Der »Islamische Staat« (IS) erhält über die Türkei Nachschub an Kämpfern

Das türkische Chaos

Die Türkei ist ein Transitland für Kämpfer und Waffen des »Islamischen Staats«. Mit ihrer ambivalenten Außenpolitik hat sich die türkische Regierung in eine für sie höchst unangenehme Lage manövriert.

Sie kommen aus der ganzen Welt. »Der Islamische Staat in Irak und Syrien« (Isis), der sich neuerdings auch nur als »Islamischer Staat« (IS) bezeichnet, ist ein Sammelbecken für mordlustige Psychopathen aus dem Nahen und Mittleren Osten, dem Kaukasus, aus Asien und aus Europa. Die IS-Propagandaabteilung stellt regelmäßig in Syrien und dem Irak produzierte Videos ins Netz. Auf einem ist ein deutscher Jihadist mit Rauschebart zu sehen. Er kommt aus einer Moschee vom Freitagsgebet und macht sich in saloppem Proletendeutsch über die »sogenannten Brüder und Schwestern« lustig und wie lasch doch diese Predigt gewesen sei. Der Kameramann sagt aus dem Off: »Uwe, das geht ja gar nicht.« Uwe ist ein Mann Anfang 20, er wirkt auf den ersten Blick wie ein Hippie aus den Siebzigern.
In einem zweiten Video ist derselbe Uwe auf einem Pickup zu sehen, wie er lapidar über die Köpfe einer Gruppe von Gefangenen weist. Sie sitzen mit gesenktem Kopf und gefesselten Armen auf der Laderampe und zittern vor Angst. »Da ham wa wieder son paar Kaffern gefasst«, stellt Uwe fest. Es ist schwer, sich vorzustellen, wie der grinsende junge Deutsche Christen, Yeziden, Schiiten und anderen Andersdenkenden den Kopf abschneidet oder sie vor einem Massengrab erschießt. Doch die »Kaffern« – das sind für den IS die Ungläubigen – sind offensichtlich für die Gotteskrieger keine Menschen.
Auf zahlreichen Videos erschießen IS-Terroristen wehrlose Gefangene. Auf einem Video spielen sie mit einer Babyleiche Fußball. Auf einem anderen haben sie die Köpfe von 200 jungen syrischen Soldaten am Rande eines Fußballfeldes aufgespießt und die Körper daruntergehängt. Ein Kameramann fährt an der grauenhaften Installation vorbei und hält diese unerträgliche, bestialische Szene mit seiner Kamera fest. Immer wieder zoomt er an einen abgetrennten Kopf heran. Entstellte Gesichter mit erloschenen Augen. Wie können Menschen sich so verhalten?

Drogen sollen beim IS eine Rolle spielen, meinen einige User auf den türkischen sozialen Internet-Plattformen zu wissen. Für den Jihad seien alle Mittel aus religiöser Sicht legitim, meldet Abdullah H., ein kurdischer Blogger mit einer Menge Insider-Informationen über den IS. Schon die Nazis versorgten ihre Soldaten im Zweiten Weltkrieg mit angstunterdrückenden Drogen. »Allahu akbar«, kreischt ein bedröhnt wirkender Iraker in dem ersten Video über den Hauptdarsteller Uwe immer wieder in die Kamera. Die Männer haben einen seltsam glasigen Blick. Crystal Meth soll unter den Substanzen sein, die in der Region von der Mörderbande massenhaft konsumiert werden. Methamphetamine, Fanatismus oder einfach ein Blutrausch? Eines der Geheimnisse des IS.

Kein Geheimnis mehr sind die Wege, die zum IS nach Syrien und in den Irak führen. Der Europa-Express führt über Antalya. Die IS-Terroristen reisen als Pauschaltouristen in die Türkei ein, fahren dann auf dem Landweg in die Provinz Hatay und werden von Schleusern über die Berge nach Syrien gebracht. Anthony Faiola und Souad Mekhennet von der Washington Post sprachen Mitte August mit Abu Yusaf, einem der Kommandanten des IS in der türkischen Grenzstadt Reyhanlı. Mittlerweile sei es nicht mehr so einfach, die Grenze zu überqueren, sagte dieser den Journalisten, aber wie sie sehen würden, gebe es noch Mittel und Wege. In der Vergangenheit hätten sie Reyhanlı als ihr Einkaufszentrum genutzt, berichtete Abu Yusaf weiter. Verwundete IS- und al-Nusra-Kämpfer wurden in türkischen Krankenhäusern behandelt.
Der Vorsitzende der Republikanischen Volkspartei (CHP) von Reyhanlı, Tamer Apış, wird fuchsteufelswild, wenn er auf die Unterstützung der Islamisten angesprochen wird. Zu Beginn der Syrien-Krise habe die Türkei alle unterstützt, die gegen Bashar al-Assad kämpfen wollten, erzählt er. Nun seien diese Leute auch für die Türkei eine Gefahr. Der IS kündigte vergangene Woche bereits Anschläge in Istanbul an. Das liegt an den Veränderungen der Politik der türkischen Regierung, die mittlerweile verstanden hat, dass sie die Geister, die sie rief, nun nicht mehr kontrolliert.
Bereits eine Woche vor dem überraschenden Vormarsch der IS-Miliz im Irak im Juni setzte die islamisch-konservative Regierung des Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan die in Syrien operierende al-Qaida-nahe al-Nusra-Front auf die offizielle Terrorliste. Der IS stand offiziell schon lange auf diesem Index. Dann nahm der IS die irakische Millionenstadt Mossul ein und brachte am 10. Juni 49 türkische Diplomaten und Botschaftsangestellte in seine Gewalt. Seitdem fungiert das türkische Konsulat in Mossul als logistisches Hauptquartier des IS. Alle Kommunikationsmittel, Fahrzeuge und anderen Ausstattungen der türkischen diplomatischen Vertretung werden nun von den Jihadisten genutzt. Eine schmachvolle Niederlage für Erdoğan. Bereits seit Ende Juni dürfen türkische Medien über die Geiselkrise nicht mehr berichten. Trotzdem beschrieben die Tageszeitungen Radikal und Zaman die Instrumentalisierung der Vertretung des türkischen Außenministeriums in Mossul durch den IS. Bislang versuchen Mitarbeiter des türkischen Geheimdienstes, ihre verbliebenen Kontakte zu den Jihadisten zu nutzen, um die Geiseln freizukaufen. Dies ist schwierig. Warum sollte der IS die Geiseln freigeben? Ein besseres Druckmittel gegen die Türkei gibt es nicht.

