Abdruck aus: »Taksim ist überall. Die Gezi-Bewegung und die Zukunft der Türkei«

»Der Staat hat hier nichts zu sagen«

Ansichten aus einer neuen Türkei.

Gewählt hat Boysan Yakar niemand zur »Miss Gezi«. Er hat sich selbst ernannt. Bei dem Gay Pride Anfang Juli gehört er zu den Cheerleadern, die mit Megafon die Demonstranten anfeuern. 80 000 Leute sind gekommen, vielleicht sogar 100 000. Zwei Wochen nach der Räumung des Gezi-Parks erlebt İstanbul den größten Gay Pride der Geschichte – und die lauteste und fröhlichste Demonstration des Jahres. Mit den Schwulen, Lesben, Bi- und Transsexuellen laufen Linke, Liberale und Fußballfans. Für viele Heteros ist es der erste Gay Pride. Vereinzelt sieht man rote Fahnen, aber keine einzige türkische Nationalflagge. Das Stadtzentrum gehört an diesem Tag den Regenbogenfarben.
Boysan ist 29 Jahre alt, kommt aus einer Offiziersfamilie, die ursprünglich vom Balkan stammt, wuchs in Ankara und İstanbul auf und arbeitet als Werbetexter. Er gehört zu den Sprechern der İstanbuler LGBT-Vereinigung Lambda. Zum Gay Pride trägt er ein dunkelgrünes Kleid mit großen Bommeln und tiefem Dekolleté, das seine behaarte Brust zeigt. An eine Schulter hat er eine Brosche aus Gestrüpp angeheftet, über der anderen hängt ein gekrümmter Ast, so breit wie ein Kinderarm. Boysan, der wandelnde Baum. Dazu trägt er Symbole des Widerstands: Atemschutzmaske, Taucherbrille, Bauhelm, standesgemäß in Pink. Mit seinen 1,87 Meter ragt er aus der Menge heraus.
Drei Stunden braucht der Umzug für die anderthalb Kilometer vom Taksim-Platz hinunter zum kleinen Platz vor der U-Bahn. Drei Stunden, in denen Boysan keine Minute still ist. »Wo bist du, Liebster?«, fragt er die Menge mal hysterisch, mal schmachtend, dann wieder im strengen tiefen Tonfall. »Hier bin ich, Liebster«, schallt es zurück. Eine Parole, die der Gezi-Protest hervorgebracht hat. Klischeehafter türkischer Homoslang und nicht allzu sinnvoll. Oder vielleicht doch: Ich bin schwul, ich bin lesbisch. Ich bin hier. Wir sind hier. Der Hashtag des Tages lautet denn auch: #DirenAyol (frei übersetzt: »Kämpfe, Darling«). Parolen und Chorgesänge der türkischen Homobewegung wechseln sich ab mit Sprüchen aus Gezi. Ganz klar: Der Gay Pride ist Teil der Gezi-Bewegung.
Am Tünel-Platz hält Boysan die Abschlussrede. Nur mit Mühe gelingt es ihm und seinen Mitstreitern, wenigstens die Umstehenden dazu zu bringen, sich aufs Straßenpflaster zu setzen. Die Rede ist humorloser als die vorige Performance, Boysan blickt nun mit dem grimmigen Ernst eines Gewerkschaftsführers. »Im Gezi-Park haben wir die Erfahrung gemacht, dass wir gemeinsam für ein Leben in Würde und eine Welt ohne Klassen und Ausbeutung kämpfen können«, brüllt er ins Megafon. Allzu viele Menschen hören ihn nicht. Weiter unten sind die aus Diyarbakır angereisten LGBT-Leute zu dem übergegangen, was kurdische Oppositionelle am liebsten auf Demos tun: Sie tanzen Halay.
Nach seiner Rede hält Boysan einigen türkischen und deutschen Abgeordneten das Megafon hin. Dann ist der offizielle Teil beendet, und er fällt erschöpft seiner Schwester in die Arme. Eine lange, tränenreiche Umarmung. Sie ist stolz auf ihn. Und er glücklich, dass seine Familie dabei ist. Boysans Mutter ist aktiv in der LGBT-Familiengruppe und seit sein Vater im Ruhestand ist, hat auch er Boysans Homosexualität akzeptiert. »Seit dem 1. Mai 2002 in Ankara laufen Homos beim 1. Mai mit, seit 2003 gibt es einen Gay Pride in İstanbul, der mit 30 Teilnehmern begann und zuletzt auf 20 000 gewachsen war«, erzählt Boysan später. »Doch so eine Anerkennung wie bei Gezi hat die türkische Homobewegung nie zuvor erlebt. Aber Gezi war für uns nicht Mittel zum Zweck. Uns ging es auch um den Park. Das war eine cruising area, unser Park. Darum waren wir von Anfang an dabei.« Während der Besetzung des Gezi-Parks geht es bei den Zelten der Homos so laut zu wie sonst nur bei den Fußballfans und in der Ecke der Kurden. Und bei den Auseinandersetzungen mit der Polizei sind sie ebenfalls dabei. Mal harrt eine Gruppe von Homos friedlich vor einem Wasserwerfer aus, an anderer Stelle weht eine Regenbogenfahne zwischen Leuten, die hinter einer Barrikade verschanzt die Tränengaskartuschen zurückwerfen.
