China und Vietnam streiten um Gebiete im Südchinesischen Meer

Die Ukraine des fernen Ostens

Der Konflikt zwischen Vietnam und China um Gebiete im Südchinesischen Meer hat zu gewalttätigen antichinesischen Protesten in Vietnam geführt. Ihre genauen Ursachen sind umstritten, der Konflikt besteht allerdings schon lange.

Vom amtierenden Ministerpräsidenten Vietnams, Nguyen Tan Dung, erhielt ich eine SMS. Darin drückte er seine Liebe zur vietnamesischen Bevölkerung aus und bat darum, dass man sich von Provokateuren nicht zu Dummheiten hinreißen lasse. Meine Enttäuschung war mäßig, als sich zeigte, dass diese Nachricht in dieser oder ähnlicher Form durch alle nationalen Mobilfunknetze ging.
Dungs ungewöhnlicher Appell zur Einhaltung öffentlicher Ordnung kam nicht von ungefähr. Am Anfang stand der Transfer des chinesischen Bohrturms Haiyang Shiyou 981 in den Umkreis der Paracel-Inseln in der ersten Maiwoche. Die Wahl des Standorts musste von den Vietnamesen als Affront verstanden werden: Seit Jahrzehnten konkurriert Vietnam mit China um die Hoheit in diesen Gewässern. Die Schiffe, die Vietnam in die Region beorderte, trafen auf über 80 chinesische Boote, die einen Sperrgürtel um die Bohrinsel bildeten, darunter viele Schiffe der Küstenwache. Die vietnamesischen Schiffe wurden mit Wasserwerfern angegriffen, abdrehende Schiffe verfolgt und in bisweilen spektakulären Manövern gerammt. In dem stetigen Konflikt um diese Inseln war dieser Vorfall der schwerste seit Jahren.

Im Gegensatz zum mittlerweile überwiegend positiven Image der Hegemonial- und Besatzungsmächte des 20. Jahrhunderts ist China für Vietnams Bevölkerungsmehrheit ein rotes Tuch. In Gesprächen über China kommt man kaum um Belehrungen über die 1 000 Jahre lange Besatzung Vietnams durch den nördlichen Nachbarn herum. Zentrale Straßen sind nach Nationalhelden und Orten des Kampfes gegen China benannt. Viele halten eine militärische Konfron­tation durchaus für möglich. Wem das absurd erscheint, der sollte sich in Erinnerung rufen, dass der letzte Krieg mit China auf vietnamesischem Boden ausgetragen wurde: Auf Vietnams Krieg gegen die Khmer Rouge in Kambodscha reagierte China 1979 mit einem »Erziehungsfeldzug« genannten Einmarsch in Vietnams nördliche Provinzen. Fünf Jahre zuvor, 1974, hatte China bereits die Paracel-Inseln in einer militärischen Aktion besetzt, die 70 Vietnamesen das Leben kostete.
Die Paracel-Inseln, eine Gruppe von Korallen-Atollen mit weniger als 1 000 Einwohnern, sind nicht nur aufgrund vermuteter reicher Erdölvorkommen interessant. Die Region ist für den Fischfang wichtig und liegt überdies in der Nähe einer der bedeutendsten globalen Handelsrouten. In den vietnamesisch-chinesischen Beziehungen sind die Paracel- und die südlich gelegenen Spratly-Inseln ein ständiger Anlass für Konflikte.
In diesem Konflikt ist der Handlungsspielraum der vietnamesischen Regierung ziemlich beschränkt. Ein offensives militärisches Vorgehen ist angesichts der Übermacht Chinas nicht möglich. Erschwerend kommt dazu, dass China wichtiger Handelspartner des Landes ist. Neuerdings werden Vergleiche mit der Situation der Ukraine gezogen. Innenpolitisch steht die Regierung jedoch unter Druck, sich gegenüber China selbstbewusst zu zeigen. Seit Jahren gibt es Kritik, dass sie einen Ausverkauf des Landes an China betreibe.

