Das Buch »Die Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz in der Einwanderungsgesellschaft«

»Was mach’ ich nun mit meinen Türken?«

Der Holocaust im multikulturellen Klassenzimmer: Wie soll der Geschichtsunterricht in der Migrationsgesellschaft aussehen?

Er meint es nur gut, der Grundschullehrer, der auf dem Ausflug mit seiner dritten Klasse zufällig am Mahnmal für die ermordeten Juden Europas vorbeikommt. Spontan hält er einen Fünfminutenvortrag über die Shoah. Zwei Jungs stecken irgendwann die Köpfe zusammen und kichern. Warum sie das tun, ist dem Lehrer auf Anhieb klar: »Onur, Hakan, ihr lacht, weil ihr das Wort Juden gehört habt. Aber ihr braucht gar nicht zu lachen, euch hätten die Nazis damals auch umgebracht.« Als Assistenzlehrerin begleite ich die Klasse heute zum ersten Mal. Und ich bin von der schnellen Interpretationsleistung des Lehrers irritiert: Innerhalb von Sekunden steht fest, worüber die Kinder lachen und warum gerade diese Kinder es tun.
Es herrscht nahezu Konsens, dass Antisemitismus unter Migranten und Migrantinnen, insbesondere unter muslimisch geprägten Jugendlichen, weiter verbreitet sei als in der Mehrheitsgesellschaft. Dass Studien, wie der Antisemitismusbericht der Bundesregierung oder die Mitte-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung, vor allem vermuten lassen, dass ein Fünftel der Gesamtbevölkerung antisemitische Denkmuster vertritt, ändert daran wenig.
Angesichts dieser Vorannahme scheint es nur logisch, neue Unterrichtskonzepte zu entwerfen, die sich auch an muslimische Jugendliche richten – insbesondere dann, wenn der Nationalsozialismus und die ihm zugrundeliegende antisemitische Denkstruktur auf dem Lehrplan stehen.
Situationen wie die vor dem Denkmal sind auch der Autorin Rosa Fava vertraut. Die ehemalige Geschichtslehrerin hat in ihrer Dissertation Prozesse des »Othering« untersucht. Ihr Buch »Die Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz in der Einwanderungsgesellschaft«, eine Analyse erziehungswissenschaftlicher Literatur zum Thema, ist nun im Metropol-Verlag erschienen. Ihre These: Die Wahrnehmung einer durch Zuwanderung veränderten Gesellschaft führt dazu, dass Individuen nach ihrer Herkunft differenziert und unterschiedlich behandelt werden. Dieses Vorgehen und die zugrunde liegende Annahme, Schüler und Schülerinnen mit Migrationshintergrund benötigten eine besondere Ansprache, bezeichnet Fava als rassistische Praxis.
Bei unserem Treffen im Café erzählt Fava von ihren Schlüsselerlebnissen. Während ihrer Tätigkeit als Bildungsreferentin in den KZ-Gedenkstätten Dachau und Neuengamme fiel ihr die besondere Erwartungshaltung der Lehrkräfte auf. Sie hofften, von ihr Handlungsanweisungen für den Umgang mit migrantischen, insbesondere muslimischen Schülern und Schülerinnen zu erhalten, im Sinne der Frage eines Lehrers: »Was mache ich denn nun mit meinen Türken?« Der Ansatz, zunächst eigene Einstellungen und Wissensbestände zu überprüfen, statt Jugendliche nach Herkunft unterschiedlich anzusprechen, habe nicht allen gefallen.
»Meiner Erfahrung nach ist der Holocaust als Unterrichtsthema viel weniger problematisch, als er dargestellt wird«, sagt Fava. Denn das eigentliche Lernziel, nämlich »über das NS-System Bescheid zu wissen, darüber, wie es zu den Verbrechen kommen konnte, welche historischen Ereignisse, welche Denkstrukturen den Holocaust möglich machten«, gelte für alle Jugendlichen, unabhängig von Herkunft und Familiengeschichte.
