Holly Herndons neues Album »Platform«

Zu Tisch mit einem Mikrophon

Zweieinhalb Jahre nach der Veröffentlichung ihres Debütalbums »Movement« setzt Holly Herndon an, mit »Platform« alle zu verwirren.

Holly Herndon spielt den Laptop. Vor 15 Jahren hätte dieser Satz weniger aus der Zeit gefallen geklungen. Um die Jahrtausendwende eroberte das Powerbook die Clubbühnen, ein Entwicklungsschub bei Mikroprozessoren und Audio­software mit Echtzeitbedienung machten es möglich. Und wie so häufig, wenn neue Technologie in den Massenmarkt drückt, wurde damit experimentiert. Das Resultat: bis in kleinste Körnchen zerlegte Samples – Clicks und Cuts.
Heute ist der Laptop auf der Bühne Alltag, nur das Experiment ist verschwunden. Auf großen Raves muss er als Rechenknecht möglichst viele Audiospuren und Effekte gleichzeitig abfeuern. Im »Underground«, also dort, wo der Brotjob genügend Geld für experimentelle Musik als Hobby abwirft, ist er dagegen vom in der Boutique selbst zusammengestellten Modularsynthesizer abgelöst worden – egal ob für Drones oder brutalen Techno. Holly Herndon gehört zu den wenigen Elektronikmusikerinnen, die den Laptop wie ein eigenes Instrument spielen und nicht zur digitalen Nachahmung einer analogen Soundquelle nutzen. »Ich möchte nicht hören, wie jemand eine längst vergangene Ära emuliert«, sagte sie neulich dem Wire-Magazin.
Aber es wäre falsch, Holly Herndon auf ihren Rechner zu reduzieren. Zwar schreibt sie eine Doktorarbeit am Computermusikzentrum CCRMA an der Universität Stanford, aber ihre Musik lebt von etwas anderem: ihrer Stimme. Als Teenager sang sie in Tennessee im Chor und auch auf ihrem neuen Album »Platform« bearbeitet sie ihre eigene Stimme so, als wäre sie viele. Schon im ersten Song »Interference« sirren die Stimmfetzen durch den Raum, verdoppeln und verdreifachen sich, bevor sie sich wieder ins Rhythmusraster einpassen, aus dem sie dann schnell wieder ausbrechen. In »An Exit« multipliziert Herndon ihre Stimme, bis in einem Moment ein ganzer Chor aus den Boxen tönt.
Immer wieder wird die Stimme in ihrer Musik zum Objekt unerreichbaren Begehrens. Worte sind in diesen Momenten unwichtig, nur die mit Software gedehnten und modulierten Stimmpartikel zählen. In den schönsten Passagen werden die Sprachfetzen dabei uneindeutig, verlieren ihre Konnotation von Klasse oder Geschlecht und entwickeln sich damit zum Gegenpol der digitalen Assistenten von Apple oder einer beliebigen Warteschleifenansage. Die digitalen Dienstleister sind weiblich, Herndons Stimme wird immer mal wieder geschlechtslos.
Aber unter der hypnotischen Oberfläche von »Platform« verbirgt sich ein Konzept. Es soll ein Album für Heute sein, die Gegenwart über Musik erschließen. Der Albumtitel »Platform« ist vom englischen Architekten Benedict Singleton inspiriert, der Überlegungen anstellt, wie man die Plattformen, auf denen man kommuniziert, zu einem öffentlichen Raum machen könnte statt der eingehegten und privatisierten Datensilos, die sie derzeit sind – als Exit-Strategie anstatt als Eskapismus in eine prädigitale Vergangenheit. »To change the shape of the future, to be unafraid«, heißt es an einer Stelle in »Unequal«. Dabei verzichtet Herndon weitgehend auf retrofuturistischen Kitsch, sondern begreift die Gegenwart als Ansammlung von Daten, die dann wiederum als Rohmaterial für ihre Songs dienen.
»Chorus« ist aus verschiedenen Audiofiles montiert, die sich auf Herndons Rechner befanden und das Nebenprodukt ihrer Internetkommunikation sind: »temporäre« Dateien, die niemals gelöscht wurden. Herndon macht daraus einen Song, der sich am klassischen Popsong orientiert: Strophe-Refrain-Strophe-Refrain-Solo-Refrain. Nur dass sich die Stimm-Samples im Laufe des Liedes multiplizieren und sich die Datenspuren eben nicht zu einem Bild zusammenfügen, das letztlich auf sie selbst verweist, sondern zu beliebigen Formen zusammengefügt werden können. Denn trotz ihrer Fixierung auf die Gegenwart wählt Herndon nicht die Strategie der Überaffirmation. »I feel like I’m home on my own/And it feels like you see me«, singt sie in »Home« und beschreibt damit fast eine klassische Horrorfilmszene.
Aber ihr Zuhause ist kein Gebäude, sondern die Architektur ihres Computers, der ihr unheimlich geworden ist, weil sich darin jemand anderes eingenistet zu haben scheint. Im Videoclip zu »Home« legt sich ein Filter zwischen Herndons Gesicht und die Kamera. Herndon schaut wie auf einem biometrischen Passbild geradeaus, davor fliegen die Embleme der neuen Herren über ihren Rechner: die Logos von NSA, Prism und X-Keyscore. Dabei ergibt sich ein Kontrast, der typisch ist für »Platform«. Herndon erzählt vom Schrecken, aber sie ergötzt sich nicht am Szenario der totalen Überwachung digitaler Kommunikation. Stattdessen sabotiert sie den sanften Schauer der Gewohnheit, indem sie »Home« mit Fieldrecordings und bearbeiteten Sounds von Kontaktmikrophonen immer wieder aus der Bahn wirft.
Angesichts der immergleichen Abfolge aus Empörung über die Ungeheuerlichkeit der Überwachung und der politischen Folgenlosigkeit der Enthüllungen von Edward Snowden oder Chelsea Manning ist das vielleicht eine sinnvolle Strategie, anstatt mit dem Gruselsoundtrack in der NSA-Berichterstattung einfach fortzufahren. »Collusion«, eine Performance mit Reza Negarastani, verläuft nach einem ähnlichen Muster. Herndon setzt sich an einen Tisch mit Laptop und Mikrophon, dessen Sound sie live bearbeitet. Sie beginnt mit einem leisen Drone, die Bewegungen des Mikros verdichten sich zu einem Rhythmus, und als dieser nach gut 20 Minuten eine Art Groove andeutet, klappt Herndon ihren Laptop zu und die Performance ist vorbei.
Musik sollte der Kommunikation dienen, hat Herndon mal in einem Interview gesagt – selbst wenn sie darin besteht, die Kommuni­kation einfach abzubrechen, wenn sich gerade eine Selbstverständlichkeit eingestellt hat. Wobei diese Selbstverständlichkeit auch nur für den Kreis an Musiknerds existiert, der sich zwischen Echtzeitmusik, Synthesizer-Jams in Kunsträumen und Clubabenden bewegt. Holly Herndon kann alle verwirren – die abgebrühten Noisefans, weil sie auf dem Ausdruck der Stimme beharrt. Und die Stimmverliebten, weil ihr Gesang nie eine ozeanische Erlösung andeutet. Es gibt schlechtere Ausgangsplattformen.

Holly Herndon: Platform (4ad/Indigo)