Die Krise in den Schwellenländern

Schluss mit Wachstum

Die Krise in den Schwellenländern ist nur oberflächlich betrachtet von der Politik der US-Notenbank hervorgerufen worden. Sie deutet an, dass den bisherigen Wachstumsmärkten Grenzen gesetzt sind.

Ein zweiter Paul Volcker wird die neue Präsidentin der US-Notenbank Fed, Janet Yellen, wohl nicht werden. Volcker, der die Fed von 1979 bis 1987 leitete, hatte kurz nach seinem Amtsantritt den Leitzinssatz, zu dem die Fed US-Dollars ausgibt, drastisch auf bis zu 21 Prozent im Jahr 1981 erhöht und damit die seit dem Ende der Goldbindung des US-Dollars vorherrschende lockere Geldpolitik beendet. Die Folgen dieser nach ihm benannten »Schocktherapie« waren neben dem erwünschten Ende der Inflation des US-Dollars – die bei Volckers Amtsantritt noch bei fast zwölf Prozent gelegen hatte – die globale Verteuerung der Kredite und ein weltweiter Einbruch der Investitionen. Selbst in den USA kam es damals zu einem Rekord an Firmenpleiten, die Zahl der geplatzten Immobilienkredite verdreifachte sich. Schlimmer noch traf es die Schwellenländer. Durch die hohen Zinssätze stiegen ihre Auslandsschulden, die nur durch die Aufnahme neuer und teurerer Kredite bedient werden konnten. Binnen weniger Jahre verdoppelte sich so etwa der Schuldenstand Brasiliens, er verdreifachte sich in Nigeria und stieg in Argentinien um 50 Prozent an. Im August 1982 musste Mexiko den Staatsbankrott erklären.
Demgegenüber hat Yellen stets betont, an der überaus lockeren Geldpolitik ihres Vorgängers und Mentors Ben Bernanke festhalten zu wollen. Allerdings reichten schon ihre Ankündigungen, die »langsame Drosselung der US-Anleihenkäufe« durch die Fed und eventuell auch eine moderate Anhebung des Zinssatzes anzustreben, die sie zunächst auf Pressekonferenzen der Notenbank im Januar und zuletzt bei ihrem Einstandsbesuch im Finanzausschuss des US-Kongresses formuliert hatte, um die Schwellenländer erneut in Schwierigkeiten zu bringen.
Derzeit kauft die Fed noch US-Anleihen im Wert von 75 Milliarden US-Dollar monatlich auf, der Leitzinssatz liegt seit 2007 konstant bei null bis 0,25 Prozent. Im vorigen Jahr hatte Bernanke zunächst im Frühsommer und zuletzt im Dezember angekündigt, zumindest das als quantitative easing bezeichnete Aufkaufen von Anleihen zu reduzieren und auch den Leitzins sukzessive wieder anheben zu wollen, sobald die Arbeitslosenquote in den USA auf 6,5 Prozent gesunken sei. In beiden Fällen löste allein die Ankündigung bereits dramatische Abstürze an den Wertpapierbörsen aus (Jungle World 27/2013 und 3/2014). Allgemein wird nun erwartet, dass Yellen ernst machen und zumindest das quantitative easing um zehn Milliarden US-Dollar monatlich reduzieren wird.

Für die meisten Schwellenländer hatte die Geldschwemme der internationalen Leit- und Reservewährung in den vergangenen Jahren eine kaum zu überschätzende wirtschaftspolitisch stabilisierende Wirkung. Sieht man von China ab, wiesen nicht nur die anderen vier BRICS-Staaten (Brasilien, Russland, Indien, Südafrika), sondern auch die meisten der anderen »Wachstumsmärkte« – das Wirtschaftswachstum hatte im Durchschnitt der vergangenen zehn Jahre in den Schwellenländern 6,5 Prozent und damit gut dreimal so viel wie das der Industrieländer betragen – sowohl staatliche Haushaltsdefizite als auch negative Außenhandelsbilanzen auf. Finanziert wurden diese Lücken durch den Zufluss internationalen Kapitals. Die durch die Niedrigzinspolitik hervorgerufenen geringen Renditemöglichkeiten in den OECD-Ländern machten Investitionen in den emerging markets immer attraktiver. Im vorigen Jahr hatte eine Analyse der britischen Zeitung The Telegraph für Aufsehen gesorgt, in der berechnet worden war, dass seit der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers die Kapitalzuflüsse in die Schwellenländer von vier auf acht Billionen US-Dollar gestiegen seien.
Eine Verknappung der Dollarmenge würde nicht nur die Masse des Anlagekapitals reduzieren, was angesichts der geringen Ausmaße derzeit allerdings kaum durchschlagen würde, sondern vor allem das allgemeine Zinsniveau in den USA und eventuell auch in Europa erhöhen und damit mehr Kapital in diese als sichere Häfen geltenden Finanzmärkte zurückfließen lassen. Die Folgen wären für die Schwellenländer Inflation und der Anstieg der Refinanzierungskosten, vor dem im Juni vorigen Jahres Jim Yong Kim, Präsident der Weltbank, noch kurz vor der ersten Ankündigung Bernankes zur Infragestellung der lockeren Geldpolitik gewarnt hatte.

