Sexuelle Gewalt und rape culture in Brasilien

Auf zum Brustprotest

Brasilien gilt als sexuell besonders freizügig, doch Sexismus und Machismo sorgen nicht gerade für Freiheiten für alle.

In Brasilien beginnt ein heißer Sommer. Doch obwohl es den Ruf eines freizüzigen und stets unter sexueller Spannung stehenden Landes hat, muss in Brasilien, wie in anderen Ländern Lateinamerikas, hinsichtlich der Rechte sexueller Minderheiten und vor allem auch der Rechte von Frauen noch einiges getan werden. Vor noch nicht allzu langer Zeit, bis 1988, war etwa der Mord an der untreuen Ehefrau in Brasilien straffrei, elementare Rechte wie das auf Schwangerschaftsabbruch bleiben unerreicht, Abtreibung gilt weiterhin als Verbrechen. Während Frauen an den Stränden Bikinis tragen, die weltweit für ihre Knappheit berüchtigt sind, ist es ihnen weiterhin verboten, sich oben ohne zu sonnen, sie riskieren, dafür wegen »Unzucht« ins Gefängnis zu gehen.
Vor einem Jahr, am 21. Dezember 2013, riefen Feministinnen in Rio de Janeiro zum »Toplessaço«, einem Oben-ohne-Protest am Strand von Ipanema. Zu Beginn des Sommers sein Bikinioberteil abzulegen, sollte eine neue Ära einläuten. »Rio de Janeiro wird die WM, die Olympiade abhalten. Es muss sich auch hinsichtlich der Freiheit modernisieren«, erzählte die Schauspielerin Ana Paula Nogueira an jenem Tag aufgeregt der Zeitung Folha de São Paulo. Aber statt der 8 000 Frauen, die auf Facebook ihre Teilnahme zugesagt hatten, erschienen nur fünf, die sich den Dutzenden Kameras und Hunderten geifernden männ­lichen Blicken aussetzten. Als hätten sie noch nie im Leben Brustwarzen gesehen, rissen die Männer Witze und schrien »Ausziehen, ausziehen«. Das Ganze ähnelte einem öffentlichen Foto­shooting des Playboy, zwei Tage später erschienen Fotos von Nogueira auf Seite eins der Folha de São Paulo im Stile einer kleinen Pin-up-Fotoserie.
Während beim »Toplessaço« anwesende Frauen von einer entwürdigenden, voyeuristischen und aggressiven Atmosphäre sprachen, gab die Militärpolizei durch die Presse ihr positives Fazit der Veranstaltung zum Besten: Es habe keine »gewalttätigen Akte der Einmischung« gegeben und die Männer hätten nur »die Frauen umringt, da es etwas Ungewöhnliches ist«.

Dieser halb verständnisvolle, halb rechtfertigende Ton kommt immer dann, wenn jemand es wagt, öffentlich von machismo zu reden. Mehr als die Hälfte der Frauen in Brasilien wurde Statistiken zufolge schon am Arbeitsplatz sexuell belästigt, alle fünf Minuten wird eine Frau missbraucht und alle zwei Stunden wird eine Frau ermordet. Dabei ist zu bedenken, dass viele solcher Fälle gar nicht erst in offiziellen Statistiken auftauchen, angesichts der großen Scham, von diesen Vorfällen zu berichten, und wegen der fehlenden Professionalität und des Sexismus, mit dem Sicherheitskräfte betroffenen Frauen begegnen.
Die Belästigung im öffentlichen Raum ist eine der auffallendsten Erscheinungen. Das Bild des »heißen und leidenschaftlichen« lateinamerikanischen Mannes hilft bei der Konstruktion dieses Modells von Übergriffigkeit. Von klein auf sind Brasilianerinnen es gewohnt, belästigt zu werden, wenn sie aus dem Haus gehen. Die Kampagne »Chega de Fiu-Fiu« (in etwa: »Schluss mit dem Hinterherpfeifen«) der feministischen Gruppe »Think Olga« befragte im August 2013 etwa 8 000 Frauen zum Problem der Belästigung im öffentlichen Raum. Die Ergebnisse der Umfrage verdeutlichen, wie die ständige Zudringlichkeit den Gebrauch des öffentlichen Raums für brasi­lianische Frauen einschränkt: 81 Prozent der Befragten antworteten mit Ja auf die Frage: »Haben Sie schon einmal aus Angst vor Belästigung davon abgesehen, etwas zu tun (zu einem Ort gehen, an einer Baustelle vorbeigehen, zu Fuß gehen)?« 90 Prozent gaben an, aus Angst vor Belästigung ihre Kleidung gewechselt zu haben, als sie darüber nachdachten, wohin sie gehen würden.

