Platte Buch.

Vermisste Fälle

Israel ist kein Krimi-Land. Das Genre spielt in der hebräischen Literatur so gut wie keine Rolle, mit Ausnahme der Jerusalem-Krimis der 2005 verstorbenen Batya Gur, die ziemlich spät, nämlich 1988 die erste Autorin überhaupt war, die in Israel mit einem Krimi bekannt wurde. Krimi-Experten wie der in Tel Aviv lebende Literaturwissenschaftler Dror Mishani vermuten, dass das Desinteresse am Genre auch etwas mit der niedrigen Mord- und Verbrechensrate in Israel zu tun hat. Auf Krimis musste Mishani dennoch nicht verzichten. Für den Jerusalemer Verlag Keter Books hat er die hebräischen Ausgaben der Henning-Mankell-Romane lektoriert, bis er selbst seinen ersten Krimi schrieb: »Vermisst«.
Als ein 16jähriger Schüler als vermisst gemeldet wird, glaubt Inspektor Avi Avraham erstmal nicht an ein Verbrechen. Der Mutter des Jungen hält er auf der Wache einen kleinen Vortrag über Literatur und Verbrechen: »Warum gibt es hierzulande keine Kriminalromane? Weil solche Verbrechen hier nicht vorkommen. Es gibt bei uns keine Serienmörder, keine Entführungen und so gut wie keine Sexualstraftäter, die auf der Straße über Frauen herfallen.«
»Vermisst« wurde in Israel ein Bestseller und ist mittlerweile in vielen Sprachen übersetzt. Der psychologisch ausgeklügelte Roman, der die Vorstellung von gesellschaftlicher Norma­lität in Frage stellt, ist auch eine Hommage an Batya Gur und ihre Inspektor-Ochajon-Reihe.

Dror Mishani: Vermisst. Aus dem Hebräischen ­von Markus Lemke. Paul-Zsolnay-Verlag, Wien 2013, 352 Seiten, 17,90