Die Konsequenzen konnten bereits in den vergangenen Wochen beobachtet werden. So mussten viele osteuropäische, asiatische und lateinamerikanische Staaten teilweise drastische Abwertungen ihrer Währungen hinnehmen. Der argentinische Peso etwa verlor innerhalb einer Woche 15 Prozent seines Wertes und sowohl der russische Rubel als auch der ungarische Forint sanken bis Ende Januar auf Allzeittiefs gegenüber dem Euro-Wechselkurs. Mit noch größerer Sorge betrachten die Analysten die von der Investmentbank Morgan Stanley identifizierten Staaten der »Gruppe der fragilen Fünf«, bestehend aus der Türkei, Indonesien, Indien, Brasilien und Südafrika, deren Leistungsbilanzdefizite weit über dem Durchschnitt der Schwellenländer liegen und deren Refinanzierungskosten dementsprechend exorbitant hoch sind. Die Türkei etwa muss jährlich fast 25 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes für die Refinanzierung aufbringen, im Falle Brasiliens sind es lediglich drei Prozent weniger. Es überrascht so kaum, dass der südafrikanische Rand auf das geringste Niveau seit 2008 abgewertet wurde, die türkische Lira über sieben und die indische Rupie gar fast zehn Prozent ihres Wertes verlor. Der brasilianische Real soll nach beispiellosen Preissteigerungen vor allem für Konsumgüter schon den Beinamen »Surreal« erhalten haben.
Auch die Erhöhung der Leitzinssätze in den betroffenen Ländern konnte keine Umkehr dieser Inflationstendenzen bringen, die schon wegen der Kursverfälle die Refinanzierungskosten in die Höhe getrieben haben. So hat die türkische Zentralbank diesen von 4,5 auf zehn Prozent mehr als verdoppelt, ohne dass eine Aufwertung der Lira erreicht werden konnte. In Südafrika und Indien haben die moderaten Anhebungen des Leitzinssatzes um 0,5 beziehungsweise 0,25 Prozent bisher nicht einmal ein Einfrieren des Kursstandes der Währungen gebracht. Und schon jetzt deutet sich an, dass auch die Zinsen für Anleihen künftig deutlich nach oben korrigiert werden müssen, um überhaupt noch Anleger finden zu können. Langsam macht sich Panik breit. Rag­huram Rajan, Gouverneur der indischen Notenbank, geht davon aus, dass unabhängig von allen Maßnahmen der Verbraucherpreisindex »weiterhin auf einem erhöhten, fast zweistelligen Niveau« verharren werde.

Dass eine im Gegensatz zum »Volcker-Schock« so geringfügige Veränderung der Politik der US-Notenbank schon solche dramatischen Konsequenzen haben kann, verdeutlicht, wie fragil derzeit die Wirtschaft in den bisherigen Wachstumsmärkten der Schwellenländer ist. Sie trifft kriselnde Nationalökonomien. So waren die Wachstumsraten der Schwellenländer im Mittel im vergangenen Jahr von den durchschnittlichen 6,5 der vergangenen zehn Jahre auf drei Prozent gesunken. Und die im britischen FTSE-Börsenindex für Schwellenländer enthaltenen Werte, die zwischen Anfang 2005 und Mitte 2011 noch um 188 Prozent gestiegen waren, brachen im Verlauf der letzten zwölf Monate um rund zehn Prozent ein. In Indien hat sich das Wirtschaftswachstum 2013 im Vergleich zum Vorjahr halbiert und in der ehemaligen Wachstumslokomotive Brasilien lag es bei nur noch 0,5 Prozent. Nicht besser und teilweise schlimmer sieht es in den Ländern aus, in denen auch politisch die Lage instabil wird: in der Türkei, Ägypten, Venezuela, Nigeria und der Ukraine zum Beispiel. Im vergangenen Jahr hatte Albert Edwards, der Aktienmarktstratege der Société Générale, das Kürzel BRIC aufgrund der permanenten Schaffung von Leistungsbilanzdefiziten zu einer lächerlichen Anlagestrategie umgedeutet: »Bloody Ridiculous Investment Concept«. Möglich, dass es keines neuen Volckers bedarf, um das Kartenhaus der auf gigantischen Massen fiktiven Kapitals aufgebauten Weltwirtschaft erneut einstürzen zu lassen, wenn auch nur einige US-Dollars weniger die Welt überfluten würden.