Ein halbes Jahr später in einem Café in Şişli: Boysan trägt Vollbart und entledigt sich erstmal einiger Schichten seines Hipster-Zwiebel-Looks. Nur die bunt gemusterte Mütze lässt er an. Wieder ist er ein bisschen erschöpft, diesmal allerdings vom Wochenende. »Dabei geh ich nicht mehr so oft aus wie früher«, erzählt er. »Ich will in einem Club, in den ich seit zehn Jahren gehe, keine 30 Lira Eintritt mehr bezahlen. Das nennen wir die Schwulensteuer. Die Clubs und Bars nutzen es schamlos aus, dass es nicht so viele Orte gibt, wo wir uns als Schwule frei bewegen können. Manche LGBT-Aktivisten versuchen, das im Gespräch mit den Betreibern zu lösen. Ich mache Ärger.«
So eloquent und sanft, wie er redet, kann man sich das kaum vorstellen. Aber Ärger ist ein gutes Stichwort. Warum hat die Polizei den Gay Pride und den Trans Pride eine Woche zuvor in Ruhe gelassen, wo sie sonst seit der Räumung des Parks ziemlich jede Kundgebung in Taksim attackiert hat? »Uns anzugreifen hätte bedeutet, uns als politisches Subjekt anzuerkennen«, sagt Boysan. Dabei habe die AKP sehr wohl eine Homopolitik: »2007 hat das Innenministerium ein Verbotsverfahren gegen Lambda eröffnet, weil der Vereinszweck gegen Moral und Sitten verstoßen würde. In der ersten Instanz wurde dem stattgegeben, erst der Kassationshof hat dieses Urteil aufgehoben. Und immer wieder haben Politiker der AKP gesagt, was sie von Homosexualität halten – zuletzt zwei Tage vor Beginn von Gezi.«
An jenem Tag berät das Parlament über einen Vorschlag der Abgeordneten Binnaz Toprak von der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP. Sie fordert, eine Kommission einzurichten, die die Situation von Schwulen, Lesben und Transsexuellen untersuchen soll. Ihre Fraktion unterstützt sie, ebenso die prokurdische Partei für Frieden und Demokratie (BDP), für die Ertuğrul Kürkçü, ein Wortführer der Achtundsechziger, an das Pult tritt und eine, wie Boysan findet, historische Rede hält. Doch der Vorschlag wird mit den Stimmen der AKP und der MHP abgelehnt, wobei die Abgeordnete Türkan Dağoğlu im Namen der AKP erklärt, dass Homosexualität eine gesellschaftszersetzende Krankheit sei. »Wir haben da wieder einmal gesehen, dass wir in diesem Land systematisch ausgegrenzt werden«, sagt Boysan. »Dieser Parlamentsbeschluss hat dazu beigetragen, dass sich so viele LGBT-Leute den Protesten angeschlossen haben.«
Dann schildert er, wie er deren Beginn erlebt hat. »Wir waren die ganze Nacht unterwegs. Nachdem sich die Polizei zurückzog, haben wir uns in den Räumen von Lambda gesammelt, die in einer Seitengasse der İstiklal liegen. Alle waren euphorisch. Da kam die Idee, in den Gezi-Park zu gehen. Wir liefen mit hundert Leuten raus und es war, als würde Moses durchs Rote Meer laufen: Die Leute wichen zur Seite und haben geklatscht. Es war unglaublich.«
Ein paar Tage später, als in Beşiktaş schwere Straßenschlachten toben, ist Boysan mit ein paar Freunden unterwegs, ausgestattet mit einer Regenbogenfahne und Medikamenten. Sie versorgen Leute, waschen die vom Tränengas mitgenommen Gesichter ab. »Wir haben dabei gewitzelt, wie erotisch das Ganze ist und wir Männer betatschen, die uns sonst nie ranlassen würden, so von wegen: ›Siehst du den Hübschen da vorn, dem habe ich vorhin die Brust mit Talcid-Lösung eingerieben.‹ Natürlich war das scherzhaft, aber das haben wir von unseren älteren Trans-Schwestern gelernt: Du wirst geschlagen und gedemütigt, deine Familie verstößt dich, niemand liebt dich, alles ist beschissen. Und genau darum musst du immer über alles laut lachen können. ›Gullüm‹ nennen wir das in Lubunca.« Das ist der Slang der transsexuellen Subkultur, die vor allem auf dem İstanbuler Romani beruht.
