Ein besetztes Zentrum in Istanbul wurde geräumt

Besetzen gegen den Verfall

Anfang Dezember wurde ein besetztes Stadtteilzentrum in Istanbul geräumt. Die Gezi-Bewegung kämpft jedoch weiter gegen die autoritäre und konservative türkische Regierung.

Wie jeden Tag seit einer Woche waren auch am Morgen des 9. Dezember Dutzende Menschen zum Nachbarschaftshaus im Istanbuler Stadtteil Kadı­köy gekommen. Vor knapp einem Jahr war das marode, leerstehende Haus besetzt und das Stadtteilzentrum Caferağa Dayanışması Mahalle Evi eröffnet worden. Anfang Dezember dieses Jahres erhielten die Besetzerinnen und Besetzer einen offiziellen Räumungsbescheid von der Stadtverwaltung. Seither waren sie und ihre Unterstützerinnen und Unterstützer in steter Alarmbereitschaft. An jenem Dienstag machte die von der Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) regierte Stadtverwaltung ernst: die Polizei riegelte die Straßen ab und stürmte das Gebäude. Danach war es verwüstet, die Einrichtung kurz und klein geschlagen.
Bereits kurz nach der Besetzung am 11. Januar 2014 wurde das Haus zu einem beliebten Treffpunkt. Die Besetzerinnen und Besetzer hatten es aufgeräumt, geputzt und mit gespendeten Möbeln, Büchern, Musikinstrumenten, einem Foto­labor und einem Café ausgestattet. Außerdem machten sie Reparaturen und ließen Stück für Stück den früheren Glanz des Gebäudes in der Hacı Şükrü Sokak wieder aufleben. Über 100 Menschen kamen jeden Tag, besuchten Musik- und Sprachkurse, Literaturtreffen und Gartenbaukurse, organisierten Selbsthilfe oder saßen bei einem warmen Chai zusammen. Nachts wurde das Haus abgeschlossen, denn die Besetzerinnen und Besetzer waren übereingekommen, dass niemand in dem Haus schlafen sollte.
Für die Besetzung hatten sie eine rechtliche Grauzone genutzt. Das türkische Recht besagt, dass ein Haus nach 15 Jahren Leerstand an die Stadt übergeht. Dieses Haus stand jedoch erst zehn Jahre leer. »Wo kein Eigentümer, da keine Beschwerde«, dachte man sich. Zudem waren sich die Besetzerinnen und Besetzer der Unterstützung der Nachbarschaft sicher und hofften auf Hilfe von der Bezirksregierung der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP). Doch sie hatten die Rechnung ohne die Istanbuler Stadtverwaltung unter Oberbürgermeister Kadir Topbaş (AKP) gemacht, der denkmalgeschützte Gebäude unterstehen.

Die Stadtentwicklung unter der AKP kritisiert die Gezi-Bewegung seit ihrer Entstehung im Sommer 2013. Bald schon ging es ihr nicht mehr nur um den Schutz von Bäumen im Gezi-Park, sondern um generelle Kritik an der wachsenden Macht des türkischen Staates. Der Protest verlagerte sich an neue Orte: kollektive Cafés wurden gegründet, Stadtteilforen entstanden, Betriebe gingen in Selbstverwaltung über. Und einige Menschen fragten sich: Wenn wir schon aus dem öffentlichen Raum vertrieben werden, warum nehmen wir uns nicht die Häuser? Im Juli 2013 eröffnete das erste politisch besetzte Haus in der Türkei, Don Kişot Sosyal Merkezi. Anfang 2014 folgte das zweite, nun geräumte Caferağa Dayanışması Mahalle Evi. Beide lagen im linksliberal geprägten Bezirk Kadıköy. Dort, auf der asiatischen Seite Istanbuls, gibt es viele historische Gebäude, die vor sich hin rotten.

Dieser Verfall alter Gebäude ist in ganz Istanbul zu beobachten, verantwortlich dafür ist vor allem die AKP. Sie sichert sich ihre politische Macht durch den wirtschaftlichen Aufschwung und den Bauboom. Viele alte Gebäude mit europäischen Einflüssen werden dem Verfall preisge­geben, dann abgerissen und durch Großprojekte ersetzt. Sogar die Bebauung des Gezi-Parks ist trotz gerichtlichen Verbots wieder auf dem Tisch.
Die Hausbesetzerinnen und -besetzer hätten vor der Räumung eigentlich noch einen Termin beim Kaymakam Birol Kurubal, einem hohen Landesbeamten in Istanbul, gehabt. Doch nicht zum ersten Mal setzte sich die AKP-Regierung über geltendes Recht hinweg. Der Widerstand gegen die Politik der AKP und Präsident Recep Tayyip Erdoğans reaktionäre Pläne dürfte jedoch ungebrochen weitergehen, es ist bereits eine Wiederbesetzung geplant.