In Warschau feierte Frontex den zehnten Geburtstag

Im Herz der Festung

Vergangene Woche feierte die Europäische Grenzschutzagentur Frontex ihr zehnjähriges Bestehen. Vor dem Hauptquartier der EU-Behörde in Warschau gab es Proteste von Geflüchteten und ihren Unterstützerinnen und Unterstützern. Die antirassistische Bewegung in Warschau ist nicht groß. Ihr Zuhause ist das besetzte Haus Syrena.

Die Menge schweigt. Nur die Fahne der »Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union«, besser bekannt als Frontex, flattert gemächlich im Wind vor dem fast fertig gebauten Hochhaus in der Warschauer Innenstadt. Auf der schmalen Straße liegt eine Reihe mit weißen Tüchern bedeckter Körper, vor ihnen leuchten rote Grabkerzen. Zwei Menschen mit ernsten Gesichtern tragen einen schwarzen Sarg. Dann nimmt Maleka das Mikrophon. »Hier seht ihr das Ergebnis eurer Politik!« ruft sie vor der Fassade des Frontex-Hauptquartiers und deutet auf die symbolischen Leichen. »Aber ihr werdet uns niemals loswerden!«
Maleka trägt ihre schwarz gefärbten Haare kinnlang, mit den großen Ohrringen und den pink geschminkten Lippen sieht sie jung aus dafür, dass sie schon zweifache Großmutter ist. Ihre aufrechte Haltung und ihre agilen Bewegungen sprechen von ihrer Vergangenheit als professionelle Tänzerin. »Ich bin hier bei diesem Protest, weil ich geflüchtet bin«, sagt die Tschetschenin. »Dieser Tag ist für Menschen wie mich ein Kampftag.«
Für andere ist es dagegen ein Tag, um zu feiern. Frontex begeht heute in Warschau den »European Day for Border Guards« und feiert gleichzeitig das zehnjährige Bestehen. Die »operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen«, die die Agentur im Namen trägt, besteht darin, die Mitgliedsstaaten am Rande des Schengen-Raums sowie die Staaten auf der anderen Seite der EU-Außengrenzen dabei zu unterstützen, Migranten an der Einreise in die EU zu hindern. Wesentlicher Bestandteil dieser Arbeit sind Massenabschiebungen und die Ausstattung mit Überwachungstechnologie wie Satelliten oder Drohnen, um Flüchtende möglichst früh zu entdecken. Frontex und den EU-Mitgliedsstaaten werden immer wieder Push-Backs vorgeworfen, also Geflüchtete zurückzudrängen, zu inhaftieren oder abzuschieben, noch bevor sie einen Asylantrag stellen können. Zunächst basierte diese Praxis auf einer EU-Verordnung, die 2012 jedoch vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als Menschenrechtsverletzung verurteilt wurde. Dennoch zählte Pro Asyl zwischen Oktober 2012 und September 2013 allein in der Grenzregion zwischen Türkei und Griechenland 2 000 Push-Backs, die meist sehr brutal verliefen.
Seit Anfang des Jahres sind der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zufolge bereits 1 750 Menschen bei ihrer Flucht über das Mittelmeer ums Leben gekommen, das sind 30 mal so viele wie im vergangenen Jahr im gleichen Zeitraum. Dennoch wurde das auf Seenotrettung ausgerichtete Programm »Mare Nostrum« der italienischen Küstenwache nicht verlängert und im vergangenen Oktober durch die Frontex-Operation »Triton« ersetzt, die explizit nicht auf Rettung, sondern Registrierung zielt. Finanziert wird Frontex aus öffentlichen Geldern der Schengen-Staaten. 86 Millionen Euro sollen der Agentur im kommenden Jahr zur Verfügung stehen.
Auch aus Deutschland sind einige Geflüchtete angereist, teils unter hohem Risiko, um vor dem Planungsbüro der Festung Europa ihre Stimme zu erheben und als lebendiger Beweis davon zu zeugen, dass auch die ausgefeilteste Technologie und die brutalsten Methoden sie nicht aufhalten werden. »Ich habe so viele Grenzen überquert, um hier zu sein!« ruft einer von ihnen wütend und selbstbewusst ins Mikrophon. »Ich bin stärker als ihr!«
Viele sind jedoch nicht gekommen. Die Demonstration besteht aus etwa 150 Leuten, fast die Hälfte von ihnen kommt aus Berlin, Geflüchtete sind nur wenige unter ihnen. »Die Leute haben Angst vor der Polizei«, vermutet Maleka. Katarina, die aus Georgien nach Polen geflohen ist, hat eine andere Erklärung: »In Polen sind viele der Meinung, das Land sei nur für die Polen selbst, nicht für Migranten.« Die Bewegung, die sich solidarisch mit Migranten zeige, sei nicht sehr groß. In Warschau bestehe sie eigentlich fast nur aus den Leuten in dem besetzten Haus Syrena.