Nach der Räumung des Parks klappern Boysan und seine Freunde alle Parkforen ab, von denen hier noch die Rede sein wird. Dort sagt er: »Ihr kennt ja alle die Medienberichte, dass im Park benutzte Kondome gefunden wurden. Ich gestehe: Das war ich. Ich hatte im Zelt Sex, ich hatte sogar schwulen Sex.« Jedes Mal hätten die Leute gejubelt, erzählt Boysan. »Solche schön-verrückten Geschichten haben wir alle erlebt.«
Er ist davon überzeugt, dass diese Erfahrungen bleiben werden. Vor zwei Jahren fragten Sozialwissenschaftler der Universität Bahçeşehir in einer repräsentativen Umfrage: Wen möchten Sie nicht zum Nachbarn haben? Mit 87 Prozent an erster Stelle landeten die Homosex­uellen. »Nach Gezi haben wir diesen Wert zumindest in İstanbul auf 60, 70 Prozent gesenkt«, glaubt Boysan. »Das ist ein Erfolg, auch wenn ich Depp während Gezi wirklich dachte, dass wir Revolution machen. Das war es nicht. Aber wie die Zeitschrift Kaldıraç so schön geschrieben hat: Wir haben in Taksim ein Augenzwinkern der Revolution gesehen.«
Und jetzt würden sie die »Revolution« an anderer Stelle fortsetzen. Nach Gezi treffen sich Boysan und andere Aktivisten mit dem CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu. Sie wollen bei der Kommunalwahl im März 2014 antreten, die CHP ist einverstanden. Boysan kandidiert für das Bezirksparlament von Şişli und hat gute Aussichten, als erster offen Schwuler ein politisches Mandat zu erringen, ebenso wie die beiden Lesben, die in Beyoğlu bzw. Beşiktaş antreten. »Ich habe noch nie die CHP gewählt und so ein Bezirksparlament hat nicht viele Befugnisse«, erzählt Boysan. »Aber es geht um Repräsentation. Ich sehe das so: Wir kämpfen um die Anerkennung, die man uns geraubt hat.« Mit welchem Ziel? Die Homo-Ehe? »Davon ist die Türkei weit entfernt«, sagt Boysan. »Vom Standpunkt der Gleichberechtigung ist diese Forderung nachvollziehbar. Aber aus der Queer-Perspektive finde ich das problematisch, dass sich die Homobewegung in Europa und den USA so darauf konzentriert hat. Die Homosexuellen passen sich konservativen Familienwerten an. Sie werden normal. Aber ich bin nicht normal und ich will auch nicht normal sein.«

»Rechenschaft für meine Tränen«

»Ich bin mit geschlossenen Augen durch die İstikal-Straße gelaufen. Weißt du, was das für eine Transfrau bedeutet?«, sagt Şevval Kılıç. »Ich hatte viel Tränengas abbekommen und konnte nichts mehr sehen. Aber wo ich sonst damit rechnen muss, dass mich jemand attackiert, konnte ich mich blind darauf verlassen, dass mir jemand helfen würde. Dann fassten mir Leute unter die Arme und trugen mich weg. Ich weiß nicht wer, es war egal. Und diesen Leuten war es egal, wer ich war. Ich habe mich nie im Leben so sicher gefühlt wie in diesem Moment.«
Nicht nur die Schwulen und Lesben, auch die Transsexuellen und Transvestiten hätten durch Gezi immense Anerkennung erfahren, erzählt Şevval. »So wie sich im Gezi-Park Leute bei den Schwulen entschuldigt haben, kamen irgendwelche White-Collar-Schwule zu Transfrauen, um sie um Entschuldigung dafür zu bitten, dass sie so transphob waren.« Ihr ist das nicht passiert. »Ich hätte denen gesagt: ›Du findest die Morde an Transsexuellen also nicht mehr gut? Na bravo!‹ Ich bin zu alt, um mir so einen Scheiß anzuhören.«
70 Morde an Transsexuellen und Transvestiten hat die in Ankara herausgegebene Zeitschrift Kaos GL seit dem Jahr 2002 gezählt, zuletzt im Sommer 2013 die 22-jährige Dora Özer im Badeort Kuşadası und die 40-jährige Gaye im İstanbuler Bezirk Beyoğlu. Die meisten waren Sexarbeiterinnen und wurden von Freiern oder ihren Lebensgefährten getötet, viele geradezu abgeschlachtet. Und in etlichen Fällen kamen die Mörder glimpflich davon.
