Straßenhändler in Marokko

Glückssucher der Straße

Migranten aus dem Senegal gelten in vielen touristischen Zentren Europas als Sinnbild des fliegenden Händlers. Auch in Marokko gibt es viele Senegalesen, die dort ohne Papiere leben und meist Fälschungen von Luxusgütern verkaufen. Ein Tag im Leben von Saliou, Ibu und Papa Baidy, Straßenverkäufer in Marrakesch.

Ein kleiner Metallkoffer ist sein Geschäft. Rund 30 Handys und Uhren sind ordentlich auf der mit Samtimitat ausgeschlagenen Innenseite ausgelegt. Die Fälschungen der Elektronikware tragen die Logos von Samsung, Apple, Gucci und anderen bekannten Marken.
Der Straßenhändler Saliou trägt einen khakifarbenen Baumwollanzug und Lederschuhe. Eine Holzkette mit den Umrissen des afrikanischen Kontinents als Anhänger schmückt seinen Hals. Seine dunkle Brille zeigt die abgeblätterten Buchstaben eines falschen Ray-Ban-Logos. Schwarze Dreadlocks fallen apart in ein freundliches Gesicht. Ein bisschen Bob Marley, ein bisschen Lenny Kravitz – ein hübscher Mann.
In seinem Metier ist Saliou sehr erfahren. Der 34jährige ist seit 1992 Straßenhändler. Angefangen hat er mit Ketten und Schuhen, dann folgten Elektronikartikel. Sein Geschäft führte ihn schon durch halb Afrika, vor zwei Jahren flog er schließlich nach Marokko. Seitdem verkauft er meist in Marrakesch, manchmal aber auch in Casablanca oder Essaouira. »Ich bin eigentlich Friseur, mache hauptsächlich Rastafrisuren für Männer«, sagt er. Er holt sein Handy aus der Hosentasche und zeigt ein paar digitale Fotos. Ein Friseurstuhl, dahinter ein Poster mit Reklame für Haarprodukte: »Das ist mein kleiner Salon.« Saliou spricht mit leiser und sanfter Stimme, ein klangvolles Französisch mit rollendem R.
Eine Gruppe marokkanischer Jugendlicher nähert sich seinem Koffer. Ein schmaler Jüngling probiert nacheinander die falsche Rolex, Ferrari und Apple-Uhr. Nach zähen Verhandlungen entscheidet er sich für ein Imitat von Tag Heuer und zahlt 40 Dirham, etwa 3,90 Euro.
Die Passage Prince Moulay Rachid ist eine kleine Einkaufsstraße, die direkt vom Djemma el-Fna, Marrakeschs weltbekannten Marktplatz, abgeht. Jeden Tag aufs Neue strömen Menschenmassen über die Shoppingmeile, vorbei an Billigschuh-Geschäften, Haushaltswarenläden, Eiscafés – und unzähligen Straßenhändlern. Es riecht nach Plastik, Müll und Kanalisation. »Ich bin meistens hier«, sagt Saliou, »nachts läuft das Geschäft am besten.«
20 Uhr. Die Sonne senkt sich langsam und taucht die safranroten Gemäuer der Umgebung in ein magisches Licht. »Ich habe keinen Blick für die Schönheiten der Stadt. Ich möchte nur Geld verdienen. Sieben Tage die Woche arbeite ich möglichst von 9 Uhr morgens bis 1 Uhr nachts. Meine Familie ist arm und ich muss ihr Geld schicken«, erzählt Saliou. »In meinem Alter sollte ich eigentlich etwas erreicht haben, verheiratet sein.« Er deutet in Richtung Himmel. »Es steht schon geschrieben«, sagt er, »unser Schicksal ist sowieso vorherbestimmt.«
Ein Passant in Hemd und Anzughose nähert sich dem Koffer. Saliou strahlt, geht auf den Mann zu und umarmt ihn herzlich. »Das ist Abdo, ein guter Freund. Er hat uns schon sehr oft geholfen«, sagt er.
