Die Werke der Avantgardekünstler Wols und Hans Richter

Bilder einer neuen Zeit

Zwei Ausstellungen im Berliner Martin-Gropius-Bau zeigen Werke der Avantgarde-Künstler Wols und Hans Richter. Beide verbindet nicht nur die Tendenz zur Abstraktion, sondern auch die Erfahrung des Exils.

Alle Welt will derzeit die Ai-Weiwei-Auststellung im Martin-Gropius-Bau in Berlin sehen. Die Berliner haben Ai Weiwei derart ins Herz geschlossen, dass er auf dem Potsdamer Platz zu Graffiti-Ehren gekommen ist. Auf einer Mauer steht dort: »Triffst du an Ostern ein Ai – kommt zu Weihnacht klein Weiwei.« Der Ansturm auf die Ausstellung mit Werken des chinesischen Dissidenten-Stars hat den Vorteil, dass man sich zwei phantas­tische Ausstellungen, die derzeit ebenfalls im Gropius-Bau zu sehen sind, in aller Ruhe anschauen kann: »Wols Photograph – Der gerettete Blick« mit Werken des Künstlers Wols und »Hans Richter – Begegnungen ›Von Dada bis heute‹«. Wols und Richter waren beide Künst­ler der Moderne, Verfolgte des NS-Regimes, linke Lebenskünstler und Exzentriker.
Von Wols, der eigentlich Wolfgang Schulze hieß, zeigt der Gropius-Bau erstmals das wenig bekannte, aber hochinteressante fotografische Werk. Wols wurde 1913 in Berlin geboren und wuchs in Dresden auf. Er ist hauptsächlich für sein malerisches und zeichnerisches Œuvre bekannt und war ein Wegbereiter des Informel. Zu seinem Pseudonym hatte er sich einer Anekdote zufolge von einer Pariser Telefonistin anregen lassen, die bei der Annahme eines Telegramms seinen Namen falsch ausgesprochen haben soll. Wols, der sich schon 1932 mit einer Empfehlung des Bauhaus-Künstlers László Moholy-Nagy in Paris aufgehalten hatte, entschloss sich direkt nach der Machtübernahme der Nazis zur Emigration. Nach Deutschland ist er nie wieder zurückgekehrt. Seine Weigerung, dem Einberufungsbefehl zum deutschen Reichsarbeitsdienst zu folgen, brachte ihn in den kommenden Jahren immer wieder in Schwierigkeiten mit französischen und spanischen Behörden. Ohne Papiere galt er als fahnenflüchtig und staatenlos, weshalb er mehrfach inhaftiert wurde. Von Paris aus ging er mit seiner Lebensgefährtin, der rumänischen Modeschneiderin Hélène Marguerite Dabija, die Gréty genannt wurde und die er in Paris kenngelernt hatte, nach Barcelona und Mallorca. Gelegentlich arbeitet er als Taxifahrer, Fremdenführer oder Deutschlehrer. 1935 wurden Wols und Gréty aus Spanien abgeschoben, kehrten auf abenteuer­lichen Wegen über die verschneiten Pyrenäen aber wieder nach Frankreich zurück.
In Paris arbeitete Wols überwiegend als Fotograf. Er porträtierte das Paris seiner Zeit auf ungewöhnliche Weise. Touristische Sehenswürdigkeiten rückt er kaum in den Blick, stattdessen zeigt er Obdachlose, Handwerker oder einfach Mauern, Bürgersteige, verfallene Häuser, Industrieanlagen: Momentaufnahmen und Minimalausschnitte einer wenig glamorösen Wirklichkeit. Bald kam er in Kontakt mit dem Kreis der Surrealisten und lernte weitere Persönlichkeiten der Literatur-, Kunst- und Theaterszene jener Zeit kennen, er verkehrte mit Fernand Léger, Hans Arp, Alxander Calder und Alberto Gioacometti. 1937 wurden seine Arbeiten in der renommierten Pariser Galérie de la Pléiade zum ersten Mal ausgestellt. Er hat auch Schwarz-Weiß-Porträtaufnahmen von Max Ernst und dem Schauspieler und Theaterregisseur Roger Blin angefertigt.
Unmittelbar nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges musste Wols, weil er den Behörden als »feindlicher Ausländer« galt, länger als ein Jahr in verschiedenen südfranzösischen Internierungslagern leben. In dieser Zeit entstanden einige Aquarelle, die aber größtenteils auf der Flucht vor den Nationalsozialisten verloren gegangen sind.