Şevval ist 42 Jahre alt und stammt aus einer kemalistischen İstanbuler Mittelschichtfamilie. Sie verehrt Butler und Foucault und trägt Armeehose und Sweatshirt, was gut zu ihrer resoluten Art passt. »Ich bin halt so eine Trans«, sagt sie. Eine Zeit lang hat sie als Prostituierte gearbeitet. »Mit 18, 19 Jahren fing ich an, mich zu schminken und Frauenkleider zu tragen. Da war klar, dass ich mein Studium abhaken konnte und den Preis für dieses Leben zahlen musste: Sexarbeit. Anfangs dachte ich: Super, du schläfst mit einem Haufen Männer und verdienst dabei Geld. Das habe ich wirklich. Aber Sexarbeit ist Schwerstarbeit. An manchen Tagen hatte ich Sex mit 60, 70 Männern. Und die wollen keinen Ehe-Sex, die wollen Cirque du Soleil, darum kommen sie ja zu dir.«
Arbeiteten vor dem Putsch von 1980 noch viele Transsexuelle und Transvestiten als Animierdamen oder Sängerinnen, ist diese Beschäftigung inzwischen von der Junta untersagt, was sie scharenweise in die Prostitution treibt. In den achtziger Jahren entwickeln sich im Viertel Cihangir fünf, sechs Straßen zum Zentrum der İstanbuler Trans-Szene. »Lubunistan« nennen sie die Gegend nach der Selbstbezeichnung Lubunya. Als Şevval 1991 dort einzieht, ist »Lubunistan« auf die Ülker-Gasse geschrumpft, die vom Taksim-Platz steil hinunter zum Bosporus führt. 85 Transsexuelle und Transvestiten, 30 Häuser, alles Prostituierte. »Das war ein Ghetto«, sagt Şevval. »Wir waren total isoliert. Aber wir waren sicher und haben ein Kommuneleben geführt.« 1995 beginnen die Polizei und die von der islamistischen Wohlfahrtspartei geführte Bezirksverwaltung, die Bewohnerinnen zu terrorisieren. Fast jede Nacht brechen Polizisten in die Häuser ein, verprügeln die Bewohnerinnen oder verschleppen sie auf die Wache, wo sie sie drei Tage lang festhalten dürfen. Der Einsatzleiter Süleyman Ulusoy wird durch sein bevorzugtes Prügelinstrument berühmt: »Schlauch-Süleyman« wird er genannt. »Hätte ich es zulassen sollen, dass es heißt, die Polizei wird von Schwulen verprügelt?«, sagt er später in einem Interview mit der Hürriyet.
Bei der Säuberung der Ülker-Gasse greifen Schlägertrupps der MHP ein, während Nachbarn als Zeichen ihrer Unterstützung ihre Häuser mit türkischen Fahnen schmücken und die Polizisten anfeuern. Auf Seiten der Staatsmacht stehen auch Nachbarschaftsvereine, die ihr Viertel »verschönern« wollen – teilweise die identischen Vereinigungen, die fast zwanzig Jahre später mit den Transsexuellen und allen anderen den Gezi-Park verteidigen werden.
Im Nachhinein kann man sagen, dass die Räumung der Ülker-Gasse den Beginn der brachialen Umstrukturierung İstanbuls markiert hat – und den Beginn des Widerstands dagegen. Doch 1996 interessiert sich niemand dafür. Mit zwei Ausnahmen: Eren Keskin, zu dieser Zeit Leiterin der örtlichen Sektion des Menschenrechtsvereins, die sich, gegen den Widerstand in den eigenen Reihen, der Transsexuellen annimmt. Und die damals 25 Jahre alte Pınar Selek, die das Leben in der Ülker-Gasse begleitet und aufschreibt – jene Soziologin, die Anfang 2013 am Ende eines langen und grotesken Prozesses wegen eines Bombenanschlags, der keiner war, zu lebenslanger Haft verurteilt wurde.
Bei der endgültigen Räumung der Ülker-Gasse lebt Şevval nicht mehr dort. Nach ihrer Geschlechtsanpassung findet sie einen Job bei einer Gesundheitsstiftung, für die sie bis heute tätig ist. »Ich hatte Glück«, sagt sie. »Ich habe einen sozialversicherten Job, ich verstehe mich gut mit meiner Familie und ich habe 17 Jahre in einer festen Beziehung gelebt. Das können nicht viele Transfrauen von sich behaupten.«
Zum Beispiel Asya Elmas nicht. Sie ist 32 Jahre alt und kam als sechstes von zwölf Kindern einer kurdischen Familie in der Provinz Mardin auf die Welt. Kontakt hat sie nur zu zwei Brüdern. »Wenn meine Familie in İstanbul oder in Diyarbakır leben würde, wäre das bestimmt anders. Aber sie wohnen in einer Kleinstadt und fragen ständig: ›Was werden die Leute sagen?‹« An diesem Dezemberabend sitzt sie im »Şarlo«, einer von LGBT-Aktivisten geführten Bar in Beyoğlu. Dunkelblond gefärbte Haare, dezentes Make-up, glitzerndes Oberteil.