»Ich bin durch Zufall hier, komme gerade aus dem Krankenhaus. Die Frau eines senegalesischen Freundes hat ein Kind bekommen«, erzählt Abdo. »Ich bin Beamter und komme morgens auf dem Weg durch diese Straße. Im Laufe der Zeit habe ich viele Händler hier kennengelernt, mich mit ihnen angefreundet und versucht, ihnen zu helfen. Sie bekommen ja sonst keinerlei Unterstützung«, ergänzt er. »Erst kürzlich habe ich einem jungen Senegalesen einen Ausbildungsplatz vermittelt, obwohl ich das streng genommen nicht darf. Aber ohne Aufenthaltsgenehmigung finden sie ja keinen Job. Wenn du ihnen eine Arbeit anvertraust, zeigen sie Verantwortung, auch wenn du nicht vor Ort bist – das ist meine Erfahrung. Es sind sehr ehrliche Menschen. Die Menschen aus dem Senegal sind so, wie wir Araber früher waren: religiös, ehrlich, freundlich. Außerdem respektieren sie ihre Frauen sehr. Die Individualität ist ihnen sehr wichtig.«

Senegal war einst die erste Kolonie Frankreichs. Inzwischen zeichnet sich der Staat durch demokratische und rechtsstaatliche Strukturen aus und verfügt über ein reiches kulturelles Leben, vor allem in der Hauptstadt Dakar. Gleichzeitig aber leidet das Land unter hoher Arbeitslosigkeit, mangelnder medizinischer Versorgung und einem sehr niedrigen Bildungsniveau. Rund die Hälfte der Einwohner sind Analphabeten. Die Bevölkerung verdoppelte sich in den vergangenen 20 Jahren, die Hälfte der rund 13 Millionen Einwohner sind unter 20 Jahre alt. Arm, jung und arbeitswillig flüchten sie möglichst ins Ausland. Geld verdienen ist oberstes Gebot. Die Daheimgebliebenen erwarten Unterstützung von ihren Glücksrittern in der Fremde. Die meist dringend benötigten Geldtransfers avancierten zum wichtigen Wirtschaftsmotor.
Ihr Leben mag hart und entbehrungsreich sein, aber wenigstens sind Saliou und Ibu in Marokko ihr eigener Herr. In den europäischen Ländern sieht es anders aus. In Italien zum Beispiel läuft das Geschäft mit den falschen Marken zwar gut, ist aber fest in den Händen der Mafia. Die organisierte Kriminalität knöpft ihren rechtlosen Händlern bis zu 90 Prozent der Einnahmen ab. Wer nicht zahlt, wird terrorisiert – oder umgebracht. Immer wieder liest man von afrikanischen Händlern, die von der Mafia ermordet wurden, weil sie die Schutzgelder nicht mehr zahlen wollten oder konnten. Illegale Straßenhändler sind in Italien zudem weiteren Bedrohungen ausgesetzt: Von Luxusindustrie und Polizei verfolgt, von der Bevölkerung verspottet und immer wieder rassistisch diskriminiert, führen sie ein hartes Leben voller Gefahren. In den Touristenhochburgen in Spanien dagegen kämpfen vor allem Polizei und Ladenbesitzer gegen die unerwünschten Verkäufer. Wenn die Gendarmen auftauchen, heißt es, Ware schleunigst zusammenzuraffen und zu rennen. Die Beamten stecken die Illegalen zwar nicht ins Gefängnis, beschlagnahmen aber ihre Ware – und damit die Grundlage ihres Geschäfts. In Deutschland gilt Straßenhandel als Reisegewerbe und setzt eine Aufenthaltsgenehmigung voraus. Natürlich gibt es trotzdem Händler, die ihre Ware illegal verkaufen. Vor allem der Zigarettenhandel boomt auf dem deutschen Schwarzmarkt.
Auf der Passage Moulay Rachid herrscht auch am späten Vormittag Hochbetrieb. Boutiquenbesitzer werben um Kunden, Kinder bieten Taschentücher feil, Kleinwüchsige und Alte betteln um Geld. Polizisten patrouillieren auf und ab. Die Flötenmusik der Schlangenbeschwörer dringt vom Markplatz herüber, aus den Cafés dudeln Evergreens und arabische Hits.

