johnson als dem »Dichter der beiden Deutschlands« beinhaltete auch die Vorstellung, in ihm einen Kronzeugen gegen den Sozialismus gefunden zu haben. 1959 schrieb er seiner ehemaligen Vermieterin in Güstrow, dass er sich mit den »Mutmaßungen über Jakob« nicht »gegen die Deutsche Demokratische Republik entschieden hätte. Ich bin sehr ungern gegangen.« (28) Bereits die Anrede »Genosse Schriftsteller«, die Gesine Cresspahl in den wenigen Dialogen mit ihrem Autor verwendet, hätte deutlich machen können, dass Uwe Johnson kein Antikommunist ist. So wird auch die besondere Tragik des Romans »Jahrestage« erkennbar. Dass die Sowjetunion den Prager Frühling gewaltsam unterdrücken könnte, hatte Gesine Cresspahl zwar erwogen, aber verworfen: »Sie werden nicht mit Panzern nach Prag gehen. Nicht zwölf Jahre nach Budapest, 1968!« (5. Mai 1968) Wie der erste Roman, »Ingrid Babendererde« handelt »Jahrestage« von einem historischen Moment, in dem sich der real existierende Sozialismus grundlegend wandeln könnte. Diese Hoffnung wird sie mit dem Ende des Romans begraben. Begleitet wird diese Enttäuschung von einem privaten Verlust. Ihr Lebens­partner, D. E., kommt kurz zuvor bei einem Flugzeugunglück ums Leben.
Uwe Johnson starb vor 30 Jahren, vermutlich Ende Februar 1984. Sein Todesdatum lässt sich nicht genau bestimmen. Sein toter Körper wurde erst Anfang März in seinem Haus in Sheerness, England, gefunden, wo Johnson seit 1974 gelebt hatte. 1983 konnte er endlich, mit der Veröffentlichung des vierten Bandes, die »Jahrestage« nach fast 20 Jahren abschließen. Die Stadt Rostock nimmt den 30. Todestag Uwe Johnsons als Anlass, die »Jahrestage« von Freiwilligen einlesen zu lassen. Ab dem 20. August – dem Datum, an dem die »Jahrestage« enden – soll die Lesung im Radio zu hören sein. 2013 ist das Uwe-Johnson-Archiv von Marbach nach Rostock umgezogen. Johnson starb vereinsamt und verbittert. In der Vorlesung »Begleitumstände« schildert er, weshalb er in den Siebzigern einen Zusammenbruch und eine Schreibblockade hatte. Ihm sei 1975 »eröffnet« worden, dass seine Ehefrau ihn seit 1961 für den tschechoslowakischen Geheimdienst ausspioniert habe – ein Vorwurf, der sich, wie Bernd Neumann schreibt, »nicht nachweisen« lässt. (29) Über die private Geschichte des Verfassers der »Jahrestage« fehlen auch deswegen viele Informationen, weil seine ehemalige Ehefrau und seine Tochter der testamentarisch verfügten »dringende(n) Bitte« entsprechen, sich über das gemeinsame Leben nicht öffentlich zu äußern. (30) Doch man muss diese Hintergründe für die Lektüre der »Jahrestage« nicht kennen. Es ist nicht nur wegen der fast 2 000 Seiten und Johnsons eigenwilliger Sprache eine schwierige Lektüre, sondern auch, weil sie an die unangenehmen Folgen erinnert, die es hat, in Deutschland aufzuwachsen.

Anmerkungen:
(1) Greg Bond: Die Beschäftigung mit Uwe Johnson heute, in: Text und Kritik 65/66: Uwe Johnson, 2001, S. 9
(2) Theodor W. Adorno: Schuld und Abwehr, in: ders.: Soziologische Schriften II.2, Frankfurt/M. 2003, S. 323
(3) Theodor W. Adorno: Zur Bekämpfung des Antisemitismus heute, in: »Das Argument« 29 (1964), S. 89 f.
(4) Adorno: Schuld und Abwehr, S. 149
(5) Lars Rensmann: Demokratie und Judenbild, Wiesbaden 2005, S. 91
(6) Adorno: Schuld und Abwehr, S. 136 und 151
(7) Hubert Fichte: Die zweite Schuld. Glossen, Frank­furt/M. 2006. Ralph Giordano: Die zweite Schuld oder Von der Last Deutscher zu sein, Hamburg 1987
(8) Klaus Briegleb: Missachtung und Tabu, Berlin/Wien 2003, S. 13
(9) Günter Grass: Was gesagt werden muss, in: »Süddeutsche Zeitung« 10. April 2012
(10) Max Frisch: Aus dem Berliner Journal, hg. von Thomas Strässle, Frankfurt/M. 2014, S. 106
(11) Frisch: Aus dem Berliner Journal, S. 161
(12) Ebd.
(13) Uwe Johnson/Siegfried Unseld. Der Briefwechsel, hg. von Eberhard Fahlke und Raimund Fellinger, Frank­furt/M. 1999, S. 685
(14) Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern, München 1977, S. 9
(15) Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern, S. 34f.
(16) Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern, S. 40
(17) Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern, S. 11
(18) Theodor W. Adorno: Minima Moralia. GS 4, Frankfurt/M. 1997, S. 116
(19) Bernd Neumann: Uwe Johnson, Hamburg 1994,
S. 823
(20) Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern, S. 62
(21) Uwe Johnson: Begleitumstände. Frankfurter Vorlesungen, Frankfurt/M. 1980, S. 337
(22) Uwe Johnson, 17. Mai 1974, zitiert nach: Katja Leuchtenberger: Uwe Johnson, Berlin 2010, S. 54
(23) Uwe Johnson: Begleitumstände, S. 217
(24) Iris Dankemeyer: »Heimweh? Ich versteh immer Bahnhof«, in: »Konkret« 7 (2009)
(25) Johnson/Unseld. Der Briefwechsel, S. 216
(26) Johnson/Unseld. Der Briefwechsel, S. 214
(27) Norbert Mecklenburg: Die Erzählkunst Uwe Johnsons, Frankfurt/M. 1997, S. 60
(28) Johnson: Brief an Alice Hensan, zitiert nach: Leuchtenberger: Uwe Johnson, S. 27
(29) Neumann: Uwe Johnson, S. 446
(30) Uwe Johnsons Testament, zitiert nach: Leuchtenberger: Uwe Johnson, S. 68