Wols’ Bildsprache wurde in seinen späteren Lebensjahren radikaler. Die gegenständlichen Motive bleiben erhalten, gewinnen aber eine abstrakte Dimension und fordern den Betrachter zu einer neuen Wahrnehmungsweise auf. Eine außergewöhnliche Gruppe von Fotogrammen, die in der Ausstellung zu sehen ist, veranschaulicht besonders deutlich Wols’ Interesse an der Abwendung von gegenständlichen Motiven hin zur Abstraktion in der Fotografie; die Verwendung ähnlicher Verfahrensweisen in der Malerei sollte ihn später zum Wegbereiter der informellen Kunst machen. Wols, der seit den vierziger Jahren neben seiner Armut auch immer stärker unter seiner Alkoholabhängigkeit litt und dessen gesundheitliche Verfassung immer schlechter wurde, starb 1951 in Paris mit nur 38 Jahren an einer Lebensmittelvergiftung nach dem Verzehr von verdorbenem Fleisch. Nach seinem Tod waren Teile seines Werks bei den ersten drei Documenta-Ausstellungen 1955, 1959 und 1964 sowie 1958 auf der Biennale in Venedig zu sehen. Seit Mitte der sechziger Jahre ist Wols eher in Vergessenheit geraten. Der Gropius-Bau erlaubt mit seiner Werkschau einen neuen Blick auf ihn, dessen Arbeiten zu den kompromisslosesten und eigenständigsten deutscher Künstler im Exil zählen.
Die zweite Ausstellung, die derzeit im Schatten Ai Weiweis stattfindet, zeigt Arbeiten von Hans Richter, dessen Lebenswerk im Gegensatz zum früh gestorbenen Wols fast 70 Jahre umspannt. Auch Richters Werk ist durch die engen Kontakte zur internationalen Avantgarde, die Exilerfahrung und die Verbindung von ästhetischer Abstraktion und politischem Anspruch geprägt. In Berlin geboren, war Richter einer der bedeutendsten Protagonisten der Moderne. Berlin, Paris, München, Zürich, Moskau und New York stellten Stationen seines Lebens dar. Er war Maler, Zeichner, Dadaist und Konstruktivist, Filmregisseur und Theoretiker. Lange bevor ­Kategorien wie »Interdisziplinarität« und »Multimedialität« aufkamen, hat Richter medienübergreifend gearbeitet. Dabei hat er sich nicht als Künstler des l’art pour l’art, sondern als politisch Engagierter verstanden. Diese Haltung fasste er in den Worten zusammen: »Man betreibt mit Kunst auch Politik. Alles, was ändernd in die Vorgänge des Lebens eingreift, ist Politik.«
Von den Nazis wurde Hans Richter, der in der Weimarer Republik sehr bekannt und mit vielen Künstlern seiner Zeit befreundet war, verfolgt. Sein Werk wurde 1937 in der Ausstellung »Entartete Kunst« ausgestellt. Die Ausstellung im Gropius-Bau zeigt nun, ähnlich wie bei Wols, zweierlei: Zum einen das Werk eines großen, aber in den vergangenen Jahren aus dem Blick geratenen Künstlers des 20. Jahrhunderts, zum anderen anhand von interessantem biographischen Material den schweren Weg, den dissidente Künstler im Kampf gegen das NS-Regime und während der Flucht und des Exils gehen mussten. So sind beide Ausstellungen auch unter einem historischen Gesichtspunkt sehenswert.
Schon seit seiner frühen Jugend unterhielt Richter, der bereits als Schüler anspruchsvolle graphische Arbeiten verfertigte, Kontakte zu Protagonisten der euopäischen Avantgarde. Nicht nur die bildenende Kunst, auch das neue Medium Film interessierte ihn. Ab 1908 studierte er an der Hochschule der Künste in Berlin, später an der Kunstschule in Weimar. Neben Kontakten zu den Expressionisten, die sich um die von Herwarth Walden herausgegebene Zeitschrift Der Sturm gruppierten, arbeitete er auch für die expressionistische Zeitschrift Die Aktion. Die in der »Brücke« und dem »Blauen Reiter« assozierten Künstler wurden seine Freunde. 1914 wurde Richter zum Kriegsdienst eingezogen, 1916 schwer verwundet. Im selben Jahr flüchtete er nach Zürich, das er eine »Insel inmitten von Feuer, Stahl und Blut« nannte und wo er mit Tristan Tzara, Hugo Ball und anderen die Dada-Bewegung mit begründete. Im Jahr 1918 lernte er den Schweden Viking Eggeling kennen, mit dem er erste Experimentalfilme drehte, die er als Vorstufe zum »abstrakten Film« begriff. Die Idee einer universellen »künstlerischen Grammatik«, die den Frieden unter den Menschen befördern sollte, beschäftigte beide Künstler. In einem Essay aus dieser Zeit plädierte Richter für ein gesellschaftliches Engagement der Kunst und formulierte die Hoffnung, dass die »formalen Ordnungsprin­zipien« der Abstraktion ein Gegengift zur kriegstreiberischen Politik sein mögen. 1919 wurde Richter Vorsitzender des »Aktionsausschusses revolutionärer Künstler« der Münchner Räterepublik. Die Truppen der Reichswehr verhafteten ihn, doch er kam wieder frei.
