Die Entwicklung der argentinischen Linken in den vergangenen 15 Jahren

Die Kochtöpfe bleiben still

Die Krise von 2001 hatte unorthodoxe linke Gruppen in Argentinien auf eine neue soziale Opposition hoffen lassen. Die damals skandierte Parole »Que se ­vayan todos« (Alle sollen abhauen) ist nicht mehr aktuell. Ein Überblick Entwicklung der argentinischen Linken in den vergangenen 15 Jahren.

An zwei Dingen führt im politischen Leben Argentiniens kein Weg vorbei: am Fernsehen und am Peronismus. Mehr noch als als in Europa gilt dort: Was nicht auf einem der verschiedenen Kanäle erscheint, existiert nicht. Die Welt der Arbeiterklasse, und insbesondere jener, die nach dem Verlust ihrer Jobs nicht einmal mehr dieser angehörten, hat es in diesem Sinne während der achtziger und neunziger Jahre eigentlich gar nicht gegeben.
Als sich Ende der neunziger Jahre die Wirtschaftskrise Argentiniens – zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts noch eines der reichsten Länder der Erde – immer weiter verschärfte, gelang es den später als Piqueteros bekannt gewordenen Arbeitsloseninitiativen trotz fehlender Lobby, die Aufmerksamkeit der argentinischen und internationalen Medien zu wecken. Mit bisweilen militanten Straßenblockaden und Fabrikbesetzungen machten die Prekarisierten die desaströsen Konsequenzen der ab 1998 einsetzenden Rezession für ihr persönliches Leben öffentlich. Im Mittelpunkt der Berichterstattung standen jedoch nicht die Entlassungen, die Kürzungen staatlicher Leistungen und die Verdrängung ehemals Festangestellter in den informellen Sektor. Für Aufregung sorgte vielmehr der Umstand, dass sich die gesellschaftlich Abgehängten plötzlich in ein Problem verwandelt hatten, sowohl für den Verkehr auf den Avenidas und Landstraßen als auch für den reibungslosen Ablauf des wirtschaftlichen Lebens.
Im Dezember 2001 drohte die argentinische Wirtschaft endgültig zu kollabieren. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) war seit 1998 um 21 Prozent gesunken, die Staatsverschuldung in Devisen belief sich auf 92 Prozent des BIP. Um die in den achtziger Jahren grassierende Inflation zu bekämpfen, hatte der damalige Wirtschaftsminister, Domingo Cavallo, den Wechselkurs des Pesos an den Dollar gebunden. Den Verfall der nationalen Währung hatte diese Maßnahme zwar aufgehalten, jedoch zugleich zur rapiden Verteuerung argentinischer Exporte und in der Folge zu einer negativen Handelsbilanz geführt. Um nun die 2001 einsetzende Kapitalflucht zu unterbinden, verbot der damalige Präsident Fernando de la Rúa Dollarankäufe und ließ die Privatkonten der Argentinier einfrieren.
Während jene, die noch etwas zu verlieren hatten, daraufhin am 19. und 20. Dezember zunächst auf Kochtöpfe schlugen – eine Protestform, die als cacerolazo bekannt wurde – und anschließend an die Tore der großen Banken im Stadtzentrum von Buenos Aires, um ihre Ersparnisse zurückzufordern, zogen die weniger Pri­vilegierten los, um sich in Supermärkten und Elektronikmärkten zu holen, was ihnen vorenthalten wurde: Grundnahrungsmittel und Erfüllung kapitalistischer Glücksversprechen.
Die Ausschreitungen, in deren Verlauf mehrere Dutzend Menschen starben, erlangten auch international große Aufmerksamkeit. Und mit dieser rückte die Existenz der Piqueteros, der po­pulären Stadtteilversammlungen und selbstverwalteten Fabriken in den Mittelpunkt des Inter­esses. Dabei schien es, als hätten die Proteste im Dezember die Gegensätze zwischen der kochtopfschlagenden Mittelklasse und der Arbeiterklasse aufgehoben. Gemeinsam hatte man damals vor dem Regierungssitz diese neue Solidarität unter der Parole »Piquete y cacerola, la lucha es una sola!« (etwa: Der Kampf der Piqueteros und der Topfschläger ist einer) zum Ausdruck gebracht und mit dem emblematischen »Que se vayan todos« gefordert, dass endlich all die korrupten Funktionäre verschwänden. Der Rücktritt von Präsident de la Rúa zwei Tage nach Beginn der Proteste wurde als »Sieg des argentinischen Volkes gegen die Globalisierung« gefeiert und ist bis heute fester Bestandteil der linken Mythologie Argentiniens.

