John Kerrys Bemühungen um Frieden im Nahen Osten und die Streitpunkte bei den Verhandlungen

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Während die Amerikaner im Nahen Osten an Einfluss verlieren, hat sich US-Außenminister John Kerry vorgenommen, den unlösbarsten und »ältesten Konflikt« der Weltgeschichte innerhalb von neun Monaten zu lösen.

Die Verhandlungen finden hinter hermetisch verschlossenen Türen statt. US-Außenminister John Kerry ist der einzige offizielle Sprecher. Deshalb lässt sich nicht ermitteln, ob in die Öffentlichkeit gesickerte »Knackpunkte« echt sind oder vielleicht nur Wunschträume oder Versuchsballons der Beteiligten. Die Diskussionen auf der israelischen Seite könnten bloßes Schattenfechten sein. Dennoch gibt es keinen Streitpunkt, zu dem ein Kompromiss bekannt geworden wäre. Und dass es bei Verhandlungen zu Krisen kommt, weiß jeder. Deshalb sind auch Drohungen, dass der jüdische Staat mit Boykott und Isolierung rechnen müsse, falls die Gespräche wegen der Siedlungspolitik scheitern sollten, kein Indiz für den Stand der Dinge. Die Drohungen haben allerdings Unmut in Israel ausgelöst. Denn neben der Siedlungspolitik gibt es auch palästinensische Störversuche, die ein Scheitern »rechtfertigen« könnten, der tägliche Raketenbeschuss aus dem Gaza-Streifen ist da nur ein Beispiel. Die Situation im Gaza-Streifen und die dortige Herrschaft der Hamas stellen derzeit ein unüberwindliches Hindernis für einen erfolgreichen Friedensschluss dar.

In der israelischen Öffentlichkeit werden verschiedene Themengebiete diskutiert:

Grenzen
Die Palästinenser halten die Waffenstillstandslinien von 1967 für »international anerkannte« Grenzen, auf die sich Israel zurückzuziehen habe. Die israelische Linke, angeführt von Peace Now, hält jede Siedlung jenseits der »grünen Linie« für illegal. Eine vollständige Räumung dieser Gebiete, wie 2005 im Gazastreifen, würde bedeuten, dass eine halbe Million Israelis ihre Wohnungen aufgeben müssten. Die Räumung beträfe dann theoretisch auch das jüdische Viertel in Jerusalems Altstadt und die Klagemauer. Im israelischen Mainstream und bei Rechten existieren kaum Vorstellungen davon, wo genau die Grenze zum künftigen palästinensischen Staat gezogen werden sollte. Die seit 2003 von Israel errichtete Sicherheitsmauer ist dafür nur bedingt ein Anhaltspunkt, denn in diesen Kreisen ist man überwiegend der Meinung, dass die Städte Ariel, Maaleh Adumim und Kirjat Arba, die jenseits davon liegen, »in jedem Fall« bei Israel bleiben müssten. Sehr diffus heißt es bei Premierminister Benjamin Netanjahu, dass Israel keinesfalls zu den »alten Grenzen« zurückkehren werde. Manche zitieren den ehemaligen Außenminister Abba Eban, der die 15 Kilometer breite Wespentaille nördlich von Tel Aviv als »Auschwitzgrenze« bezeichnet hat. Ein so schmaler Landstreifen, in dem zwei Drittel aller Israelis leben, lasse sich nicht verteidigen.