Die Abwehr des Themas, der Unwille, sich mit – auch dem eigenen – Antisemitismus zu beschäftigen, sei nichts Neues und keineswegs Migranten und Migrantinnen vorbehalten. So sei etwa ein Bewusstsein über die Nachwirkungen des NS-Systems in der BRD und der DDR kaum vorhanden: »Diese Kontinuitätslinien finden erst sehr langsam Eingang in Bildungskonzepte.«
Die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA), zu deren Gründungsmitgliedern Fava zählt, ist eines der ersten Projekte, die explizit Angebote für die Migrationsgesellschaft erstellt haben, etwa Unterrichtsmaterial zur Biographie des türkischen Juden Isaak Behar. Diese Herangehensweise findet Fava inzwischen aber problematisch: »Wieso sollen sich Jugendliche, die oder deren Eltern aus der Türkei kommen, nur mit einem Türken identifizieren können? Und warum werden Migranten und Migrantinnen per se als Türken konstruiert?«
Ausgerechnet beim Thema NS und Holocaust werde auf die Bedeutung nationaler Verbundenheit gepocht. »Niemand behauptet, wir könnten die französische Revolution nicht verstehen, weil das ja Teil der französischen Geschichte ist.«
Natürlich sei die Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte für viele der erste Anlass, sich mit dem Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Auch die Haltung gegen Entschuldungsdiskurse wie die »Mein Opa war kein Nazi«-Rhetorik der neunziger Jahre nennt Fava als wichtigen Schritt. »In der Konsequenz führt die Fokussierung auf die Familiengeschichte der großen Mehrheit nicht-verfolgter Deutscher aber zu einer Reduzierung auf einen personalisierten Schuld-Diskurs. Das wird der Thematisierung des Nationalsozialismus nicht gerecht«, sagt Fava. Außerdem sei eine Homogenisierung die Folge, die den Nachkommen von Opfern oder Widerstandskämpfern und -kämpferinnen, die auch in den Klassen säßen, nicht gerecht werde. »Das schließt ausgerechnet die verfolgten Gruppen vom Deutschsein aus.« Die Zielgruppen pädagogischer Konzepte seien immer vielfältig, ob in Gedenkstätten oder Schulklassen.
Das Motiv, den Holocaust als ein »deutsches« Thema zu definieren, mit dem sich Nichtdeutsche anders zu beschäftigen haben, weil ihnen der persönliche Zugang fehle, vermutet Fava in der Pflege des Selbstbilds der Deutschen als geläuterte Nation.
Eine bereits 2008 ausgewertete Studie lässt noch auf ein weiteres Problem schließen, das auch Fava anspricht. Anhand von 60 Interviews an bayerischen Schulen aller Typen wurde untersucht, wie Schüler und Schülerinnen und Lehrkräfte den Unterricht zum Holocaust wahrnehmen. Die Sozialpsychologin Angela Kühner stellt in ihrer Auswertung der Studie fest, die Orientierung an Begriffen wie Verantwortung und Schuld erschwere es vielen Lehrkräften, den Holocaust zu behandeln – denn ihr eigentliches Lehrziel sei es, Betroffenheit auszulösen. Und die ist schwer zu überprüfen. Einige Lehrkräfte unterstellten Jugendlichen mit Migrationshintergrund, zu dieser Betroffenheit nicht fähig zu sein.
So zitiert Kühner einen Lehrer, der von den Reaktionen seiner Schüler und Schülerinnen berichtet. Die seiner Meinung nach umfassende Aufarbeitung der nationalen Schuld in Deutschland könnten Migranten und Migrantinnen nicht begreifen: »Dem Türken ist das suspekt.« Eine Schülerin aus der Ukraine sagt dagegen über ihre deutschen Mitschüler und Mitschülerinnen: »Die wollen nur so immer, also höflich sein und die sagen immer, es tut mir leid und so. Aber es tut ihnen gar nichts leid.«
Das Einbeziehen anderer biographischer Hintergründe vermeiden Kühner zufolge viele Lehrkräfte auch aus Angst vor Vergleichen. Die Gefahr einer Relativierung des Holocaust durch den Vergleich mit anderen Erfahrungen von Flucht und Verfolgung sei »eine der möglichen Beunruhigungen, die Jugendliche mit Migrationshintergrund auslösen können«. Dabei sei die Annahme, »dass vielfältige familiäre Bezüge etwas ganz Neues in der Vermittlung von Nationalsozialismus und Holocaust seien«, absurd: Denn vielfältig zusammengesetzt sind Klassen längst, »wenn in Schulklassen zum Beispiel Kinder/Enkel von größeren oder kleineren Mittätern versus Verfolgten oder auch Flüchtlingsfamilien versus Einheimischen zusammen lernen«.