So mag es nicht überraschen, dass nach den Zwischenfällen vor den Paracel-Inseln die vietnamesische Regierung erstmals Demonstrationen gegen China zuließ. Überraschend war, wie sich diese Proteste entwickelten. Zu Beginn fuhren Zehntausende Demonstrierende auf mit Nationalfahnen behangenen Mopeds durch die Provinzen. Die zunächst friedlichen Proteste schlugen Mitte Mai in bislang beispiellose Gewalt um: In 22 Provinzen wurden Fabriken geplündert und in Brand gesteckt. Hunderte Fabrikanlagen wurden angegriffen und etliche dort Beschäftigte verletzt. Es gibt Berichte über Tote, die Schätzungen variieren allerdings erheblich. Die Agentur Reuters meldete über 20 Tote. 3 000 Chinesinnen und Chinesen verließen umgehend Vietnam. Das chinesische Außenministerium schickte Schiffe zur Evakuierung seiner Staatsbürger. Der Tageszeitung Sing Tao Daily in Hong Kong zufolge konzentrierte China Truppen an der vietnamesischen Grenze. Auch hier werden Vergleiche mit der Situation in der Ukraine gezogen: Die chinesische Regierung betont, dass die annähernd eine Million Chinesinnen und Chinesen in Vietnam gefährdet seien. Die Frage ist, wann sie beschließt, dass sie militärischen Schutz brauchen.
Der Verlauf der Proteste wirft eine Reihe von Fragen auf: warum sie eine gewalttätige Wendung nahmen, warum sie sich auf Industrieanlagen konzentrierten und schließlich, warum sie scheinbar wahllos ausfielen. Der überwiegende Teil angegriffener Fabriken war nicht in chine­sischem Besitz. In der Provinz Bình Duong, dem Ausgangspunkt der Unruhen, sind laut offiziellen Angaben 351 Anlagen beschädigt worden, davon waren nur 14 chinesisch. 27 Anlagen gehörten vietnamesischen Firmen, aber hauptsächlich waren von den Unruhen Unternehmen aus Ostasien betroffen, etwa aus Japan, Korea und insbesondere Taiwan. Ob westliche Unternehmen angegriffen wurden, ist nicht bekannt.
Einige Kommentatoren vermuten, dass die Protestierenden nicht bemerkt hatten, in wessen Besitz die Fabriken sich befinden. Dem DPA-Korres­pondenten Bac Pham erzählten protestierende Arbeiter, dass taiwanesische Firmen chinesische Manager eingestellt hätten. Hong-zen Wang von der Sun-Yat-sen-Universität in Kaohsiung in Taiwan veröffentliche einen Text mit dem Titel »Prügel für Taiwanesen ist kein Missverständnis«. Darin bestätigt er die Beobachtung Bac Phams und führt überdies an, dass es sich bei großen Teilen der Belegschaften in den taiwanesischen Firmen ebenfalls um Chinesen gehandelt habe, die für die gleiche Arbeit ein höheres Gehalt erhielten.
Per E-Mail erhielt ich die Fotografie von einem Schild, das an der Tür einer japanischen Firma in Ho-Chi-Minh-Stadt angebracht worden war: »Wir sind eine japanische Firma. Wir lieben Vietnam. Chinesen ein Stockwerk weiter unten.« Dass diese Firma davon ausgeht, es könne zu Verwechselungen kommen, ist offensichtlich – gleichzeitig verdeutlicht das Schild, wie es um die Beziehungen der drei Länder zueinander steht.