Das Haus befindet sich in einer Seitenstraße etwa 15 Gehminuten vom Warschauer Hauptbahnhof entfernt. Es ist ein vierstöckiger Altbau, einer der wenigen, die den Krieg überstanden haben. Von seiner Backsteinfassade hängen große Banner, innen ist jeder Zentimeter des Treppenhauses mit Wandgemälden voller politischer Botschaften verziert, von der Decke hängen Fahrräder. Syrena ist eines von nur zwei besetzen Häusern in Warschau, beide stehen direkt hintereinander und sind verbunden durch einen Innenhof. Rund 35 Menschen, zwischen vier und 70 Jahren alt, leben hier. Sie teilen sich die Gemeinschaftsküche im dritten Stock, die Fahrradwerkstatt, die Privatbar im Erdgeschoss und das Graphikzimmer, in dem T-Shirts bedruckt und Banner bemalt werden.
In diesen Tagen sind die Bewohnerinnen und Bewohner der Häuser zusammengerückt, um den Protestierenden aus anderen Städten Schlafplätze zu bieten. Bereits am Vorabend der Kundgebung wird in langen Plena über Strategien diskutiert, wie man sich vor der Polizei schützen könne. Ab dem frühen Morgen laufen dann die Vorbereitungen: Im Graphikzimmer werden Banner bemalt, im Hof an der Werkbank wird der Sarg zusammengezimmert, im Wohnzimmer im dritten Stock werden die Redebeiträge verfasst, in der Diele im Hinterhaus kümmert sich eine Gruppe um die Flyer. Der Protest wurde weitgehend von allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern gemeinsam organisiert und gestaltet.
Während die Mehrzahl mit Planen, Basteln und Schreiben beschäftigt ist, werden in der Küche Berge von Gemüse geschnitten, so dass sich vor dem Aufbruch alle noch einmal auf der Terrasse vor dem Hinterhaus mit veganem Eintopf stärken können. Dann gibt es einige letzte Absprachen im Plenum und die Teilnehmenden verlassen in Kleingruppen das Haus. Es ist, wie Katarina sagt: Zur Demonstration kommen nicht mehr Leute als die aus Syrena und ihre Gäste.
Auch Maleka wohnt in dem besetzten Haus. Vor etwa einem Jahr hat sie sich an eine NGO gewandt, als sie dringend nach einer Unterkunft suchte. Alles, was die Organisation für sie tat, war, sie an Syrena zu vermitteln. Es sei allerdings sehr dreckig dort, habe man sie gewarnt.
Katarina hat eine andere Verbindung zu Syrena. Als sie in Abschiebehaft saß und in Hungerstreik trat, waren es die Leute aus Syrena, die ihr halfen, sich mit Inhaftierten aus anderen Gefängnissen zu vernetzen. Sie hatte ein Visum für Polen, reiste jedoch gleich weiter nach Norwegen, wohin sie eigentlich wollte, und wurde von dort aufgrund des Dublin-II-Abkommens (inzwischen ersetzt durch Dublin III) zurück nach Polen geschickt. Bei ihrer zweiten Ankunft wurde sie gleich am Flughafen festgehalten und in Haft genommen. »Sie gaben mir überhaupt keine Informationen. Ich konnte nur ihre Aggression spüren«, erzählt sie.
Als sie beschloss, in den Hungerstreik zu treten, boten ihr die Bewohnerinnen und Bewohner von Syrena Unterstützung an. Sie halfen ihr, Geflüchtete in anderen Abschiebegefängnissen zu mobilisieren, organisierten auf Katarinas Wunsch eine Pressekonferenz und nahmen am Telefon einen Artikel entgegen, den sie in Gefangenschaft geschrieben hatte. 100 Geflüchtete aus drei Gefängnissen beteiligten sich an dem Hungerstreik. Katarinas Artikel wurde in der Tageszeitung Gazeta Wyborcza veröffentlicht und erhielt große Aufmerksamkeit. »Die Leute in Polen wussten gar nicht, dass es diese Lager gibt.« Schließlich wurden Gesetze zur Verbesserung der Haftbedingungen erlassen, beispielsweise dürfen jetzt keine Kinder unter 13 Jahren mehr inhaftiert werden. Freigelassen wurde Katarina jedoch erst, als sie ihre eigene Abschiebung nach Georgien beantragte. Ihre Anwesenheit zu dem Protest in Warschau ist temporär und nur aufgrund einer Einladung des Verlags möglich, der ihr Buch drucken wird.

