Generalstreiks in Argentinien

Lieber aktiv streiken

Generalstreiks erfreuen sich in Argentinien großer Beliebtheit, auch am Dienstag vergangener Woche wurde das Land wieder einmal lahmgelegt. Doch nicht nur die Regierung kritisiert das Vorgehen der Gewerkschaftsbürokratie.

Das öffentliche Leben in Buenos Aires stand am 31. März weitgehend still. Kein Bus verließ das Depot und die Züge brachten nicht wie üblich Millionen Menschen aus den Vororten in die Hauptstadt. LKW-Fahrer verweigerten ihre Arbeit ebenso wie Bank- und Gastronomieangestellte. In den anderen Großstädten des Landes zeigte sich ein ähnliches Bild. »Sehr überzeugend« sei der 24stündige Generalstreik gewesen, bilanzierte der Generalsekretär des oppositionellen Gewerkschaftsverbands CGT Azopardo, Hugo Moyano, zum Abschluss des Protesttages. Zusammen mit den beiden anderen regierungskritischen gewerkschaftlichen Dachverbänden CGT Azul y Blanca und CTA Autónoma hatte seine Organisation zur massenhaften Arbeitsniederlegung aufgerufen, um der Forderung nach der Erhöhung des Steuerfreibetrags Nachdruck zu verleihen.
Die Regierung ließ durch Kabinettschef Aníbal Fernández mitteilen, die Gewerkschafter hätten die arbeitende Bevölkerung durch die Einstellung des öffentlichen Nahverkehrs erpresst und so Arbeitswillige von der Arbeit abgehalten. Die nach den Wahlen im kommenden Oktober aus dem Amt scheidende Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner legte nach. Es handele sich nicht um legitime Forderungen von Arbeitern, sondern um reine Opposition. »Anstatt die Regierung unter Druck zu setzen und den Arbeitern zu schaden, sollten sie lieber bei den Wahlen antreten«, sagte Cristina Kirchner. Moyano ist ein rechter Dissident des Kirchnerismus und will bei jeder Gelegenheit unter Beweis stellen, dass er ein Machtfaktor im Land ist.

Der Vorsitzende der CTA Autónoma, Pablo Micheli, entgegnete, die Regierung verkaufe die Bevölkerung für dumm. »Die Leute streiken, weil sie es leid sind, dass ihr Einkommen von der Inflation und den Lohnsteuern gefressen wird«, sagte der Vertreter der in linker Opposition zur Präsidentin stehenden Gewerkschaft. Moyano hob den außergewöhnlichen Umstand hervor, dass selbst regierungstreue Gewerkschaften ihren Mitgliedern freigestellt hatten zu streiken. Viele von ihnen hätten sich dem Streik angeschlossen und wegen des Erfolges werde man Mitte April wahrscheinlich zu einem 36stündigen Ausstand aufrufen.
Tatsächlich entsprach der Streik zum wiederholten Male der Stimmung vieler lohnabhängig Beschäftigter. Grund dafür scheint weniger die Sympathie für die korrupten Spitzen der Gewerkschaftsbürokratie zu sein als vielmehr eine allgemeine Unzufriedenheit. Kein Wunder angesichts der galoppierenden Inflation von rund 40 Prozent und der Verbreitung prekärer Arbeitsverhältnisse. Wegen des Totalausfalls des Verkehrs – zu dem Ausstand im Transportwesen kamen Blockaden wichtiger Zufahrtsstraßen durch linke Organisationen – ist das Ausmaß der Zustimmung jedoch schwer messbar. Viele Gewerbetreibende etwa kapitulierten bereits bei der Streikankündigung und beschlossen, ihre Geschäfte nicht zu öffnen.
Mit der Forderung nach Erhöhung des Steuerfreibetrags zielen die Gewerkschaftsführer auf ein strukturelles Problem. Gehälter müssen ab einem monatlichen Einkommen von 15 000 Peso (knapp 1 600 Euro) versteuert werden. Dieser Sockelbetrag ist seit Jahren nicht mehr angeho-ben worden. Dagegen wurden in den vergangenen Jahren die Löhne wegen der exorbitanten Teuerungsrate angehoben, wobei jedoch selten auch nur ein vollständiger Inflationsausgleich stattfand. Das Problem für die Gewerkschaftsverbände ist, dass etwa die erkämpften Lohnsteigerungen für Busfahrer durch die Lohnsteuer entwertet werden. So lässt sich keine Klientelpolitik machen.

Für die radikale Linke war der Generalstreik ein Dilemma. Entweder Mitmachen beim hierarchisch organisierten Streik der Gewerkschaftsbürokratie oder durch Stillhalten der Regierung und ihrer kapitalfreundlichen Politik zumindest implizit den Rücken stärken. Claudio Dellecarbonara, der Mitglied des Exekutivkomitees der U-Bahngewerkschaft AGTSyP ist, brachte das zwiespältige Verhältnis zum Ausdruck: »Wir vertrauen weder den Gewerkschaftsführern, die nach Monaten der Untätigkeit nun Wasser auf die Mühlen der Opposition kippen, noch denjenigen, die den Kirchnerismus unterstützen.« Die kirchneristische Steuer- und Wirtschaftspolitik hat trotz anderslautender Rhetorik in den vergangenen zwölf Jahren die Interessen der ökonomisch mächtigen Gruppen niemals grundlegend angegriffen. In Argentinien werden beispielsweise auf Bergbau- und Finanzgewinne keine Steuern gezahlt.
Die meisten kapitalismuskritischen Linken wie das trotzkistische Parteienbündnis FIT (Front der Arbeiter) beteiligten sich letztlich am Streik, versuchten aber, die Proteste zu radikalisieren. Die FIT, der auch Dellecarbonara angehört, betrieb in Abgrenzung zu dem passiven Fernbleiben der Gewerkschaftsbosse einen »aktiven Streik«. Die Mittel der Linken waren Betriebsversammlungen und Straßenblockaden, um den Forderungen nach Lohnerhöhungen und der Regularisierung von informellen Anstellungsverhältnissen Nachdruck zu verleihen.
Außerdem wird derzeit ein eigenes Programm kämpferischer gewerkschaftlicher Strömungen entworfen. Der zentrale Kritikpunkt an der Forderung Moyanos ist die relativ geringe Zahl derjenigen, die von dem Effekt der in Deutschland als kalte Progression bezeichneten Steuerregelung betroffen sind. Denn die Hälfte der Angestellten verdient nicht einmal 5 500 Peso (575 Euro) und muss sich daher in absehbarer Zeit keine Gedanken um Lohnsteuern machen. Das ist wahrscheinlich auch ein Grund dafür, dass die FIT in den jüngsten Regionalwahlen als drittstärkste Kraft mehr als reine Achtungserfolge erzielen konnte.