Die Gemeinde der Black Hebrews in Israel

Auf zu einem neuen Eden

1968 reiste eine kleine Gruppe Afroamerikaner nach Israel, um dort nach eigenen Vorstellungen zu leben. Die Gemeinde der Black Hebrews umfasst heute etwa 3 000 Mitglieder.

Von oben betrachtet ist Dimona eine in die rostrote Erde der Negev- Wüste eingesunkene Stadt mit schlichten, braunen Häusern und roten Dächern, gelegen in der Nähe eines nuklearen Forschungszentrums. Auf den zweiten Blick wird die Ärmlichkeit der Häuser und Bürogebäude sichtbar, man stellt sich müde Gesichter über Aktenbergen vor. Doch ist ein kleiner Teil der unscheinbaren Stadt das Zuhause der Black Hebrews, einer der ungewöhnlichsten ethnischen Gemeinden in Israel. Ihre Entstehung hängt eng mit der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung zusammen.
Am 3. April 1968, einen Tag vor seiner Ermordung, hielt Martin Luther King eine Rede: »Ich möchte nur Gottes Willen befolgen … Er hat mir erlaubt, den Berg zu besteigen. Von dort habe ich das gelobte Land erblickt. Ich werde vielleicht nicht mit euch gehen. Aber ihr sollt wissen, dass wir als ein Volk in das gelobte Land einziehen werden.« Die Worte Kings waren für den damals 29jährigen Ben Carter aus Chicago ausschlaggebend.
In den sechziger Jahren hatten sich in den Großstädten der USA afroamerikanisch-hebräische Kongregationen gebildet, auch Ben Carter gehörte einer solchen an. Bereits 1966 hatte er eine Vision: Ein Engel trug ihm auf, Amerika und die durch Sklaverei und Unterdrückung belastete amerikanische Kultur hinter sich zu lassen und zusammen mit Gleichgesinnten als legitime Nachfahren der zwölf Stämme Israels ins Heilige Land zurückzukehren. Noch im Jahr von Kings Tod und auf dem Höhepunkt der Bürgerrechtsbewegung reiste eine Gruppe Afroamerikaner, angeführt von Ben Carter, der zu Ben Ammi Ben-Israel wurde, von Chicago nach Liberia, an die Westküste Afrikas. Seit 1820 traditionelles Land der Rückkehr befreiter afroamerikanischer Sklaven nach Afrika, was Liberia für die »Black Hebrews« – auch »African Hebrews« genannt, nicht aber zu verwechseln mit den »African Hebrew Israelites« in den USA – ein symbolischer Ort. Von hier begannen sie den umgekehrten Exodus gen Israel. Nach einem langen Fußweg durch die Wildnis – etwa drei Viertel von ihnen gaben auf und kehrten in die USA zurück – und einer letzten Flugzeug­reise kamen sie am 1. Mai 1968 am Flughafen Ben Gurion an und ließen sich in der Stadt Dimona nieder.
Die Gemeinde der Black Hebrews umfasst heute etwa 3 000 Menschen, die hauptsächlich in Dimona leben, kleinere Gruppen haben sich in den Kleinstädten Arad und Mitzpe Ramon niedergelassen. Ihre Kultur entsteht aus einer ungewöhnlichen Interpretation des Alten Testaments und der Kultivierung eines gesunden Lebensstils. Denn die Black Hebrews begreifen sich als »Hebräer« – als Volk und nicht als religiöse Gruppe. Als Nachfahren der zwölf Stämme Israels, die seit der Zerstörung des Tempels durch die Römer in der afrikanischen und dann als Sklaven in der amerikanischen Diaspora lebten, legen sie die Tora neu aus.
»Wir feiern die üblichen jüdischen Feiertage«, erklärt Etay, der in Dimona geboren wurde und gelegentlich als DJ in Tel Aviv arbeitet, »aber nur die in der Bibel erwähnten: Rosch ha-Schana (Neujahr), Sukkot (Fest der Tabernakel), Shawuot (Fest der Übergabe der Torarollen durch Gott), Pesach, aber nicht Channuka. Neujahr fällt für uns allerdings nicht in den September, sondern in die Zeit Pesachs. Auch das Pessachfest variieren wir und lesen die Haggada nicht extensiv. Stattdessen gehen wir nach dem Essen der bitteren Kräuter und der Matze direkt zu einer großen Feier über. Sehr früh am nächsten Morgen verbrennen wir die Essensreste vom Vorabend. Mit Gesängen begrüßen wir dann das kommende neue Jahr. Auch haben wir keine festen Gebetsorte, viele Zeremonien finden im Freien statt, oft auf Bergen in der Nähe. Unser wichtigstes Fest ist der Dankbarkeitsmonat im Mai. Es ist die Feier der Ankunft der Black Hebrews in Israel, zu der Anhänger aus der ganzen Welt anreisen.«
Die meisten Anhänger der Black Hebrews leben bis heute in den Vereinigten Staaten. Der Austausch und Tourismus zwischen den Gemeinden war früher größer und erfolgte aus politischen Gründen; es waren Reisen aus Solidarität, bevor der Gemeinde 2003 das unbefristete Aufenthaltsrecht zugesprochen wurde. Bis dahin hatten die Black Hebrews nur einen temporären Aufenthaltsstatus und keine oder nur eine eingeschränkte Arbeitserlaubnis.