Die Demonstration ist zu Ende. Erschöpft von der langen Route und dem Tag voller Vorbereitungen trudeln die Teilnehmenden im Hof zwischen den beiden besetzten Häusern ein. Maleka erhebt die Stimme: »Im hinteren Haus wird es später Musik und Tanz geben, wer feiern will, ist herzlich eingeladen!« In einer Tonne wird ein Feuer angezündet, jemand holt eine Gitarre heraus, ein anderer ein Akkordeon, eine dritte beginnt, mit brennenden Hulahoops zu spielen. Langsam löst sich die Anspannung. Alle sind heil zurückgekommen.
Das ist für die Leute aus Syrena keine Selbstverständlichkeit. Nicht nur von Seiten der Polizei hatte man mit allem gerechnet. Auch Nazis hatten zu einer Gegenkundgebung aufgerufen, kurzzeitig wurden 2 000 bis 3 000 Rechtsextreme erwartet. Es kamen nur 60 und zum Glück gab es keine Übergriffe. Doch das war schon allzu oft anders. Zu Demonstrationen gehen viele Linke nur noch vermummt – aus Angst, von Nazis fotografiert und später verfolgt zu werden. Vor der heutigen Kundgebung gegen Frontex wurden die unteren Fenster des Squats mit alten Lattenrosten vernagelt, eine Gruppe von zehn Personen ist im Haus geblieben, um Wache zu halten.
Die Besetzerinnen und Besetzer haben schlechte Erfahrungen gemacht, davon zeugt das doppelte Gitter vor der Toreinfahrt, mit dem Schild »Tür IMMER geschlossen halten«. Davon zeugt auch das Fallgatter hinter der Eingangstür: ein solides Holzbrett, das über eine Seilwinde in Sekunden heruntergelassen werden kann.

Kurz nach der Besetzung im Jahr 2011 wurde der Squat von Nazis angegriffen. Es war Polens Nationalfeiertag, 7 000 Rechtsnationalisten waren auf der Straße, um Polens Unabhängigkeit zu feiern. Die Nazis kamen über den Zaun in den Hinterhof und griffen die Bewohnerinnen und Bewohner mit Steinen an. Die Polizei stand tatenlos draußen auf der Straße. Den Leuten aus den beiden Häusern blieb nichts anderes übrig, als sich mit Flaschen zu verteidigen. Manche erzählen, dass nach den Nazis auch noch die Polizei selbst die Häuser gestürmt habe.
Dann gibt es noch die Geschichte von Jola Brzeska. Bis vor der Besetzung im Jahr 2011 hatte sie in dem heruntergekommenen Altbau gelebt. Ihr Vater hatte das Haus nach dem Krieg eigenhändig aufgebaut und seither darin gewohnt. Unter kommunistischer Herrschaft wurde der meiste Wohnraum verstaatlicht, nach der Wende wurde dann das Reprivatisierungsdekret erlassen, das es ehemaligen Eigentümer erlaubt, Ansprüche auf Besitztümer von vor dem Zweiten Weltkrieg zu stellen. Dank des Dekrets haben Immobilienspekulanten leichtes Spiel. Mieterinnen und Mieter berichten, bedroht oder zusammengeschlagen worden zu sein, um ihre Wohnungen Eigentümern mit zweifelhaften Besitzansprüchen zu überlassen. Jola Brzeska wehrte sich dagegen. Die alte Frau kämpfte jahrelang um ihre Wohnung, sie gründete die Warschauer Mietervereinigung. Am 1. März 2011 wurde sie in einen Wald verschleppt und verbrannt. Der Mord ist bis heute ungeklärt.
Den heutigen Bewohnerinnen und Bewohner von Syrena war klar, dass sich der Widerstand der Mieter in Warschau radikalisieren musste. Sie besetzten das Haus, um den Kampf von Jola Brzeska fortzuführen und um zu zeigen, dass es kein unüberwindbarer Zustand ist, wenn massenhaft Wohnraum leersteht, der sich im Reprivatisierungsprozess befindet, während viele Menschen eine Wohnung suchen.
Syrena ist nicht nur ein wichtiges Zentrum linken Widerstands in Warschau, ständig bedroht durch Polizei, Nazis und Immobilienspekulanten. Es ist auch der Ort, wo der Kampf um Wohnraum und Geflüchtetenproteste zusammenfließen. Maleka erinnert sich, wie sie von der NGO zu dem vermeintlich dreckigen Squat geschickt wurde und langsam merkte: »Dies ist ein wirklich guter Ort für mich. Hier muss ich nicht mehr alleine kämpfen.«