Den ökonomischen Schaden der Unruhen trägt vornehmlich Vietnam. Viele Unternehmen, die ihre Fabriken temporär geschlossen haben, kündigten an, sich aus Vietnam zurückzuziehen oder ihre Investitionen zu überdenken. Die konkreten und möglichen wirtschaftspolitischen Konsequenzen der Unruhen geben Verschwörungstheorien Nahrung. Die Aufnahme Vietnams in die Trans-Pacific-Partnership (TPP) ist geplant. Die Mitgliedschaft Vietnams würde eine stärkere wirtschaftliche Anbindung an Japan und die USA bedeuten, die wirtschaftliche Abhängigkeit von China entsprechend geringer werden. Die Zerstörung Hunderter ausländischer Fabriken stellt Vietnam als Investitionsstandort und möglicherweise auch die Bewerbung um Aufnahme in die TPP in Frage. Eine Ablehnung der Bewerbung hätte die Festigung der Handelsbeziehungen mit China zur Folge. Dass von den Ausschreitungen kaum chinesische Einrichtungen betroffen waren, stützt diese Interpretation der Ereignisse, ebenso wie Gerüchte, dass Personen beobachtet worden seien, die Geld für die Teilnahme an den Ausschreitungen gezahlt hätten.
Eine Eskalation der Proteste lässt sich aber auch ohne chinesische Agenten vorstellen. Das Wachstum der vietnamesischen Wirtschaft ist nicht zuletzt Millionen von Beschäftigten zu verdanken, die zu niedrigen Löhnen in der Indus­trie und im Baugewerbe schuften. Zumindest in den vergangenen Monaten gab es eine Reihe von Indizien dafür, dass unter diesen Arbeiterinnen und Arbeitern eine tiefe Unzufriedenheit herrscht. Im Januar kam es auf einem 3,2 Milliarden US-Dollar teuren Bauprojekt des koreanischen Unternehmens Samsung zu schweren Ausschreitungen. Auslöser war, dass ein Arbeiter, der zu spät zur Arbeit erschien, von den Sicherheitsleuten nicht auf das Gelände gelassen wurde. Sein Versuch, sich trotzdem Zugang zu seinem Arbeitsplatz zu verschaffen, endete damit, dass er bewusstlosgeschlagen wurde. Seine Kollegen reagierten ungehalten. Die Wohncontainer, in die sich die Sicherheitsleute flüchten mussten, wurden in Brand gesteckt, ebenso ihre Fahrzeuge. Es gab vier Schwerverletzte.
Die Verantwortung für die jüngsten Ausschreitungen bei von China gesteuerten Provokateuren zu suchen, blendet die schlechten Bedingungen aus, unter denen viele Beschäftigte arbeiten müssen. Hinzu kommen die allgemeine Wut über Chinas Zugriff auf vietnamesische Ressourcen und die Erfahrung sozialer Ungleichheit zwischen chinesischen und vietnamesischen Arbeitern.
Um offizielle chinesische Einrichtungen in Hanoi und Ho-Chi-Minh-Stadt ist derweil ein nie dagewesenes Aufgebot an Sicherheitskräften aufgezogen. Die anfangs tolerierten antichinesischen Demonstrationen werden dieser Tage umgehend aufgelöst. Hunderte Protestierende wurden inhaftiert. Der Versuch, Proteste zuzulassen, scheint gescheitert und die vietnamesische Führung macht weiter wie gehabt. Das gilt auch für die Eskalation auf See. Am Montag voriger Woche wurde ein vietnamesisches Fischerboot vor den Paracel-Inseln gerammt und versank. Die zehnköpfige Besatzung konnte von anderen vietnamesischen Schiffen gerettet werden.
Die einzige Chance Vietnams, sich in dem Konflikt mit China zu behaupten, besteht in einer gemeinsamen Politik mit anderen Staaten im Südchinesischen Meer, die mit vergleichbaren Ansprüchen Chinas zu kämpfen haben, insbesondere Japan und die Philippinen. Wirkungsvoll könnte eine entschlossene Unterstützung durch die Staaten der Association of Southeast Asian Nations (Asean) sein, das würde allerdings ein Novum darstellen.