Der Umfrage zufolge finden 64 Prozent der Übergriffe in öffentlichen Verkehrsmitteln statt, was die Fortbewegung von Brasilianerinnen im urbanen Raum direkt beeinflusst. 85 Prozent der Befragten gaben an, bereits gegen ihren Willen betatscht worden zu sein. Die Umfrage verdeutlicht außerdem, dass die Mehrheit (83 Prozent) es nicht mag, belästigt zu werden, entgegen dem in Brasilien herrschenden Vorurteil, Frauen schätzten derlei Annäherungen, da es sich »nur um ein Kompliment« handele – ein Argument, das dazu dient, sexuelle Belästigung zu normalisieren. Auf der Website von »Chega de Fiu-Fiu« gesammelte Berichte von Betroffenen über Belästigungen im öffentlichen Raum zeigen darüber hinaus, welche Unsicherheit und Angst Brasilianerinnen täglich durchleben.
Die Daten zeigen, wie rape culture in Brasilien fuktioniert, wie Frauen die Schuld für Übergriffe aufgrund ihrer Kleidung, ihres Verhaltens oder ihres Aufenthalts an bestimmten Orten zugeschrieben wird. Das heiße brasilianische Klima zwingt zu leichter Kleidung, aber während es für Männer unproblematisch ist, mit nacktem Oberkörper auf die Straße zu gehen, müssen Frauen vorsichtig dabei sein, wie sie sich anziehen. Im März veröffentlichte das brasilianische Statistikinstitut IPEA eine Umfrage, der zufolge 65 Prozent der Befragten glauben, eine Frau habe es verdient, bedrängt zu werden, wenn sie »Kleider trägt, die den Körper zeigen«. Zwei Tage später initiierte die Journalistin Nana Queiroz die Kampagne »Eu não mereço ser estuprada« (»Ich verdiene es nicht, vergewaltigt zu werden«). Tausende Frauen folgten ihrem Aufruf und veröffentlichten Fotos von sich und Plakaten mit dem Slogan und anderen Forderungen in sozialen Netzwerken. Als das IPEA danach die Zahlen in einer weiteren Umfrage korrigieren musste, rechtfertigte immer noch ein Drittel der Befragten sexualisierte Gewalt und diese Meinung fand viel Zuspruch in den sozialen Netzwerken.

Nicht umsonst fand die weltweite »Slutwalk«-Bewegung auch in Brasilien großen Anklang, als »Marcha das Vadias«. Die erste Demonstration mit Tausenden Menschen fand am 4. Juni 2011 in São Paulo statt, nach einer Initiative von Madô Lopez auf Facebook. Danach breiteten sich die »Slutwalks« auf ganz Brasilien aus. Sie lösten eine feministische Welle aus, diverse neue feministische Kollektive wurden gegründet.
Auch bei diesen Demonstrationen ist der Körper ein performatives Werkzeug. Aber anstatt zu einem einfachen »Toplessaço« rufen die Vadias zum »Peitaço«, bei dem die Frauen gemeinsam mit nackten Brüsten laufen, die nackten Oberkörper sind jedoch mit diversen Sprüchen bemalt. Bei solchen Aktionen kam es zu einigen Zusammenstößen mit der Militärpolizei, die Pfefferspray einsetzte, um die Frauen zu vertreiben. In den sozialen Netzwerken unterstehen Fotos der »Peitaços« ebenfalls der Zensur, weswegen die Aktivistinnen sie umso mehr teilen. Dies alles zeigt, wie ein einfacher, öffentlich gezeigter Busen in Brasilien immer noch ein Tabu darstellt.
Indianara Alves Siqueira, eine feministische Aktivistin, Prostituierte und Transsexuelle, rückte noch einen weiteren Widerspruch rund um das Thema in den Vordergrund. Sie wurde als Teilnehmerin des »Slutwalk« in Rio de Janeiro wegen »Unzucht« festgenommen, weil sie ihre Brüste öffentlich zeigte, zur selben Zeit kämpfte sie darum, dass ihre Geschlechtsidentität endlich als weiblich anerkannt wird. Als Mann dürfte sie wegen blanker Brüste nicht festgenommen werden; wird sie festgenommen, wird sie also als Frau anerkannt. »Die Justiz schafft ein Dilemma. Falls sie anerkennt, dass ich ein Mann bin, wie es in den Dokumenten heißt, gewährt sie mir das Recht, an jeglichem öffentlichen Ort mit nackten Brüsten umherzulaufen, wo Männer dies tun. Aber gleichzeitig wird festgestellt, dass Männer und Frauen nicht die gleichen Rechte haben«, konstatierte Alves Siqueira.

Aus dem Brasilianischen von Nicole Tomasek.