Die Black Hebrews konstituieren sich durch einen spirituellen Apparat. An der Spitze der Gemeinde stand bis zu seinem Tod Ben Ammi als Gründer und Oberhaupt, darunter folgten »Prinzen«, »Minister« und »Mutige« (nur in der letzten Gruppe wirkten auch Frauen). Der Apparat legt die Tora aus und erstellt Regeln zur allgemeinen Lebensweise: das Oberhaupt stimmt Ehen und Scheidungen zu, Polygamie ist erlaubt, Verhütung verboten, Söhne werden beschnitten, gelebt wird vegan, abstinent und jenseits von Massenware und Mainstream als Schreckgespenstern amerikanischer Konsumkultur.
»Der spirituelle Apparat leitet auch eine ›Schule der Propheten‹. Vom Gesichtspunkt des israelischen Bildungsministeriums geschieht dies jedoch inoffiziell«, sagt Etay bei Pfefferminztee. »Die, die wollen, können hier zu einer höheren Form der spirituellen Einsicht gelangen. Es gibt auch eine kleine, von der Gemeinde betriebene Klinik. Die meisten Babys werden hier geboren. Die Ärzte – sie haben wie unsere Lehrer an israelischen Universitäten studiert und sind dann nach Dimona zurückgekehrt – entwickeln die Ernährungsvorschriften der Gemeinde, denen sich alle anschließen. Wir haben eine eigene Schule, die bis zur zwölften Klasse geht. Eine Schule vom Bildungsministerium anerkennen zu lassen, hat bis 1992 gedauert, davor wurden die Kinder zu Hause von ihren Eltern unterrichtet.«
In Erinnerung an die Zeit der Sklaverei praktizieren die Black Hebrews den Stepptanz, der im 19. Jahrhundert auf Sklavenplantagen entstand. »Damals wie heute ist unser Körper tanzendes Instrument der Befreiung«, bemerkt ein alter Mann während einer Übungsstunde junger Tänzer in der Gemeindeturnhalle. Er gehört der ersten Generation der Black Hebrews an, die bei ihrer Ankunft in Israel amerikanische »Sklavennamen« in Derivate hebräischer Namen geändert haben: nicht mehr Julia sondern Eliezrah, aus Sandra wurde Yaffa, aus Malcolm Yoav und so fort. Bis zu seinem Tod oblag es Ben Ammi und nicht den Eltern, jedem Neugeborenen in Dimona einen Namen zu geben, »das verbindet uns alle mit ihm und schafft eine starke Gruppe«, sagt Etay.
Nach Jahrhunderten der Sklaverei und Diaspora sollte in Dimona ein neues Eden erschaffen werden, in dem Tod und Krankheit keinen Platz haben. Stattdessen wird das Leben besungen und kultiviert, etwa auf einem der eigenen, kleinen Weinberge am Rande der Stadt, vor allem aber in den Gemeinschaftsgärten der Black Hebrews. Unter bunten, schattenspendenden Tüchern sortieren hier zu Erntezeiten in afrikanische Gewänder gekleidete Frauen Gemüse. Der weiche Klang ihres mit hebräischen Brocken versetzten Englisch weht durch die Luft, man hört leises Lachen. Die Black Hebrews leben ausschließlich vegan und bauen ihr eigenes Gemüse an. »Bei unseren Rezepten geht es darum, ›Leben‹ zu essen, nicht den ›Tod‹, und den Geschmack des Lebens zu reproduzieren. Fleisch bedeutet Tod, Sonne und Leben aber stecken in den Pflanzen«, erklärt Yaffa, die in den frühen siebziger Jahren nach Dimona kam.
