Welche Selbstbestimmung? Eine Kritik der Debatte über Sterbehilfe

Suizid mit ohne Gott

Gesetzliche Regelungen, die normieren sollen, unter welchen Bedingungen die Bürgerinnen und Bürger ihr Leben beenden können, haben kaum etwas mit Selbstbestimmung zu tun – und mit der Frage nach Gott schon gar nicht.

In der derzeitigen Debatte über Beihilfe zum Suizid sind Missionare aus allen Richtungen unterwegs. Die einen meinen, wie beispielsweise Alexander Kissler im Cicero, es gehe beim begleiteten Suizid weniger um den Tod als um die Gottesfrage. Andere, wie der Träger des nicht allzu weit über die Grenzen Nordhessens hinaus bekannten Nordhessischen Literaturpreises Wolfgang Brosche, enthüllen, beispielsweise in The European, mit Verve und vielen Worten, »was wirklich hinter dem Widerstand gegen die Sterbehilfe steckt« und fordern dann, ihrer Erkenntnis folgend: »Haltet Euch aus unserem Leben heraus, ihr Lebensschützer!« Aber gerne doch, möchte ich dem mir bis dato unbekannten Herrn Brosche, dessen ­Leben ich auch gar nicht näher kennenlernen möchte, mitteilen. Allein, nur weil es ziemlich untunlich erscheint, sich in einen Zwist zwischen konservativen Katholiken und utilitaristisch ­angehauchten Dogmatikern, die sich mit Giordano Brunos Namen schmücken, einzumischen, kann man die Debatte um Suizidbeihilfe nicht einfach im Diesseits oder Jenseits liegen lassen. Tatsächlich geht es bei diesem Thema, anders als der öffentliche Diskurs es wahrhaben möchte, weniger um den Tod und das Leben danach als um die Verhältnisse, in denen man vor dem Tod lebt, und darum, wie man sie verändern kann.

Wer sich die Lage in Pflegeheimen oder anderen Versorgungseinrichtungen anschaut, in denen chronisch kranke Menschen leben müssen, die viel Unterstützung brauchen, wer hochrechnet, wie viele Minuten einem Menschen mit fortgeschrittener Demenz oder Amyotropher Lateralsklerose (ALS, Ice Bucket Challenge, you remember?) dort bleiben, sich waschen, anziehen und mit dem Frühstück versorgen zu lassen, der weiß, wieso sich Menschen vorstellen, es sei besser, tot zu sein, als pflegebedürftig. Einen kämpferischen Einblick in die Verhältnisse in solchen Einrichtungen, die entmutigen, statt zum Über­leben anzustacheln, gibt der vor kurzem verstorbene @ContractSlayer auf Twitter unter #Schlaganfall2014.
In all diesen Fällen geht es übrigens nicht um Hospizversorgung oder um Palliativmedizin, die ja gegenwärtig als universelle Waffe im Kampf zur Zurückdrängung von Suizidwünschen Lebensmüder, Altersschwacher und Schwerkranker begriffen werden. Es geht um Selbstbestimmungsrecht trotz Pflegebedarf, es geht um finanzielle Ressourcen der Gesellschaft, die nicht nur in Kitas und Teilzeitjobs für Soldaten geleitet werden sollten, sondern in eine wenigstens befriedigende Assistenz, die sicherstellt, dass die Betroffenen nicht in die Sozialhilfe abgedrängt werden, und auch trotz hohem Unterstützungsbedarf ihre Lebensführung in eigener Regie fortsetzen können und sich nicht Heimordnungen, Dienstplänen und familiärem Good- oder Bad-Will unterordnen müssen.