Saliou steht heute an einer Hauswand auf der anderen Seite der Straße, den Koffer hat er im Blick. Der Morgen lief gut. »Ich habe schon zwei kleine Telefone und eine Uhr verkauft«, erzählt er und lacht.« Mein Gewinn beträgt bisher rund vierzig Dirham. Aber ich muss einiges davon abgeben, ein Kumpel hat mir den Kunden gebracht.«
Salious Nachbar, Ibu, hat ein fast identisches Angebot in seinem Koffer. »Wir kaufen bei Großhändlern in Marrakesch oder Casablanca ein«, sagt er. »Die Ware kommt meist aus China, manchmal aber auch aus Finnland oder Ungarn.«
Ibu ist nicht nur Mitbewerber, sondern auch Mitbewohner Salious. Gemeinsam mit drei anderen teilen die beiden sich ein Zwei-Zimmer-Apartment in der Neustadt Marrakeschs. »Der Job ist unerträglich langweilig«, sagt Ibu und streicht sich ein Rastazöpfchen aus dem Gesicht. »Das Schlimmste aber ist, dass er keine Zukunft hat. Ohne Papiere kriegst du keinen festen Job und ohne Job keine Papiere, ein Teufelskreis. Die Marokkaner denken, wir würden ihnen Arbeit wegnehmen, aber was sollen wir denn tun? Wir haben ja nur diese Möglichkeit.«
Senegalesen, die nach Marokko reisen, benötigen kein Visum, müssen aber eigentlich nach drei Monaten das Land verlassen, um dann erneut wieder einreisen zu dürfen. »Das können wir uns nicht leisten«, sagt Ibu. »Also bleiben wir illegal hier. Eigentlich dürfen wir auch keinen Handel betreiben, die Polizei duldet uns nur. Sie wissen ja, dass es unsere einzige Möglichkeit ist, etwas Geld zu verdienen. Manchmal aber kommt der Polizeichef vorbei, und wenn du Pech hast, konfisziert er deine ganze Ware.«
22 Uhr, auf der Passage Prince Moulay Rachid beginnt die rush hour. Saliou und Ibu lehnen mit dem Rücken an einer Hausmauer, ein Knie angewinkelt, den Fuß abgestützt. »Das lange Stehen macht uns nichts aus, wir sind Soldaten«, sagt Saliou und lächelt. »Aber ich versuche, nach der Arbeit meine Gymnastik zu machen. Bauchmuskeltraining, Liegestützen, Stretching.«
»Senegal ist ein Land des Miteinanders und des Teilens, wir nennen das teranga«, sagt Ibu, der vor anderthalb Jahren nach Marokko ging. Warum ist er dann hier, in einem Land, das ihn nicht willkommen heißt? »Die ganze Welt ist in Bewegung und egal, ob arm oder reich, man muss sich der Zirkulation anpassen«, lautet seine Antwort. Er denkt kurz nach, zögert und sagt schließlich: »Mein Job ist im Grunde auch eine Form des Reisens.«
23 Uhr 10. Ibu sammelt Geld von Saliou und zwei weiteren Mitbewohnern, er übernimmt heute den Einkauf für die nächtliche Mahlzeit. »Wir essen nachts, einer von uns kocht immer. Heute ist Saliou dran, er ist ein sehr guter Koch«, sagt Ibu und grinst. Saliou lächelt und blickt auf die Straße. »Hier habe ich im Grunde keine Freunde«, sagt er, nachdem Ibu außer Sichtweite ist. »Als ich im Winter krank war, sind trotzdem alle zur Arbeit gegangen, niemand hat sich um mich gekümmert.« Er fährt fort: » Meine Mutter ist meine beste Freundin. Wir sind immer in Kontakt. Wenn ich mich drei Tage nicht melde, ruft sie mich an, auch wenn sie kein Geld hat. Sie spürt immer, wenn es mir nicht gut geht«, sagt er mit Wehmut im Blick. »Ich habe sie seit fünf Jahren nicht mehr gesehen.« Zurück nach Hause will er aber erst, wenn er »etwas erreicht« hat.
