Der Dokumentarfilm »Eine deutsche Jugend«

Die Macht und die Gewalt der Bilder

Jean-Gabriel Périots Dokumentarfilm »Une Jeunesse Allemande« ist eine Zeitreise ­zurück in die bleierne Zeit der Bundesrepublik.

Jean-Gabriel Périots Mittel sind nicht die eines klassischen Filmemachers, sondern die eines Videokünstlers und Cutters: Der 1974 geborene Franzose hat visuelle Kommunikation studiert. In seinem ersten Langfilm stellt er aus found footage zur Geschichte der RAF – Ausschnitten aus Talkshows, zeitgenössischen Kurzfilmen, Fernsehberichten – eine Collage zusammen, die fast ohne Off-Kommentar auskommt und zu einer subjektiven Chronologie wird. »Für mich geht es beim Filmemachen nicht um Antworten oder darum, einem Publikum Wissen zu vermitteln. Filmemachen ist für mich ein Weg, Fragen zu stellen«, erklärte Périot 2013 in einem Interview. Seine Montagetechnik hat er in Kurzfilmen zu so unterschiedlichen Themen entwickelt wie der Aufarbeitung der französischen Kollaboration mit den Nazis, G8-Gipfeltreffen oder dem Atombombenabwurf auf Hiroshima. Gemeinsam haben diese Filme eines: Sie verzichten auf explizite Kommentare und verraten dennoch einen subjektiven Standpunkt. So zeigt der Kurzfilm »Dies Irae« minutenlang nichts als Straßenzüge, Wege, Eisenbahngleise, die in hoher Geschwindigkeit abgefilmt werden. Am Schluss mündet der Weg mit kalter Präzision in die Einfahrtsrampe des KZs Auschwitz-Birkenau.
Bereits im Jahr 2011 drehte Périot mit »Looking at the Dead« einen ersten Kurzfilm zur RAF, inspiriert von Gerhard Richters Gemäldezyklus zu den Bildern der toten Ulrike Meinhof. Für »Une Jeunesse Allemande« hat er Hunderte Stunden an Material gesichtet und die bekannten Bilder neu zusammengesetzt. Herausgekommen ist dabei nicht nur ein Film über die RAF, sondern auch ein Kommentar zum Medium Film als politisches Instrument. Einen »fröhlichen Mainstream-Schredderer« hat Grit Lemke, die Leiterin der Dok Leipzig, Périot einmal genannt. Selbst wenn er in In­terviews immer wieder betont, dass er nicht an die aufklärerische oder sogar revolutionäre Macht von Filmen und Kunst im Allgemeinen glaubt: Die Macht der Bilder beweist seine Collage sehr eindrücklich.
Die erste Einstellung zeigt Studenten, die Anfang der sechziger Jahre für einen Dokumentarfilm Passanten nach ihrer Rolle in der NS-Zeit befragen. Die Szene endet mit einer Ohrfeige, die ein Befragter der unsichtbaren Person hinter der Kamera verpasst. Als Frechheit empfindet er die Fragen der Filmenden. Diese Bilder zeigen zweierlei: die Macht der Kamera als entlarvendes Instrument der Aufklärung – und die Gewalt, mit der dieser entlarvenden Kritik oft begegnet wurde und wird.
Dass der Gewaltbegriff allerdings meist selektiv angewendet wird, illustriert ein weiterer Ausschnitt: Eine Talkshow im französischen Fernsehen zum Thema »Weltweite Gewalt« befasst sich weder mit aktuellen Kriegen noch mit Apartheid oder häuslicher Gewalt. Ausschließlich der »politische Terrorismus« wird als »Gewalt« verstanden.
Das politische Klima, in dem sich Apo, RAF und die Bewegung 2. Juni entwickelten, wird anhand solcher Bilder deutlich: Die Verdrängung der NS-Geschichte, Autoritätshörigkeit und der Wunsch, das Bestehende nicht hinterfragen zu müssen, prägen den gesellschaftlichen Alltag.
Film als Mittel der kritischen Geschichtsdeutung kann Verdrängtes sichtbar machen und zur Auseinandersetzung anregen: Ulrike Meinhof wird von Périot zunächst als kritische Journalistin präsentiert, die ebenfalls mit Filmen gearbeitet hat. Auszüge aus ihren Filmen, allen voran der Fernsehfilm »Bambule« über die autoritären Methoden in Erziehungsheimen, zeigen, wie sie versucht hat, publizistisch die Öffentlichkeit zu erreichen. In Interviewpassagen erscheint sie dennoch äußerst skeptisch, ob mit Filmen und Texten überhaupt etwas zu erreichen sei. Die Frage nach ihren eigenen Einflussmöglichkeiten als Kolumnistin verneint sie sehr bestimmt. Die spätere Entscheidung, sich der RAF anzuschließen, scheint sich in dieser Resignation schon anzudeuten. »Gegen Napalmbomben helfen keine Filme über verbrannte Kinder«, heißt es selbstkritisch in einem anderen zitierten Film.