Gebietsaustausch
Für großes Aufsehen hatte Außenminister Avigdor Lieberman mit seinem Vorschlag gesorgt, in Israel liegende arabische Städte wie Umm al-Fachm in den künftigen palästinensischen Staat zu verlegen. Lieberman bezichtigt israelische Araber einer feindseligen Haltung gegenüber Israel, wenn sie etwa mit palästinensischen Flaggen demons­trieren. Niemand würde infolge der »Umsiedlung« sein Haus verlieren. Lediglich die Grenze würde ein paar Kilometer weiter westlich gezogen. Die Idee wurde leidenschaftlich diskutiert. Israel könnte so die Größe der nichtjüdischen Minderheit von 1,2 Millionen Arabern reduzieren und die Demographie zugunsten der jüdischen Bevölkerung verändern. Unter den Arabern stieß Liebermans Vorschlag auf Ablehnung. Plötzlich mussten sie ihre eigene Position neu umreißen. Viele arabische Israelis, auch Abgeordnete in der Knesset, diffamieren regelmäßig Israel und bezeichnen sich als »Palästinenser«, aber kaum einer will auf das Privileg verzichten, israelischer Staatsbürger zu sein. Gerade jetzt, da sich verschiedene Gruppen in der arabischen Welt gegenseitig zerfleischen und die palästinensische Autonomie kein begehrenswertes Vorbild liefert, fühlen sich sogar »kritische« arabische Abgeordnete genötigt, positiv über Israel zu sprechen.
Israelisch-arabische Christen reagierten sehr konkret auf Liebermans Vorschlag. In Nazareth wurde eine christliche Partei gegründet, die christliche Jugendliche aufruft, sich freiwillig beim israelischen Militär zu melden oder Zivildienst zu leisten. Die Zahl der arabischen Freiwilligen beim Militär ist deutlich angestiegen. Die arabischen Christen müssen tatenlos zuschauen, wie ihre Glaubensbrüder im Irak, in Syrien oder Ägypten nicht mehr ihres Lebens sicher sind. Israel ist das einzige Land im Nahen Osten mit echter Religionsfreiheit. Liebermans Vorschlag dürfte freilich aus rechtlichen wie politischen Gründen niemals umgesetzt werden. Aber er hat die israelischen Araber zum Nachdenken gezwungen.

Rückkehrrecht für Flüchtlinge
Der Vorschlag eines Gebietsaustausches ist auch eine Antwort auf die altbekannte Forderung der palästinensischen Seite nach einem Recht auf Rückkehr für alle bei der Uno registrierten palästinensischen Flüchtlinge sowie ihre Kinder und Kindeskinder aus dem Libanon, aus Syrien, Jordanien und den palästinensischen Autonomiegebieten, ingesamt fünf Millionen Menschen. Linken wie rechten Israelis ist klar, dass die »Rückkehr« all dieser Menschen ein Tabu ist. Denn dann gäbe es kein Israel mehr, sondern einen weiteren ara­bischen Staat – mit jüdischer Minderheit.

Siedler in »Palästina«
Im Rahmen dieser Diskussion kam der Vorschlag auf, die Siedler im palästinensischen Staat zu belassen. Sie müssten die palästinensische Staatsangehörigkeit annehmen und auf den Schutz des israelischen Militärs verzichten. Ausgerechnet radikale und fromme Siedler äußerten zunächst Zustimmung. Schließlich seien sie ins Westjordanland gezogen, weil sie nahe der biblischen Stätten ihre seelische und religiöse Heimat entdeckt hätten. Sowie Frieden herrsche, bestünde ja keine Gefahr mehr, meinten sie. Diese Diskussion ebbte jedoch schnell wieder ab und ein Großteil der Rechten ist umgeschwenkt zu der alten Forderung »Judäa und Samaria« zu annektieren.
Der Staat Israel hat seit 1967 den Status des Westjordanlandes (»Judäa und Samaria«) nicht geändert. Entsprechend dem Völkerrecht gilt Militärrecht. Eine Annexion würde bedeuten, dass den rund vier Millionen Palästinensern die israelische Staatsbürgerschaft übertragen werden müsste. Genau das will die israelische Linke verhindern. Denn das entspräche der von den meisten Israelis verworfenen Idee einer Einstaatenlösung. Israel würde in absehbarer Zeit ein Staat mit arabischer Mehrheit werden. Wegen dieses Arguments besteht die israelische Linke auf einem Ende der Siedlungspolitik. Es geht um die Frage, ob Israel ein jüdischer und demokratischer Staat bleiben kann.