Ein Kollege von Saliou kommt vorbei, ohne Ware. »Ich bin eigentlich Maler und wohne in Rabat. Mein Name ist Papa Baidy Fall«, stellt er sich mit leiser Stimme vor. »Ich bin nur durch einen Zufall hier in Marrakesch. Ein Senegalese hatte einen schweren Autounfall und sie suchten einen Freiwilligen, der ihn mit dem Krankentransport nach Marrakesch begleitet, weil es hier eine Spezialklinik gibt. Ich kannte ihn gar nicht, habe nur geholfen. Die Röntgenaufnahmen hätten 300 Euro gekostet, ich habe schon den Krankentransport bezahlt und hatte überhaupt kein Geld mehr. Er ist dann gestorben«, erzählt er ausdruckslos. »Wenn du kein Geld hast, lassen sie dich liegen und behandeln dich nicht.«
Papa Baidy Fall kommt ursprünglich aus Dakar und kam 2009 nach Marokko, weil er sich hier bessere Chancen erhoffte. Er ist 47, könnte aber vom Aussehen auch zehn Jahre älter sein. Seine ledrige Haut spannt sich um sein mageres Gesicht. Seine Augen sind gerötet – eine Entzündung unterstreicht die große Traurigkeit im Blick.

Der Weg ist nicht das Ziel, zumindest nicht für die Händler aus dem Senegal. Ihr eigentliches Ziel ist Europa, aber auch nur vorübergehend: »Die meisten kommen, um etwas zu erreichen. Dann wollen sie zurück in ihr Land, ein Haus bauen, eine Familie gründen«, sagt Papa Baidy. »Wenn du fünf Jahre hier bleibst, hast du die Chance auf ein Arbeitsvisum und kannst dir einen festen Job suchen. Wenn du dann genug gespart hast, kannst du dir ein falsches Businessvisum für Europa kaufen. Das kostet ungefähr 800 Euro. Das ist allerdings Glückssache, wenn du Pech hast, verlierst du dein ganzes Geld und bekommst kein Visum.«
Papa Baidy fährt fort: »Unser Leben ist sehr hart. Ich kenne viele, die einfach nicht mehr können. Andere, die eigentlich ehrliche Absichten hatten, landen in der Kriminalität, handeln mit gefälschten Pässen oder falschen Papieren. Die meisten Immigranten aus dem Senegal, die in ihr Land zurückkehren, haben es geschafft. Diejenigen, die nicht genug Geld gemacht haben, wollen nicht zurück, weil sie sich schämen. Wenn du es geschafft hast, den Senegal zu verlassen, bist du schon eine Stufe weiter als die anderen. Wenn du dann mit nichts zurückkehrst, giltst du als Versager. Die Leute im Senegal erwarten einfach, dass du etwas erreicht hast, weil nur die Erfolgreichen zurückkehren.« Ob er jemanden kennt, der es geschafft hat? »Nein, ich kenne niemanden«, sagt Papa Baidy und schweigt.
Seine langen schmalen Finger navigieren auf dem Display seines Handys, schließlich zeigt er ein kurzes Video, undeutliche Aufnahmen von Afrikanern in einem Waldstück. »Ich war einer von ihnen. Wir versteckten uns im Wald in Nador, im nordöstlichen Marokko. Wir hatten ein Boot und versuchten nach Spanien zu kommen, aber die Polizei hat uns abgefangen. Ich habe 1000 Euro für die Überfahrt gezahlt und alles verloren. Jetzt muss ich wieder bei Null anfangen«, erzählt Papa Baidy. Die Hoffnung aber verlor er nicht. »Mein Traum ist es, Ausstellungen zu geben, in Europa. Ich habe über eine Stiftung schon Kontakte zu Galeristen bekommen.«
Warten auf Kunden, Warten auf die große Chance, Warten auf die Zukunft. Ein Leben in Wartestellung? »Ja, das ist traurig«, sagt Papa Baidy und fährt sich mit der Hand durch sein müdes Gesicht. »Ich flüchte mich in die Zukunft.«