Diese Widersprüchlichkeit hat Périot in einem Interview benannt: »Wenn wir wirklich glauben, dass wir die Welt verändern müssen, müssen wir handeln, statt Filme zu machen.« Die feministische Filmemacherin Helke Sander kommentiert auf einem studentischen Kongress die veränderte Arbeitsweise linker FilmemacherInnen: »Wir tun nicht mehr so, als gäbe es eine wertfreie, objektive Berichterstattung.« Das lässt sich auch als Kommentar zu Périots Film verstehen.
Die Filme von Studierenden der Deutschen Film- und Fernsehakademie (DFFB), wie dem späteren RAF-Mitglied Holger Meins wirken heute lachhaft hölzern und wenig subtil. Dass keine anderen Mittel als die der hämmernden Agitation zur Verfügung standen, kann jedoch auch als Folge des Faschismus gesehen werden. Die neue Filmsprache der zwanziger Jahre, Experimentierfreude und Gesellschaftskritik wurden durch Berufsverbote, durch Ermordung und Vertreibung vieler Filmschaffender unterbrochen. So musste dort wieder angesetzt werden, wo Jahrzehnte zuvor der Agitprop aufgehört hatte.
Périot lässt die RAF-Mitglieder selbst zu Wort kommen. Dies dient jedoch keiner unkritischen Ideologiebildung. Denn die inneren Widersprüche der RAF und ihr politisches Scheitern auf ganzer Linie zeigt der Film sehr präzise auf. Dass es ihr an keiner Stelle gelungen ist, die sogenannten Massen von der Notwendigkeit gesellschaftlicher Veränderung zu überzeugen, erweist eine zeitgenössische Passantenbefragung anlässlich der Entführung der Lufthansa-Maschine »Landshut«. Von Identifikation mit der RAF kann da keine Rede sein, nicht einmal von Sympathie mit ihren Zielen. Stattdessen plädieren die befragten Bürger für eiserne Härte: einsperren, bestrafen, aufhängen. Kein Zufall, dass Périot ausgerechnet ­einem Filmemacher den Kommentar zu dieser Entwicklung überlässt: Rainer Werner Fassbinders Gespräch mit seiner Mutter, sein Beitrag zum Episodenfilm »Deutschland im Herbst«, fasst die Wut über das selbstgerechte Demokratieverständnis braver Bürger am besten zusammen.
»Une Jeunesse Allemande« lässt sich als chronologischer Abriss lesen, angefangen beim Tod Benno Ohnesorgs und endend mit dem Tod der Gefangenen in Stammheim. Dass Périot dabei einige Fehler unterlaufen – so wird im Untertitel behauptet, »Bambule« sei bis heute nie gezeigt worden – ist verzeihlich. Schade ist, dass er die Debatte über die Einschränkung von Bürgerrechten nur streift, die mit dem staatlichen Kampf gegen den Terrorismus einherging. Diskussionen über den Einsatz von ­illegalen Abhörmethoden, V-Personen und andererseits die Umgehung des Kontaktverbotes durch die Gefangenen in Stammheim kann er schon deshalb nicht aufnehmen, weil er sich auf zeitgenössisches Material beschränkt. Auch der Antisemitismus der RAF spielt keine Rolle, ebenso wenig wagt sich Périot an die Frage der Legitimität von Gewalt heran. Im Regiekommentar heißt es zur Motivation Meinhofs, zu den Waffen zu greifen, nur lakonisch: »All diese Interpretationen können richtig oder falsch sein und bleiben dennoch immer un­vollständig und maskieren, dass ihre Wahl der Gewalt letztlich unbegreiflich bleibt.«
In erster Linie gelingt dem Regisseur eine filmische Zeitreise in diese tatsächlich bleierne Zeit. Wenn der zum Talkshow-Star avancierte Helmut Schmidt zwar Holger Meins als »Opfer einer blindwütigen Ideologie« beklagt, jedoch beschwörend hinzufügt, niemand solle vergessen, dass er einer gewalttätigen Organisation angehörte, klingt das fast, als wolle er ihm, dem Terroristen, das Lebensrecht absprechen.

»Une Jeunesse Allemande – Eine deutsche Jugend«. ­Dokumentarfilm von Jean-Gabriel Périot. Kinostart: 21. Mai