Die Ursachen des Erfolgs des IS

Das Kalifat der Albträume

Der Erfolg des »Islamischen Staats« beruht auf der tiefen Zerrüttung der nahöstlichen Gesellschaften und den politischen Machtspielen der regionalen Regime. Derzeit setzen dem nur die Kurden etwas entgegen.

Das Phänomen des »Islamischen Staats« ist mit der Methodik des alten Nahen Osten schnell erklärt: Es handelt sich um eine weitere zionistische Verschwörung, in der ein vom Mossad trainierter israelischer Schauspieler die Rolle des »Kalifen« Abu Bakr al-Baghdadi einnimmt. Diese in sozialen Netzwerken weitergereichte Verschwörungstheorie verweist auf ein grundlegendes Problem, das den derzeitigen Erfolg der Jihadistenorganisation begleitet. Der »Islamische Staat« setzt den ideologischen Inhalt des Islamismus in so bahnbrechender wie simpler Weise und so eins zu eins im Alltagsleben um, dass einfach nicht sein darf, was sich doch per ausgereifter Medienpropaganda stolz selbst präsentiert. Beim shariakonformen Händeabhacken, beim Kreuzigen und Ausmerzen von Ungläubige beruft sich der IS auch nur auf dieselben schriftlichen Anweisungen wie Generationen von Islamisten. Das »Kalifat« bringt den politischen Islam so einerseits auf den Punkt und transzendiert ihn gleichzeitig. Der IS ist nicht mehr alleine unter dem Gesichtspunkt des Islamismus zu erklären. Der Washingtoner Bürochef des Senders al-Arabiya, Hisham Melhem, fand dafür die hübsche Formulierung, der IS sei »die erste moderne Terrororganisation, die als Sekte handele, angeführt von einem Oberhaupt, das wie ein Sektenführer eines geheimen Todeskults handelt«.

Der größte Affront des IS liegt wohl in der verstörenden Attraktivität seines gnadenlos brutalen »Gesellschaftsmodells« für so viele Jihadaspiranten. Doch die Umstände, die den Erfolg des »Kalifats« ermöglicht haben, sind gar nicht geheimnisvoll, dafür aber umso deprimierender: Der »Islamische Staat« lebt von der tiefen Zerrüttung der nahöstlichen Gesellschaften und den politischen Machtspielen der Regionalmächte. Er ist auch ein Produkt der westlichen Nichtintervention und der unterlassenen Unterstützung demokratischer Kräfte, vor allem in Syrien. Der Iran, die Türkei, Bashar al-Assads Regime und die Golfstaaten, alle haben geglaubt, den IS gegen ihre Gegner und zu ihrem machtpolitischen Vorteil einspannen zu können. Das »Kalifat« wuchs so im Windschatten der regionalen Konflikte ungestört heran. Den Nährboden für die Jihadisten lieferte dabei die aus allen Fugen geratene Gesellschaft einer Region, in der Diktatoren jahrzehntelang alle Entwicklungen blockiert haben, während eine Melange aus Gewaltverherrlichung, religiösem Eiferertum und panarabischen Allmachtsphantasien die Stelle von Bildung und sinnvollen Zukunftsinvestitionen eingenommen hat.
Dennoch ist unübersehbar, dass der IS in den arabischen und sunnitischen Gebieten auch seine überzeugten Anhänger hat. Ohne diese Unterstützung wäre die Herrschaft und Expansion des »Kalifats« nicht möglich. Genau das zeigt auch, wie kaputt diese Gesellschaften mittlerweile sind. Dass der »Islamische Staat« für Sicherheit sorgt, die konkurrierenden Milizen und Warlords ausgeschaltet und ein krudes, aber konsequent exekutierendes Rechtssystem aufgebaut hat, wird da bereits als Wohltat erfahren. Das Ausrufen des Kalifats und die Einführung der Sharia entsprechen sowieso nur dem, was staatlich alimentierte Prediger von Bagdad bis Riad jahrzehntelang als religiöse Normen verkündet haben. Da hilft es auch nichts mehr, dass Saudi-Arabien in diesem Frühjahr die Teilnahme am Jihad in Syrien für seine Staatsbürger unter Strafe gestellt und Isis als Terrororganisation eingestuft hat.
Die Idee des »Islamischen Staats« ist in die Welt gesetzt. Und der IS macht da weiter, wo den abgehalfterten Diktaturen und staatlichen Klientelversorgungsanstalten die Dynamik abhanden gekommen ist. Die Vertreibung und Ermordung von Minderheiten setzt im Grunde nur über Dekaden eingeübte Verhaltensweisen weiter fort: Wenn der IS nun in den leergeräumten Dörfern und Städten der Yeziden und Christen sunnitische Araber zur Herrschaftsarrondierung ansiedelt, dann ist dies bloß die Fortsetzung einer panarabischen Vertreibungspolitik, wie sie Saddam Hussein stilbildend durchexerziert hat. Der »Islamische Staat«, das Kalifat der Albträume, ist das konsequente Fortverwesen nahöstlicher Realpolitik von Jahrzehnten. Vieles an Gestus und Rhetorik der Jihadisten erinnert nicht umsonst an die finstersten Zeiten des 20. Jahrhunderts, an destruktive Männerbünde wie die deutschen Freikorps nach dem Ersten Weltkrieg oder das so barbarische wie herrisch-selbstsichere Auftreten von Nationalsozialisten im Vernichtungswahn. Man kann den IS auch als Bewegung betrachten, die in einem wahnhaften dynamischen Rausch die Schaffung eines idealen Kunststaats in ihrem Sinne angeht. Wahrscheinlich ahnen die Gotteskrieger selbst, dass dieser »Staat« nur sehr kurzlebig sein wird. Doch bis zu seinem Untergang mit – dazu braucht es keine Prophetie – noch einmal gesteigerter Gewaltorgie werden sich die Jihadisten ausleben können wie nie in ihrem Leben. In einem »Kalifat« ohne sichtbare Weiblichkeit, wo sich geifernder Puritanismus und Sklavenmärkte für die Frauen der Ungläubigen wie in einem Trash­film zusammenfinden.