Sicherheitsfragen
Ob die Siedlungen auch eine strategische Bedeutung für die Sicherheit Israels haben, wird kaum diskutiert, denn militärstrategische Überlegungen zur künftigen Grenzziehung werden selten preisgegeben. Sehr wohl aber wird über eine Militärpräsenz im zwischen der Westbank und Jordanien liegenden Jordantal debattiert. Das hat mehrere Gründe: Das haschemitische Königshaus in Jordanien bangt um seine Legitimität angesichts einer Bevölkerungsmehrheit von etwa 75 Prozent Palästinensern. Der Putschversuch Jassir Arafats 1970 während des »Schwarzen Septembers« ist unvergessen. Sollte auch Jordanien vom »arabischen Frühling« erfasst werden, könnte es zum Umsturz kommen. Jordanien würde zu einem »palästinensischen Staat« werden. Um das zu verhindern, soll wohl Israel einen Keil zwischen dem Königreich und dem künftigen palästinensischen Staat bilden. Eine direkte Grenze ohne israelische Kontrollen könnte gefährliche Folgen für das Königreich haben.
Aber auch Israel besteht auf einer künftigen Militärpräsenz im Jordantal. Israels Ostgrenze, wenn sie einmal ähnlich der von 1967 verlaufen wird, wäre geographisch ein Einfallstor für feind­liches Militär. Die Westbank liegt höher als das israelische Kernland und angenommen, es gäbe Jordanien eines Tages in seiner jetzigen Form nicht mehr und ein neuer Staat Palästina würde entgegen allen Absprachen fremden Armeen Einlass gewähren, wäre Israel im Falle eines konventionellen Krieges schwer zu verteidigen.
Gemäß unbestätigten Berichten wurde bei den Verhandlungen die Stationierung fremder Truppen oder gar von Nato-Soldaten im Jordantal diskutiert. Israel hat allerdings sehr schlechte Erfahrungen mit internationalen Beobachtern und Truppen gemacht. 1967 hatte Ägyptens Präsident Gamal Abd al-Nasser den Abzug der Uno-Soldaten von der Grenze zu Israel verfügt. Das entsprach einer Kriegserklärung. 2007 sind die EU-Zöllner verschwunden, als die Hamas im Gaza-Streifen putschte. Dabei hatte die EU 2005 von Israel gefordert, den Gaza-Streifen komplett zu räumen und keine Soldaten an der Grenze zu Ägypten zu belassen. Die EU »garantierte« Israel, per Fernlenkung den Grenzübergang bei Rafah kontrollieren zu können, um Waffenschmuggel und die Einreise unerwünschter Personen in den Gaza-Streifen zu verhindern. Von dieser »Garantie« ist nach der Flucht der EU-Beobachter nichts geblieben. Und kürzlich verschwanden die österreichischen Uno-Soldaten von den Golanhöhen, wo sie die Grenze zwischen Israel und Syrien sicherten. Wie soll sich Israel auf fremde Soldaten verlassen, die verschwinden, sobald es brenzlig wird? Die Fähigkeit, sich selbst verteidigen zu können, gehört zur Staatsraison Israels.

Hohes Risiko
Kerrys Bemühungen um Frieden zwischen Israel und den Palästinensern sind ehrenwert und haben eine große symbolische Bedeutung. Denn ausgerechnet dieser Minikonflikt zwischen zwei winzigen Nationen wird jenseits aller Proportionen als »größte Gefahr für den Weltfrieden« empfunden. Millionen Menschen sterben in Afrika, Millionen sind auf der Flucht aus Syrien und anderen Ländern, in denen Menschenrechte nicht geachtet werden. Dennoch schaut die Uno mit allen ihren Gremien fast nur auf Israel. Die Zweistaatenlösung klingt verlockend einleuchtend. Aber nicht nur in Gaza und Teheran, nein, auch in Ramallah gibt es Politiker und viele andere Menschen, die eine Auslöschung Israels aktiv betreiben oder herbeiträumen. Das kann sich im vermeintlich so friedlichen Europa vielleicht kaum mehr jemand vorstellen, aber die Israelis erinnern sich noch zu gut an die Vertreibung beinahe sämtlicher Juden aus den arabischen Ländern und den Holocaust in Europa und sehen heute den virulenten Antisemitismus zum Beispiel ­in Frankreich und Ungarn, also mitten in Europa. Die geringste Fehlentscheidung, darunter ein Abzug aus dem Westjordanland im Rahmen eines schlecht ausgehandelten »Friedens«, könnte im schlimmsten Fall ein Ende Israels bedeuten.
In Europa herrscht heute »Frieden« ohne Friedensverträge, weil Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg kapitulieren und auf ein Drittel seines Territoriums verzichten musste. Im Nahen Osten hat niemand je eine Niederlage eingestanden und Lehren daraus gezogen. Dennoch werden allein von Israel Kompromisse und Nachgeben gefordert. Europäische und amerikanische Politiker fühlen sich genötigt, wie ein Mantra Israels »Existenzrecht« zu erklären. Bei keinem anderen Land der Welt wird die pure Existenz in Frage gestellt. Das ist auch der Grund für die oft nicht verstandene starre Politik der israelischen Regierung.