Asya kam im Jahr 2000 nach İstanbul. Ihre ersten Freier fand sie im Gezi-Park, später arbeitete sie in Industrievierteln und auf abgelegenen Lkw-Parkplätzen. Jetzt geht sie auf den Straßenstrich in Fındıkzade am Rand der historischen Altstadt. Zuhälter sind unter Transsexuellen unüblich, Asya teilt sich mit 15 Transfrauen ein Haus, in das sie ihre Kunden mitnehmen. Inzwischen betrachtet sie sich als Zwangsprostituierte. »Ich will etwas anderes machen, aber als Transfrau ist es fast unmöglich, einen Job zu finden«, sagt sie. Auch nicht in Beyoğlu, in einer dieser von Linken oder Liberalen betriebenen Bars oder Werbeagenturen? »Diese Leute sind nur zu sich selbst sozialistisch, nur zu sich selbst demokratisch oder nur zu sich selbst muslimisch. Mit ihrem wirklichen Leben haben ihre schönen Ideologien nichts zu tun.«
Wenn man Asya reden hört, glaubt man kaum, dass sie nur die achtjährige Mittelstufe besucht hat. Noch weniger glaubt man, dass sie erst seit Gezi politisch tätig ist. »Ich bin Transfrau und Kurdin, natürlich war ich vorher schon politisch«, sagt sie. »Ich hatte vor ein paar Jahren Kontakt mit einem Verein, der sich um Transsexuelle und Transvestiten kümmert. Dann kam ich mit einem Mann zusammen, der mir das Leben zur Hölle gemacht hat. Er hatte nichts dagegen, dass ich anschaffen gehe, da kam ja Geld rein. Aber sonst wollte er mir alles verbieten. Erst ein paar Wochen vor Gezi kam ich von ihm los.«
Seither ist sie umso aktiver. So ist sie dabei, als sich im Sommer 2013 die Initiative Hêvî LGBT gründet – um einen Beitrag zur kurdischen Bewegung zu leisten und um gegen die Homo- und Transphobie in der kurdischen Gesellschaft zu kämpfen. Hêvî bedeutet »Hoffnung«. Die politische Führung der Kurden habe dazugelernt, aber in der Bevölkerung sei es schwierig, erzählt Asya. »Ich gebe es ja nicht gern zu, aber in kemalistischen Vierteln können wir uns etwas freier bewegen.«
Im Herbst 2013 fährt sie zum Gründungskongress der Demokratischen Partei der Völker (HDP), einem Ableger der prokurdischen BDP, die künftig als rainbow coalition im Westen des Landes antreten wird. Ebenso wie Şevval kandidiert Asya für die HDP für ein Bezirksparlament; Şevval in Şişli, wo Boysan Yakar für die CHP antritt, Asya in Beyoğlu. Am 28. Dezember, dem Jahrestag des Massakers im kurdischen Dorf Roboski, erklärt sie mit anderen Aktivisten ihre Kriegsdienstverweigerung. Sie ist keine Pazifistin, aber diesem Staat will sie nicht dienen. Ein symbolischer Akt. Denn der Militärdienst ist zwar obligatorisch, aber Homo- und Transsexuelle werden ausgemustert. »Treffen hier, Aktion dort, anschaffen gehen – furchtbar«, seufzt Asya. Doch man merkt, dass sie diesen Trubel genießt.
Denn Asya weiß, warum sie all das macht: »Ich wurde oft von der Polizei verprügelt. Einmal auf dem Präsidium. Ich lag auf dem Boden, und 10, 15 Männer traten auf mich ein, trampelten auf meinen Kopf und riefen, ich würde nichts anderes verdienen.« Zehn Jahre ist das her, Asya hatte an jenem Abend eine Transfreundin begleitet, die eine Aussage machen wollte, weil sie angeschossen worden war. Allerdings seien nicht alle Polizisten so feindlich, die Beamten in ihrem Viertel etwa seien in Ordnung. »Einmal riefen wir nach einem Streit mit Freiern die Polizei. Auf der Wache sagte ein Polizist zu diesen Männern: ›Ihr habt kein Recht, diese Menschen zu schlagen, nur weil sie Transsexuelle sind.‹ Einer dieser Typen hat geantwortet: ›Wieso? Das macht ihr doch dauernd.‹ Die Leute orientieren sich am Staat. Wenn der uns humaner behandeln würde, würden Homophobie und Transphobie nicht verschwinden, aber auf ein Maß zurückgehen wie heute in Europa.«
Genau diese Hoffnung habe die AKP anfangs geweckt, meint Asya auf eine Bemerkung von Erdoğan aus dem Jahr 2002 anspielend, als dieser sagte, man müsse die Rechte der Homosexuellen gewährleisten. Tatsächlich sei unter der AKP die Polizeigewalt seltener geworden. Aber dafür würden Transsexuelle häufiger schikaniert. »Die Polizei wirft dir so was wie Behinderung des Straßenverkehrs vor und kassiert alles ein, was du bei dir hast. Ich bin zweimal weinend nach Hause gelaufen, weil sie mir das ganze Geld weggenommen haben, das ich über die Feiertage verdient hatte. Darum war ich bei den Protesten im Gezi-Park: um Rechenschaft für meine Tränen zu verlangen.«

Die Barrikadenmädchen

Gazi ist berühmt, weit über die Grenzen der Stadt hinaus. Aber so geläufig der Name des Viertels auch ist, nur die wenigsten İstanbuler dürften genau wissen, wo Gazi liegt, geschweige denn, dass sie jemals dort gewesen wären.
Wenn die in Dutzende legale und illegale Fraktionen zerfallene radikale Linke in der Türkei noch eine Massenbasis hat, dann in solchen, mehrheitlich von Aleviten bewohnten Vierteln der Großstädte. In Küçükarmutlu etwa, einem Armenviertel mit Bosporus-Panorama. Oder im Viertel Mustafa Kemal im anatolischen Teil İstanbuls, das im Sommer 1977 entstand, als maoistische Aktivisten mit Einwanderern aus Anatolien dieses Stück Land besetzten. Bir Mayıs, Erster Mai, tauften sie die Siedlung in Erinnerung an das Massaker vom Taksim-Platz einige Monate zuvor, und noch heute ist das Viertel, das aus diesen Elendsbehausungen hervorging, unter diesem Namen bekannt. Am 2. Juni 2013 starb dort der 20-jährige Mehmet Ayvalıtaş, ein Aktivist der Sozialistischen Solidaritätsplattform (Sodap), der zuletzt als Kellner gearbeitet hatte. Als er mit einer Gruppe von einigen hundert Leuten die Stadtautobahn blockieren wollte, wurde er von einem Auto erfasst – der erste Tote der Gezi-Proteste.