Es wird trotzdem für einige Menschen einen Punkt geben, den sie nicht überschreiten wollen. Für den agilen Rollstuhlfahrer Udo Reiter, dessen Selbstverständnis dadurch geprägt war, dass er trotz der Querschnittlähmung alles alleine konnte, war es unvorstellbar, sich damit abzufinden, dass andere Menschen ihn waschen, füttern oder sonstwie für ihn sorgen. Andere, die diesen Hilfebedarf kennen und gut mit ihm leben, finden es unerträglich, sich vorzustellen, nicht mehr alleine atmen zu können. An Lungenkrebs erkrankten Menschen kann schon die Vorstellung von Atemnot zu viel sein. Wieder andere können mit Luftröhrenschnitt und mobiler Beatmung gut leben, sich aber nicht vorstellen zu erblinden. Fußgänger können sich bisweilen schon nicht vorstellen, auf eine Prothese angewiesen zu sein oder im Rollstuhl zu sitzen. Und wieder andere ertragen das Leben an sich auch ohne all diese Malaisen, Behinderungen und Qualen nicht.
All das mag man nachvollziehen können oder nicht, oder manchmal schon und manchmal nicht – es sind sicherlich alles keine guten Gründe, auf die man gelassen und allgemeines Einverständnis signalisierend verweisen darf. Es sind jedoch genauso sicher Haltungen, Ausdruck von Verzweiflung am Leben oder Todesverachtung, die zu akzeptieren sind, auch wenn man sie im einzelnen Fall, wenn es Menschen betrifft, die man kennt und schätzt, nicht einfach und als unabänderlich hinnehmen darf und soll. Der Verweis auf Gott und das ewige Leben jedenfalls ist hier genauso wenig edel, hilfreich und gut wie der auf Gottes Tod oder schon lange erwiesene Nichtexistenz.
Vor allem aber geht es darum in dieser Diskussion auch nicht, denn – das müsste der kleinste gemeinsame Nenner sein – es sollten gerade alle Fragen, die mit Sinn, Wert und Qualität des Lebens im Allgemeinen zu tun haben, hier konsequent ausgeblendet bleiben.

Die Debatte über Suizid, Selbstmord oder Freitod und die möglicherweise notwendige Hilfe dazu, ist eine, die sich grundsätzlich auf den Einzelfall beschränken muss – und die damit in dieser Form gar nicht stattfinden kann, wie eindrucksvoll das Beispiel Udo Reiters klargemacht hat. Reiter, der für einen sanften, ärztlich begleiteten Suizid gestritten, der sich dafür in die atheistische nationale Koalition »Mein Ende gehört mir« eingereiht hatte, zog am Ende der Möglichkeit, von einem Arzt den Todescocktail zu nehmen, doch den Griff zur alten Faustfeuerwaffe vor und starb nicht freundlich und gelassen im Kreise seiner Familie, sondern entschlossen allein. Warum gerade an diesem Tag? Warum nicht mit einem flammenden Appell im Abschiedsbrief? Und war es wirklich, wie es scheinen musste, ein Bilanzsuizid oder nicht vielleicht doch, bei prinzipieller Bereitschaft sich zu töten, in dieser konkreten Stunde das Ergebnis einer Depression?
Und wie wäre hier die Freiheit des Einzelnen von einer unfreien Tat zuverlässig zu unterscheiden? Die Fragen mögen manchem schon suggestiv erscheinen, die Antworten wären reine Spekulation – selbst eine Tat, die scheinbar einfach zu verstehen ist, kann doch so viele Fragen aufwerfen, die Profis, Angehörige und erst recht herumpolitisierende Dritte ratlos zurücklassen.

Das, was Udo Reiter getan hat, so viel jedenfalls ist klar, konnte er tun – die Hindernisse auf diesem Weg waren, zumal für ihn, sehr niedrig. Es trifft nicht zu, das zeigen auch andere erzählte oder nicht erzählte Geschichten in dieser Debatte, dass wir einen ärztlich assistierten Suizid brauchen, um das ohnehin nicht existierende Recht, sich umzubringen, durchzusetzen. Es gibt auch ohne einen geregelten Katalog Mittel und Wege, mit oder ohne Unterstützung den eigenen Tod in Deutschland herbeizuführen, ohne sich vor den Zug zu werfen oder vom Hochhaus zu springen (abgesehen davon, dass auch im US-Bundesstaat Oregon und in der Schweiz, wo der ärztlich assistierte Suizid erlaubt ist, diese selbstgewählten Todesarten durchaus immer noch gang und gäbe sind und keineswegs durch Medikamentencocktails verdrängt werden).
Es geht um etwas anderes: Soll der Staat durch gesetzliche Regelungen normieren, unter welchen Bedingungen und wie er bereit ist, den Schutz des Lebens preiszugeben, den er schlechterdings zu gewährleisten verpflichtet ist? Das wäre der Fall, wenn der vom CDU-Politiker und Theologen (!) Peter Hintze propagierte zivilrechtliche Entwurf für eine Legalisierung des ärztlich assistierten Suizids Gesetz würde. Oder soll der Staat einer Entwicklung Einhalt gebieten, in der sogenannte Sterbehilfevereine den Suizid und ihre praktische Hilfeleistung dafür nutzen, sich einen Markt zu erschließen, auf dem sie möglicherweise zwar kein Geld verdienen, aber ideellen Gewinn abräumen und Werte etablieren, die dann eben nicht mehr nur auf den Einzelfall gemünzt sind? Sie befördern damit einen Trend zur Selbstanpassung an die gesellschaftlichen Verhältnisse, die als Selbstbestimmung daherkommt, die tatsächlich aber radikaler selbstaufgebend nicht vorstellbar ist.