Geschürt und geduldet hat die Regierung Erdoğan den Zufluss von Jihadisten und Waffen in die Region schon länger. Bereits im September 2012 hatte die britische Tageszeitung Times Abu Muhammed von der Freien Syrischen Armee (FSA) mit der Aussage zitiert, Waffen und Raketen aus Libyen würden über die Türkei nach Syrien geliefert. Anti-Terroreinheiten der türkischen Polizei fanden zudem im Januar diesen Jahres bei Kontrollen von Hilfsgüterlieferungen der AKP-nahen »Stiftung für humanitäre Hilfe« (IHH) Waffen. Der Präsident des türkischen Parlamentes, Burhan Kuzu, Abgeordneter von Erdoğans Partei AKP kritisierte daraufhin, dass die Arbeit einer Hilfsgüter transportierenden Organisation wie der IHH durch Waffentransporte diskreditiert würde. Die Waffen gingen an die FSA und die syrische Muslimbruderschaft. Letztlich fielen sie dem IS in die Hände, der gegen alle kämpft, die sich ihm nicht ausdrücklich anschließen. Der Chef der IHH, Bülent Yıldırım, beklagte sich bereits öffentlich darüber, dass auch seine Fahrer vom IS entführt würden. Vermutlich werden diese Mitarbeiter mit viel Geld oder gleich mit Waffen wieder freigekauft.

Nach dem islamischen Zuckerfest am 28. Juli sorgte ein Video, das eine Gruppe mutmaßlicher Jihadisten zeigt, die sich im Istanbuler Stadtteil Bağcılar zum gemeinsamen Gebet versammeln, in der gesamten Türkei für Bestürzung. Der Parlamentsabgeordnete der oppositionellen CHP, Sezgin Tanrıkulu aus Diyarbakır, hat daraufhin eine parlamentarische Anfrage eingebracht, in der es darum geht, ob die Versammlung mit Duldung durch die örtlichen Polizei- und Gendarmeriebehörden durchgeführt worden sei. »Treffen die Behauptungen zu, dass es sich bei der Gruppe um eine türkische Zelle des IS handelt und diese einen Platz zum Lagern oder andere Grundstücke in Istanbul zur Verfügung gestellt bekommen haben? Wer ist diese Gruppe? Wie ist sie zusammengesetzt?« fragt Tanrıkulu in der Anfrage an Innenminister Efkan Ala. »Solange die Regierung angesichts der Vorwürfe hinsichtlich einer Verbindung der Türkei zur Isis schweigt«, so der Abgeordnete, »muss die Bevölkerung den Eindruck gewinnen, dass dort, wo Rauch ist, auch Feuer sei.« Vorwürfe, nach denen der IS militärisches Training und logistische Unterstützung – inklusive Waffen – erhalten und im Gegenzug Öl an die Türkei verkauft habe, müssten ebenfalls vom Parlament untersucht werden.
Es stellt sich die Frage, warum die türkische Regierung die Jihadisten direkt oder zumindest indirekt unterstützt. Zunächst wohl zur Stärkung der syrischen Opposition. Aber sicher auch, weil der IS seit mehr als einem Jahr einen verbissenen Krieg gegen die kurdischen Enklaven Nordsyriens führt. Diese werden von der Demokratischen Unionspartei (PYD), einem Ableger der türkischen Guerilla PKK, kontrolliert. Die Schwächung der PYD war im Interesse Erdoğans, weil er stets ein Übergreifen kurdischer Autonomiebestrebungen auf die türkisch-kurdische Bevölkerung befürchtet. Die als »Friedensprozess« titulierten gleichzeitigen Verhandlungen mit dem auf der Gefängnisinsel Imralı einsitzenden PKK-Führer Abdullah Öcalan stehen dazu nicht im Widerspruch. Öcalan befindet sich in türkischem Gewahrsam, sein Verhandlungspartner ist der türkische Geheimdienst. Öcalan bleibt als Pfand also ein Druckmittel gegen die PKK. Umso ironischer erscheint die Wendung, dass nun fast alle kurdischen Einheiten, die Peschmerga im Nordirak, die PYD in Syrien und die PKK in der Türkei derzeit mehr oder weniger gemeinsam gegen den IS kämpfen. Die Türkei muss einen weiteren Zulauf zahlreicher Flüchtlinge verkraften und sieht sich gleichzeitig einer kurdischen Phalanx gegenüber, die sie immer zu verhindern versucht hatte.