Richters erster vollständig abstrakter Film, »Rhythmus 21«, 1921 fertiggestellt, wurde ein Skandal, das Publikum versuchte den Pianisten zu verprügeln. Nicht ohne Ironie nannte Richter sein erstes Buch denn auch programmatisch: »Filmgegner von heute, Filmfreunde von morgen«. »Rhythmus 21«, der heute als zentrales Werk der filmischen Abstraktion gilt, weckte die Aufmerksamkeit des Malers und Kunsttheoretikers Theo van Doesburg, der Richter zur Mitwirkung an seiner Zeitschrift De Stijl einlud. 1923 gründete Richter mit anderen Künstlern die Zeitschrift G (das Kürzel steht für »Gestaltung«), die eine Brücke zwischen Dadaismus und Konstruktivismus schlagen sollte.
Von 1927 an arbeitete Richter mit Kasimir Malewitsch, der sich damals in Berlin aufhielt, an einem »suprematistischen« Film. Doch die schwierigen politischen Verhältnisse verhinderten die Fertigstellung. 1929 erklärte die SA Richter endgültig zum »Kulturbolschewisten«. Zwei Jahre später floh er nach Moskau, um dort den dokumentarischen, wieder stärker gegenständlich orientierten Film »Metall« zu drehen. Einsprüche der sowjetischen Regierung verhinderten jedoch die Fertigstellung.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten verwüsteten SA-Leute Richters Wohnung in Berlin. Richter kehrte nicht mehr nach Berlin zurück, er hätte dort um sein Leben fürchten müssen. Doch auch in Moskau konnte er nicht lange bleiben. Er ging weiter in die Niederlande, wo er für einige Chemieunternehmen arbei­tete, die in das Medium Film als Werbemittel investierten. Er bemühte sich verzweifelt um Daueraufenthalte in Frankreich und der Schweiz, arbeitete in der Schweiz mit Anna Seghers an einem Drehbuch.
Doch auch dieses Projekt wurde Opfer der politischen Umstände: Richter musste wieder fliehen. Als die Schweizer Fremdenpolizei ihn aufforderte, das Land zu verlassen, gelang ihm 1941 die Emigration in die USA. Dort konnte er am College of the City of New York lehren, später übernahm er die Leitung des Filminstituts der Universität. 1947 wurde sein wohl berühmtestes Werk, der ironisch-verspielte Film »Dreams That Money Can Buy«, vollendet. Neben Richter wirkten daran fünf weitere berühmte Künstler des 20. Jahrhunderts mit: Léger, Ernst, Calder, Man Ray und Marcel Duchamp.
In den USA der Vierziger entstanden Richters berühmte »Rollcollagen« mit Bildern des Kriegsgeschehens: »Stalingrad«, »Invasion« und »Befreiung von Paris«. 1946 konnte er in Peggy Guggenheims Galerie seine erste große Ausstellung in den USA zeigen. In den fünfziger Jahren reiste Richter zum ersten Mal seit seiner Emigration wieder nach Europa, um Vorträge zu halten. Teile seiner Kunstsammlung, die er 1931 in Deutschland zurückgelassen hatte, erhielt er zurück. Mit zahlreichen Ausstellungen wurde damals sein Werk auch in Westeuropa wiederentdeckt. Die Ausstellung im Gro­pius-Bau ist die erste, die ihm seit den achtziger Jahren in seiner Heimatstadt gewidmet ist.
Ein Verdienst der Ausstellung ist das dort präsentierte umfangreiche Filmmaterial. Die Kurzfilme wirken zum Teil wie pointierte gesellschaftskritische Kommentare, so etwa »Vom Blitz zum Fernsehbild« (1935/36), »Die neue Wohnung« (1930) und »Wir leben in einer neuen Zeit« (1938). Besonders sehenswert ist der im Eingangsbereich gezeigte modernistische siebenminütige Film »Vormittagsspuk« von 1928. Gezeigt werden überdies Ausschnitte aus Filmen von Künstlern wie Moholy-Nagy, Ray, Duchamp und Sergej Eisenstein, die einen Vergleich mit Richters filmischem Werk ermöglichen.

Wols Photograph – Der gerettete Blick. Martin-Gropius-Bau, bis 22. Juni
Hans Richter – Begegnungen »Von Dada bis heute«, Martin-Gropius-Bau, bis 30. Juni