Die wichtigsten Gegner des Kalifats sind dieser Tage die Kurden, deren nordirakisches Autonomie-Gebiet so etwas wie den Gegenentwurf zu den verrohten und verwüsteten Gebieten der arabischen Bevölkerung darstellt. Ist das System auch korrupt und ineffizient, so investierte man in Kurdistan in der vergangenen Dekade Geld doch lieber in Straßen- und Hochhausbau, errichtete Einkaufzentren und Vergnügungsparks und pries sich international als der andere, friedliche und prosperierende Irak an. Dass dies teilweise der Wahrheit entspricht, ist auch ein Hinweis darauf, dass die landläufige Erklärung, mit dem angeblich so verheerenden dritten Irak-Krieg unter George W. Bush habe das ganze Elend seinen Anfang genommen, eben nicht funktioniert. Wenn inzwischen die Peshmerga, anders als ihr Name sagt, nicht mehr den Tod herbeiwünschen, sondern eher Schmerbäuche angesetzt haben und vor den kampferprobten, sich nach dem Paradies sehnenden Jihadisten zurückweichen mussten, dann zeugt das von einem positiven Zivilisierungsprozess, der eben auch in dieser Region möglich war und ist. Dagegen können die Milizen und die im Guerillakrieg erfahrenen Verbände der PKK und ihrer angehängten Organisationen zwar der Schlagkraft des IS militärisch etwas Adäquates entgegensetzen, aber wenig spricht dafür, dass ihr Eingreifen zu vermehrter Toleranz und Pluralität führen wird. Wo sie im benachbarten syrischen Kurdistan die Macht ausüben, regieren sie mit harter Hand ganz im Stile des alten Nahen Osten.

Die bittere Lehre für Yeziden, assyrische Christen und teilweise auch für die nordirakischen Kurden ist, dass das Ausklinken aus dem Wahn der Region, der Verzicht auf mörderische Ideologie und Militarisierung im Grunde doch lebensgefährlich ist. Man steht schließlich alleine da, wenn die schwarzen Banner des »Kalifats« in einer Staubfahne am Horizont auftauchen. Die nun ad hoc zusammengeschusterte Koalition aus einem unwilligen, zum Eingreifen gezwungenen US-Präsidenten, Europäern, die darüber streiten, ob man den Kurden nicht doch nur ein paar Sanitätskoffer liefern soll, verschreckten Gerontokraten am Golf und einer neuen irakischen Staatsführung von Teherans Gnaden wird, auch dazu bedarf es keiner großen Prophetengabe, genau so lange halten, bis das »Kalifat« so weit gestutzt ist, dass sich erneut jemand einen kleinen taktischen Vorteil von seiner Existenz verspricht.
Assad macht das bereits vor, er ist ein Meister in diesem destruktiven Nahost-Spiel. Zwar hat seine Luftwaffe in der vorigen Woche das vom IS kontrollierte Raqqa medienwirksam bombardiert, aber schon lässt er auch Bomben auf die syrischen Rebellen regnen, die sich bei Aleppo neu positioniert haben, um die dortige Offensive des IS aufzuhalten.