Das mit über 200 000 Einwohnern größte und mit Abstand berühmteste aufrührerische Viertel ist jedoch Gazi am nordwestlichen Stadtrand. »Wenn du aus Gazi kommst, bist du gebrandmarkt«, sagt Arzu. »Wenn sich Leute von hier woanders um einen Job bewerben, sagen sie nicht, dass sie aus Gazi kommen.« Aber, fügt sie hinzu, wer in Gazi aufwachse, lerne, mit den Widrigkeiten des Lebens klarzukommen und sich zu wehren. Arzu ist Jahrgang 1987, wuchs in einer alevitischen Familie in Gazi auf und hat im zentralanatolischen Sivas Kommunalverwaltung studiert. Einer Erwerbsarbeit geht sie nicht nach. »Ich bin Berufsrevolutionärin«, sagt sie lächelnd. Mit ihren rotbraunen Locken und dem farbenfrohen Kostüm wirkt Arzu nicht wie eine dieser Aktivistinnen, die man in der İstiklal-Straße trifft, wo sie mit verkniffener Miene linke Zeitschriften verkaufen. Doch das mit der Berufsrevolutionärin meint sie ernst.
Als Mitglieder »marginaler Gruppen« hat Erdoğan die Leute vom Gezi-Park oft beschimpft. In Wirklichkeit haben diese Gruppen, die weit davon entfernt sind, solche Menschenmengen zu mobilisieren, die Proteste weder initiiert noch dominiert. Aber dass es der Polizei nicht gelang, sie im Keim zu ersticken, lag auch an den jungen Militanten aus Vierteln wie Gazi. Leuten wie Arzu, die zur Unterstützung zum Taksim-Platz eilten. »Diren Gezi, Gazi geliyor!«, riefen sie. »Kämpfe, Gezi, Gazi kommt!«
»Das war eine merkwürdige Szenerie«, erzählt Arzu. »Leute mit professionellen Gasmasken, schick gekleidete Frauen, die mit ihren Smartphones Fotos machen. Dafür haben wir denen etwas anderes gezeigt. Ich glaube, alle Barrikaden am Tarlabaşı-Boulevard haben Leute aus Gazi gebaut.« Nachdem sich die Lage am Taksim-Platz beruhigt, demonstrieren die Leute aus Gazi in ihrem Viertel weiter. In der Nacht, als der Gezi-Park geräumt wird, machen sich 10 000 bis 20 000 Menschen auf den Weg zum Taksim-Platz. Zwanzig Kilometer sind es von hier. Sie laufen über die Stadtautobahn und werden erst in Okmeydanı, fünf Kilometer von Taksim entfernt, von der Polizei gestoppt. Es wird einer der heftigsten Kämpfe der Nacht.
»Vor den Gezi-Protesten gab es eine gegenseitige Geringschätzung: Die jungen Leute aus den reichen Vierteln haben uns belächelt, weil sie uns für arme Träumer hielten. Und ich habe auf diese Leute herabgeschaut, weil ich dachte, sie könnten nicht kämpfen. Das denke ich nicht mehr. Und ich glaube, dass auch diese Leute ihre Meinung über uns geändert haben. Zumindest in meiner Generation sind wir einander nicht mehr so fremd.«
Dabei ist Arzu nicht oft in Taksim, und wenn, dann meist nur aus politischen Gründen, zu Demonstrationen und Veranstaltungen. Dann erzählt sie von ihrem ersten Besuch dort: »Ich war 15 oder 16 und bin mit einer Freundin von Şişli nach Taksim gelaufen. Ich weiß noch, wie fremd mir das alles vorkam: die vielen Menschen, die Kirchen – ich hatte noch nie eine Kirche gesehen –, ein Brunnen, aus dem Wasser sprudelte … Und alle Leute schienen so glücklich zu sein. Ganz anders als bei uns.« Ähnlich erging es ihrer Freundin Alev. Sie ist Jahrgang 1991, studiert Volkswirtschaft, trägt Lederbändchen an Hals und Armen und ein Nasenpiercing. »Die Leute in Taksim sind anders«, sagt sie. »Wie sie reden, sich bewegen, sogar die Art, wie sie ihre Zigaretten halten.« Aber, springt Arzu ein, »wenn du dich politisch organisierst, gibt dir das Selbstvertrauen. Ich fühle mich in Taksim nicht mehr unterlegen.« Dort auszugehen, können sie sich aber nur selten leisten, erzählt Alev. »Wir sind in Gazi, in Vereinen, Cafés oder im Sommer draußen am Alibeyköy-Stausee. Wer Gazi nicht kennt, wird sich vielleicht wundern, aber hier gibt es ein Leben.«
Tatsächlich ist Gazi kein Slum mehr wie noch vor zwanzig Jahren. Zwar gibt es an den Rändern neuere Gecekondus, also illegal errichtete Behausungen, die wie ein anatolisches Dorf anmuten. Das Zentrum von Gazi aber dominieren die typischen türkischen Wohngebäude. Viele alte Bewohner haben es zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht und sei es, indem sie ihr Grundstück einem Bauherrn überließen. So sind in den vergangenen dreißig Jahren viele Arbeiterviertel gewachsen: Der Eigentümer eines – oft genug zunächst illegal bebauten – Grundstücks überlässt das Areal einem Bauherrn, der schnell und billig ein mehrstöckiges Gebäude hochzieht. Der Investor trägt die Kosten, die neu geschaffenen Wohn- und Geschäftsräume – selbst in einfachen Wohngegenden sind oft Läden untergebracht – werden zwischen ihm und dem Grundstückseigentümer aufgeteilt.