Die vermeintlich erfolgreichen Auseinandersetzungen auf den Straßen der Hauptstadt, die wachsende Anzahl von Basisinitiativen und Formen der Selbstermächtigung erschienen damals vor allem unorthodoxen linken Gruppen als vielversprechend für eine neue Opposition. Die traditionelle argentinische Linke um die beiden Kommunistischen Parteien, den Partido Obrero und die verschiedenen trotzkistischen Splitterparteien stand den Entwicklungen seit Dezember 2001 skeptisch gegenüber. Nicht so sehr wegen der nationalistischen Ausrichtung der Klassen-Mesalliance, sondern, weil man die neuen sozialen Bewegungen als Ausgeburt der Mittelklasse ansah, die der klassischen Organisation des Proletariats in einer revolutionären Partei widerspreche. Diese Skepsis war nicht ganz unberechtigt. Denn sowie sich das politische und wirtschaftliche Leben bis zum Wahlsieg Néstor Kirchners 2003 halbwegs stabilisiert hatte, wurde deutlich, dass es den meisten, die zwei Jahre zuvor auf den Straßen waren, nicht um radikale ­gesellschaftliche Veränderung gegangen war. Und auch die zentrale Forderung der Protestierenden, »Que se vayan todos« (Alle sollen abhauen), zielte vor allem auf einige wenige, symbolisch zur Verantwortung gezogene Funktionäre und nicht auf die grundlegende Infragestellung der institutionalisierten Politik.

Bei der Wiederherstellung der politischen Ordnung im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends erwiesen sich die Basisinitiativen ironischerweise als äußerst hilfreich. Auch wenn mittlerweile alle linken Parteien eigene Piquetero-Organisa­tionen haben, hat es vor allem der Kirchnerismus geschafft, sich durch geschickte Bündnisse mit den Gewerkschaften, Piqueteros und Stadtteilversammlungen als legitimer Repräsentant der einfachen Bevölkerung darzustellen und die von der Krise hinterlassenen Leerstellen zu füllen. 2004 berief Staatspräsident Néstor Kirchner den einflussreichen Piquetero Luis D’Elia in sein erstes Kabinett und konnte mit Hugo Moyano den Generalsekretär des Gewerkschaftsdachverbandes CGT für sich gewinnen. Mit »La Cámpora« entstand 2006 eine Organisation, die neben klassischer Stadtteilarbeit noch heute auch an Schulen, Universitäten und innerhalb der LGBTI-Bewegung tätig ist. Die meisten der während der damaligen Wirtschaftskrise entstandenen autonomen Initiativen sind mittlerweile Teil des regulären Politikbetriebs. Sei es auf Seiten des Kirchnerismus oder auf Seiten der Opposition – sie werden vor allem für machtpolitische Kämpfe. Die mit dem Gedanken an Selbstermächtigung entstandenen autonomen Strukturen haben paradoxerweise ein System hervorgebracht, von dem sie selbst aufgehoben werden.
Der amtierenden Regierung von Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner gelingt es bislang noch, sich durch Maßnahmen wie die Verstaatlichung des Energiekonzerns YPF und eine progressive Geschlechterpolitik in der öffentlichen Meinung als Vorkämpferin für soziale Gerechtigkeit zu inszenieren. Unterstützt wird sie dabei von einem nicht unerheblichen Teil der argentinischen Intellektuellen. So haben 2008 Ricardo Forster und Nicolas Casullo – beide nach eigenem Bekunden Anhänger der Kritischen Theorie und des Westlichen Marxismus – mit der Gruppe Espacio Carta Abierta einen Think Tank gegründet, um die Regierung gegen Kritiker zu verteidigen. Eine Aufgabe, die sich nach der Verabschiedung repressiver Antiterrorgesetze, dem Bruch mit Teilen der Gewerkschaft und der sich erneut verschärfenden Wirtschaftskrise immer schwieriger gestaltet. Doch ist es den Kirchners gelungen, ganz im Sinne ihres erklärten Vorbildes Juan Domingo Perón, die argentinische Gesellschaft rhetorisch und ideologisch in zwei angeblich antagonistische Teile zu spalten: auf der einen Seite die mit den »multinationalen Konzernen« verbandelte Oligarchie, auf der anderen das argentinische »Volk«. Die argentinische Linke scheint derzeit nicht in der Lage, mit diesem peronistischen Erbe zu brechen. In Zeiten des Populismus begnügt sie sich weitgehend damit, die Rolle einer mehr oder weniger kritischen Minderheit innerhalb des Kirchnerismus einzunehmen. Denn andernfalls liefe man Gefahr, bei dem Versuch, diese Dichotomie aufzubrechen, plötzlich auf der falschen Seite zu landen.
Natürlich gibt es auch andere Stimmen. Das Colectivo Situaciones zum Beispiel oder die Zeitschrift Herramienta. Beide versuchen, eine Gesellschaftskritik zu formulieren, die sich jenseits des vom peronistischen Antagonismus vorge­gebenen Rahmens bewegt. Statt die Proteste von 2001 folkloristisch zu glorifizieren, bemüht man sich hier um eine distanzierte Reflexion. Denn nicht zuletzt die beständigen antisemitischen Ausfälle des Piqueteros D’Elia (Jungle World 6/14) legen nahe, dass die vielzitierte »Multitude« von damals deutlich ambivalenter ist, als das in manch einer Retrospektive erscheinen mag. Nur ändert das nichts daran, dass es letztlich doch Figuren wie D’Elia sind, die es ins Fernsehen schaffen.