Anders als Rosa Fava hält Anne Goldenbogen den biographischen Hintergrund der Jugendlichen für bedeutsam bei der Konzeption von Bildungsangeboten. Goldenbogen arbeitet bei der KIgA. Ein Auslöser für die Gründung der KIgA im Jahr 2003 war der Umstand, dass antisemitische Äußerungen in Kreuzberg zunahmen. Migrantische Jugendliche bezögen sich häufig auf ihre Herkunft oder die ihrer Eltern, sagt Goldbogen. Erfahrungen aus dem Nahost-Konflikt würden dabei teilweise zur Begründung judenfeindlicher Einstellungen herangezogen.
Vor der Gefahr, migrantische Jugendliche durch gesonderte Unterrichtskonzepte erst zu »Anderen« zu machen, warnt auch Goldenbogen. Denn »nicht alle palästinensischen Jugendlichen zum Beispiel haben Lust, über das Thema zu reden. Aber es gibt bei einigen das Bedürfnis.« Ihre Workshops an Schulen und mit Jugendgruppen führt die KIgA mit gemischten Teams durch: »So sind die Jugendlichen besser zu erreichen.«
Ihrer Erfahrung nach ist die verbreitete Annahme falsch, dass migrantische Jugendliche keine Empathie mit den ermordeten Juden und Jüdinnen verspürten. »Aber Betroffenheit allein verhindert keine antisemitischen Einstellungen.« Notwendig seien deshalb Konzepte, die Wissen vermitteln. Denn eine Aussage wie »Ich dachte, dass Juden in Deutschland keine Steuern bezahlen« beruhe oft auf Unwissen.
Wissensvermittlung für heterogene Zielgruppen steht auch für Giulia Tonelli im Mittelpunkt. Sie ist Bildungsreferentin am Berliner Anne-Frank-Zentrum. Die ständige Ausstellung des Zentrums stelle einen Bezug zur Gegenwart her, erklärt sie: »Ein Teil der Ausstellung ist anhand von fünf Referenzpunkten aufgebaut, die sich am Tagebuch der Anne Frank orientieren, beispielsweise Identität und Zukunftsträume. Das sind Fragen, mit denen alle Jugendlichen etwas anfangen können, ganz unabhängig vom biographischen Hintergrund.« In Workshops für Jugendliche und Multiplikatoren gehe es insbesondere um die Selbstreflexion der Teilnehmenden, so Tonelli. »Heterogenität« der Zielgruppen will das Zentrum dabei als umfassendes Konzept verstanden wissen – etwa in Hinblick auf Alter, Geschlecht, Herkunft oder den Bildungshintergrund.
Anne Goldenbogen hofft auf eine verstärkte Kooperation zwischen Schulen und externen Experten und Expertinnen. Denn Lehrkräfte an Schulen könnten schon aus Zeitgründen manchmal nur mit Verboten auf problematische Äußerungen reagieren. »Auf Vorurteile kann aber nur eingegangen werden, wenn sie – in erträglichen Grenzen – verbalisiert werden können.«
»Engagement gegen Antisemitismus und Rassismus« müsse das Leitziel der Bildung zum Nationalsozialismus sein, betont Rosa Fava im Gespräch. »Aber als Aufruf zum Handeln statt als reines Moralisieren.« Es müsse aufgehört werden, »Schüler und Schülerinnen gerade dann nach Abstammung zu differenzieren, wenn diese sich damit befassen, wie die Nationalsozialisten Deutsche und andere auf Grundlage von Abstammungskriterien erschufen«, schreibt sie in ihrem Buch.

Rosa Fava: Die Neuausrichtung der Erziehung nach Auschwitz in der Einwanderungsgesellschaft. Eine rassismuskritische Diskursanalyse. Metropol-Verlag, Berlin 2014, 397 Seiten, 24 Euro