Auf den ersten Blick unterscheidet sich das Zentrum von Gazi nicht von anderen Arbeitervierteln. Der einzige Unterschied, der sofort auffällt: Es gibt kaum eine Wand, die nicht mit politischen Plakaten beklebt oder nicht mit Parolen oder den Kürzeln linksradikaler Organisationen bemalt wäre. Hier gibt es keine Trupps, die die Wände übertünchen. Auch die Polizei rückt in Gazi nur selten aus und dann nur schwer bewaffnet und in Kompaniestärke.
»Der Staat hat hier nichts zu sagen«, sagt Yeşim stolz. »Hier kann man auch nach 22 Uhr an jedem Kiosk Alkohol kaufen und in Cafés rauchen. Und niemand geht zur Polizei, wenn er ein Problem hat. Die Leute wenden sich stattdessen an die politischen Gruppen.« Yeşim ist 37 Jahre alt und stammt weder aus einer alevitischen Familie, noch ist sie in Gazi aufgewachsen. Sie kam Mitte der Neunziger aus Kadıköy, weil die politische Atmosphäre sie reizte. »Anfangs dachte ich wirklich, dass Gazi eine befreite Zone ist. Aber im Kapitalismus gibt es keine befreiten Zonen, auch diese Menschen müssen ihr Brot verdienen.« Yeşim, die eine Universität abgeschlossen und als Journalistin gearbeitet hat, kümmert sich derzeit nur um ihre siebenjährige Tochter und um Politik. Ihr Mann ist berufstätig, sie kommen über die Runden.
Ist eine Gesellschaft ohne staatliche Ordnung kein Rückfall in die Barbarei? »In Gazi steht der Staat nicht für Zivilisation, für uns gelten alle Rechte nur auf dem Papier«, antwortet Yeşim. »Vor ein paar Tagen kam eine Frau zu uns, weil sie ständig von ihrem Mann geschlagen wurde. Wir haben versucht, zwischen den Ehepartnern zu vermitteln. Das machen wir immer so. Aber wenn nichts mehr zu retten ist, unterstützen wir die Frauen, ein neues Leben aufzubauen, und helfen notfalls nach, damit ihre Männer sie in Ruhe lassen. Die Polizei würde nur ein Protokoll aufnehmen und die Frauen wieder wegschicken.« Erst auf Nachfrage räumt Yeşim ein, dass der Staat auch in Gazi nicht ganz abwesend ist. »Aber die Stadtverwaltung tut hier nur das Notwendigste«, sagt sie. »Unser Müll wird selten abgeholt, unsere Straßen sind viel schlechter als in jedem armen AKP-Viertel, obwohl wir genauso Steuern zahlen.« Dafür kämpfen die politischen Organisationen gegen das, was auch Arzu, Alev und Yeşim »Verwahrlosung« nennen: Drogenhandel, Prostitution, Kriminalität. Sie sind davon überzeugt, dass der Staat die kriminellen Banden duldet oder gar unterstützt, um den Widerstandsgeist des Viertels zu brechen. Davon lassen sie sich auch nicht durch den Hinweis auf die gelegentlichen Razzien gegen Drogenbanden beirren. »Alles nur Show«, sagt Yeşim verächtlich.
Auch in einer weiteren Hinsicht unterscheidet sich Gazi von anderen Kleine-Leute-Vierteln der Stadt: Hier gibt es Cafés und Bars, in denen Alkohol ausgeschenkt wird und in denen sich meist junge Männer und Frauen zusammen vergnügen. Und in Gazi hat so ziemlich jede linke Organisation eigene Vereinsräume und Treffpunkte, die illegalen wie die legalen, so auch die SYKP, der Alev und Arzu angehören. Die »Partei der Sozialistischen Neugründung« entstand als Zusammenschluss mehrerer kleiner linker Gruppen und ist ihrerseits Bestandteil der neuen Demokratischen Partei der Völker (HDP), der auch Sırrı Süreyya Önder angehört. Einer der Co-Vorsitzenden der HDP, der Abgeordnete Ertuğrul Kürkçü, steht der SYKP nahe.