Die Gemeinde glaubt an einen holistischen und bescheidenen Lebensstil. Zigaretten, Drogen und Make-up sind verboten. Alkohol, außer der Wein aus eigener Herstellung, ebenfalls. Auf ihre Art initiierten die Black Hebrews die erste vegane Bewegung in Israel, die inzwischen weite Teile der Gesellschaft ergriffen hat. Doch rechtfertigt sich ihr Veganismus nicht so sehr aus tierrechtlichen Gründen, obwohl diese Bedenken inzwischen auch Teil der veganen Tradition der Gemeinde sind. Die Gründer hatten vielmehr die Vision einer Rückkehr in den Garten Eden, in dem die Menschen nur Obst und Gemüse aßen und das ewige Leben feierten. Der Gesundheit zuliebe befolgt die Gemeinde auch zuckerlose Wochen, Rohkostwochen und salzlose Tage. In Tel Aviv besitzen die Black Hebrews ein veganes Restaurant namens »Taste of Life«, doch ist nur wenigen bekannt, von wem das Restaurant betrieben wird.
Bekanntheit haben die Black Hebrews mit ihrer Musik erlangt. Ihre Bands spielen auf Hochzeiten, Bar Mitzwas und auf den Jerusalemer Musikfestivals im Herzen der Altstadt, dem Muristan Platz. An speziellen Musikfesttagen werden »positive Klänge« gehört, das heißt Musik, die von Gemeindemitgliedern komponiert wurde und den Vorstellungen der Black Hebrews von Bescheidenheit entgegenkommt. Der musikalische Mainstream hingegen fällt in die Kategorie »Maßlosigkeit«. Die 20jährige Sängerin Ahtaliyah Pierce zum Beispiel schaffte es 2013 bis ins Halbfinale der TV-Sendung »The Voice of Israel«.
Der Balanceakt, ein Star sein zu wollen und dabei das Bescheidenheitsethos der Gemeinde einhalten zu müssen, fiel der jungen Sängerin nicht leicht. In einem Interview mit der israelischen Zeitung Haaretz beschrieb Pierce ihren Wunsch danach, Erfahrungen außerhalb der Gemeinde zu sammeln sowie die Angst, Familie und Gemeinde zu enttäuschen. Anders Ben Blackwell. Der in Arad geborene 19jährige Rapper besingt in seinem Song »Israel we go hard« Israel als Land, in dem »Milch und Honig fließen«. Blackwell identifiziert sich im Gestus des black pride als Hebräer und tritt für die Rechte der äthiopischen Einwanderer ein, der größten jüdisch-afrikanischen Immigrantengruppe in Israel. Jenseits der Musik begreift die junge Generation der Black Hebrews sich zunehmend als integralen Teil der israelischen Gesellschaft. Erst seit etwa zehn Jahren absolvieren einige der jungen Gemeindemitglieder den Militärdienst und erlangten zudem die israelische Staatsbürgerschaft. »Für mich war der Militärdienst ein wichtiger Integrationsmoment«, erinnert sich Etay, »und ich kenne andere, denen es ähnlich ging. Die IDF tolerierte unseren Veganismus und wir lernten andere Leute kennen.« Inzwischen häufen sich Eheschließungen und Partnerschaften außerhalb der Gemeinde, ein paar wenige verlassen gar Dimona, um in Tel Aviv ihre Homosexualität offen auszuleben.
Vor 50 Jahren bedeutete der Exodus nach Israel für viele Black Hebrews die Entzweiung von ihren Familien in den USA. In den Augen vieler der Zurückbleibenden waren die Auswanderer schlichtweg verrückt. Am 27. Dezember 2014 starb Ben Ammi in Dimona. Einen Nachfolger gibt es bis heute nicht. Die ältere Generation befürchtet die zunehmende Entfremdung der Jungen von den Werten und Geboten der Gemeinde. Diese unterschwellige Angst schwingt in dem Dokumentarfilm »The Village of Peace« (2014) mit. Das Village of Peace ist ein Viertel, das die Black Hebrews in Dimona bewohnten. Hier werden der Schabbat gefeiert und nationale Treffen und Gemeindesitzungen abgehalten. Im Januar 2015 wurde der Film, produziert von Ben Shuder und Niko Philipides, auf dem Jerusalemer Filmfestival vorgestellt. Das Leben der Black Hebrews wird so erstmals filmisch dokumentiert. Vier Bewohner Dimonas, zwei junge und zwei der ersten Generation, erzählen die Geschichte ihrer Gemeinde von den Anfängen bis heute. In ruhigen Tönen und warmen Farben führt der Film den Zuschauer durch Familienabendessen, Hochzeiten, Schulstunden und Gruppen von Ehefrauen desselben Mannes, die zugleich auch beste Freundinnen sind, zum Ende des Films, dessen nachdenklicher Ton im Hinblick auf die Zukunft der Gemeinde der Black Hebrews in Dimona kein abschließendes Urteil zulässt.