Die im Sommer 2013 gegründete SYKP ist der jüngste Versuch, die türkische Linke zu einen. Sie darf sich rühmen, die Forderung der Gezi-Proteste auf die knappste Formulierung gebracht zu haben: »Halt die Klappe, Tayyip«, stand auf einem riesigen Transparent, das Aktivisten der SYKP am Atatürk-Kulturzentrum befestigt hatten, unterzeichnet mit dem Parteilogo, einem fünfzackigen Stern in den Farben rot, grün und lila. »Für mich sind alle drei Farben unseres Parteilogos wichtig: Rot steht für Sozialismus, lila für Feminismus und grün für Ökologie«, erzählt Alev. Und darum sei es im Gezi-Park gegangen: die Privatisierung kommunalen Eigentums, den Abriss einer Grünanlage und – wenn auch indirekt – um die staatlichen Einmischungen ins Privatleben. »Kein Politiker hat mir vorzuschreiben, wie ich mich anziehe, mit wem ich zusammen lebe, mit wem ich schlafe und ob und wie viele Kinder ich auf die Welt bringe«, sagt Alev bestimmt. Die beiden anderen nicken. Was sagen sie dazu, dass Frauen aus reichen Stadtteilen dieselbe Kritik an der Regierung formulieren? »Ja, manche Dinge betreffen alle Frauen«, antwortet Yeşim. Jedoch gebe es, so fügt sie hinzu, auch in dieser Hinsicht Klassenunterschiede. »Eine Frau aus dem Bürgertum kann nach der zehnten Schwangerschaftswoche problemlos in einer Privatklinik eine Abtreibung vornehmen lassen. Für eine Arbeiterin bedeuten diese Kosten ein Vermögen.« Falsch ist dieser Hinweis nicht. Und doch klingt es so, als kämpfe sie um ihr Weltbild, in dem stets Kapitalismus und Imperialismus für alles Böse stehen.
Und kann sich sonst jemand in diese Dinge einmischen, ihre Partei etwa? »Nein, niemand«, sagt Alev trotzig. »Es gibt Organisationen, die sich in die Liebesbeziehungen ihrer Mitglieder einmischen oder ihren Aktivistinnen Make-up verbieten. Aber einer solchen Organisation würde ich niemals beitreten.« Alev und Arzu betonen immer wieder, wie wichtig ihnen ihre persönliche Freiheit ist. Dazu gehört, dass sie nicht mehr bei ihren Eltern wohnen – keine Selbstverständlichkeit in der Türkei, wo junge Leute traditionell ihr Elternhaus erst verlassen, wenn sie heiraten oder zum Studieren oder Arbeiten wegziehen.
Die beiden leben mit zwei weiteren Freunden in einer Wohngemeinschaft. »Es war ein harter Kampf mit meiner Familie, bis sie akzeptiert hat, dass ich ausziehe«, erzählt Arzu. »Aber sie würden es nicht akzeptieren, wenn sie wüssten, dass ich mit Männern zusammenwohne.« Und wie viel Freiheit erlaubt ihnen ihr fast polizeifreier Stadtteil? »Man muss schon darauf achten, was man anzieht«, antwortet Alev. »Mit einem Minirock wirst du hier schief angeguckt.« Woran das liegt? Zum einen seien in den vergangenen zwanzig Jahren viele arme sunnitische Kurden hergezogen, erläutert Yeşim. Seither habe die PKK hier viele Sympathisanten, aber die Atmosphäre sei konservativer geworden. Zudem seien die Aleviten einem Assimilierungsdruck ausgesetzt. »Bei Bestattungsfeiern im alevitischen Cem-Haus sitzen Männer und Frauen getrennt. So was gab es früher nicht.«
Schließlich seien die Linken konservativer als früher. »Das ist die Folge eines weltweiten Glaubwürdigkeitsverlusts«, sagt Yeşim. »Um die Menschen zu erreichen, passen wir uns ihren kulturellen Normen an. Wir diskutieren zwar ständig, wie viel Anpassung nötig ist, aber klar ist: Wenn ich in Gazi Politik machen will, kann ich nicht mit Spaghettiträgern rumlaufen. Auch für Schwule und Lesben ist Gazi alles andere als eine befreite Zone.« Stolz klingt sie jetzt nicht mehr.
Könnte es sein, dass einer dieser selbsternannten Ordnungshüter plötzlich meint, dass ihre gemischte Wohngemeinschaft gegen die Sitten verstößt und vor ihrer Tür steht? Immerhin stürmen immer wieder Linksradikale irgendwelche Wohnungen, von denen sie glauben, dass dort Prostitution betrieben wird. »So konservativ, eine gemischte Wohngemeinschaft für unanständig zu halten, ist keine revolutionäre Gruppe«, wehrt Arzu ab. Und wenn doch? »Das würden die sich nicht trauen. Denn die sind zwar organisiert. Aber wir sind es auch.«

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Deniz Yücel: Taksim ist überall. Die Gezi-Bewegung und die Zukunft der Türkei. Edition Nautilus, Hamburg 2014, 224 Seiten, 12,90 Euro. Das Buch ist soeben erschienen.