Die pro-kurdische HDP will ins Parlament einziehen

Islamisten auf vier Pfoten

Seit es der prokurdischen HDP gelungen ist, neue Wählerschichten zu erreichen, sieht es ganz danach aus, als könnten womöglich vier Parteien ins türkische Parlament einziehen. Neben kurdischen Türken stimmen auch Linke und Sozialdemokraten für die neue Partei.

Dengir Mir Mehmet Fırat bezeichnet Recep Tayyip Erdoğan als einen alten Freund. Das mag wohl stimmen, schließlich war Fırat sieben Jahre lang stellvertretender Vorsitzender der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP). Der kurdischstämmige Politiker hatte die Partei sogar einst mitgegründet. Dann kommt das erwartete Aber: »Meiner Meinung nach lebt Erdoğan in einer Traumwelt.« Das Hindernis, an dem Erdoğans Traum scheitern werde, sei eine einzige politische Organisation, die prokurdische HDP, für die Fırat im Juni selbst kandidiert.
Erdoğan will bei den Parlamentswahlen am 7. Juni 400 der 550 Sitze im türkischen Parlament gewinnen. Eigentlich reichen ihm 367 Sitze, nämlich die Zweidrittelmehrheit, um aus eigener Kraft eine neue Verfassung mit dem von ihm gewünschten Präsidialsystem festschreiben zu können. Ob das gelingt, hängt vom Ausgang eines Vabanquespiels der 2012 gegründeten HDP ab. Sie hofft, die für Erdoğans AKP arbeitende Wahl­arithmetik durcheinanderbringen zu können. Da prokurdische Parteien bisher immer deutlich unter der Zehn-Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament geblieben sind, traten ihre Kandidaten auch nur einzeln an. Hat nun beispielsweise eine Einzelkandidatin in Diyarbakır doppelt so viele Stimmen, wie sie zum Einzug ins Parlament benötigt, ergibt sich trotzdem nur ein Parlamentssitz. Bleibt ein Kandidat knapp unter dem notwendigen Ergebnis, ist es so gut, als hätten seine Wählerinnen und Wähler gar nicht gestimmt. Die einzige Konkurrenz der HDP in den kurdischen Gebieten ist die AKP. Die Parlamentssitze, die der HDP wegen dieses Wahlsystems in den kurdischen Gebieten entgehen, erntete in der Vergangenheit daher automatisch Erdoğans AKP.

Doch diesmal will die HDP erstmals als geschlossene Partei antreten. Sollte sie die Hürde nehmen, ist nicht nur Erdoğans Traum der Zweidrittelmehrheit geplatzt, sondern wahrscheinlich sogar die einfache Mehrheit im Parlament verloren, und erstmals müsste die AKP eine Koalition eingehen. Andererseits liegen die besten Ergebnisse prokurdischer Parteien in der Türkei bisher bei sieben Prozent. Eine Ausnahme war die Prä­sidentschaftswahl im vorigen Jahr, als der Kandidat der HDP, Selahattin Demirtaş, auf fast zehn Prozent kam. Der einzige andere Oppositionskandidat, Ekmeleddin İhsanoğlu, ist wegen seiner konservativ-religiösen Haltung bei vielen Wählern der größten Oppositionspartei, der kemalistischen CHP, unbeliebt, so dass sie der Wahl fernblieben oder Demirtaş ihre Stimme gaben.
Wegen der Unsicherheit über den Erfolg der HDP kamen sofort nach dem Bekanntwerden ihres Wahlantritts Theorien auf, die Kandidatur sei zwischen Erdoğan und dem gefangenen PKK-Chef Abdullah Öçalan abgesprochen. Die HDP, auf die Öçalan noch immer großen Einfluss hat, solle gar nicht ins Parlament kommen und so Erdoğan eine Zweidrittelmehrheit ermöglichen, vermuteten Skeptiker.
Andererseits kreiert die Situation auch einen Effekt, der der HDP sicher nutzen wird. Wer einen Sieg Erdoğans verhindern will, muss wollen, dass die HDP ins Parlament kommt. Selahattin Demirtaş wirbt nun damit, dass die HDP Erdoğans Präsidialsystem verhindern werde. Er sagt es sehr laut, um die Zweifler zu übertönen, die vermuten, dass die Kurden nur ins Parlament wollen, um Hafterleichterungen für Abdullah Öçalan und ein paar Freiheiten für die Kurden im Gegenzug zu ihrer Zustimmung zu Erdoğans Präsidialsystem herauszuschlagen. Schon bei den Gezi-Protesten fühlten sich viele der Demonstranten von der Mehrheit der Kurden im Stich gelassen.

Erdoğan führt seinen Wahlkampf gezielt gegen die HDP. Dazu ist ihm eine besondere Waffe eingefallen, der Koran auf Kurdisch, herausgegeben vom Amt für Religionsangelegenheiten. Auf einer Wahlveranstaltung in der kurdischen Erdölstadt Batman schwingt er ihn in einer Hand, während er ins Mikrophon donnert: »Nun kommt einer und sagt: ›Wir werden das Amt für Religionsangelegenheiten abschaffen.‹« Der von ihm nicht mit Namen Genannte ist natürlich Selahattin Demir­taş, der sich gegen die Verbindung von Staat und Religion ausgesprochen hatte. Nach diesem echten Zitat zieht Erdoğan dann mit wohl eher erfundenen Zitaten heftiger vom Leder: »Seht, das ist doch interessant, sie gehen so weit zu sagen ›Jerusalem gehört den Juden.‹« Er zieht daraus sofort den Schluss, dass seine Gegner keinen »Funken Islam« im Leib hätten. So werde in den Lagern der PKK die Religion Zarathustras gelehrt. Kurz, Erdoğan stützt sich auf unklare Zitate und Halbwahrheiten, um Ressentiments zu wecken.
Die Kämpfe um Kobanê haben das kurdische Selbstbewusstsein gestärkt. Viele Kurden und einige Kurdinnen aus der Türkei haben in Kobanê gekämpft, sie haben dem »Islamischen Staat« die erste echte Niederlage beigebracht und waren dabei faktisch Verbündete der USA, während Erdoğan den Fall Kobanês wohl lieber heute als morgen gesehen hätte. Wenn es die HDP diesmal tatsächlich schafft, im kurdischen Gebiet auf 70 Prozent der Stimmen zu kommen, wie Mehmet Fırat vermutet, dann auch wegen Kobanê. Nimmt man dazu noch Anti-Erdoğan-Wähler im Westen der Türkei hinzu, so könnte die Rechnung der HDP am Ende knapp aufgehen.
Doch würde die HDP, nachdem sie hoch gepokert hat, auch eine Niederlage akzeptieren? Oder würde Erdoğans AKP eine Niederlage durch Wahlmanipulation verhindern? Bei der umstrittenen Auszählung der Kommunalwahlen im vergangenen Jahr war unglücklicherweise eine Katze in eine Trafostation geraten, worauf in weiten Teilen des Landes der Strom ausfiel. So hat es jedenfalls Energieministers Taner Yıldız erklärt. Die Stimmung im aktuellen Wahlkampf ist ohnehin angespannt. Vermehrt kam es in den vergangenen Wochen zu Angriffen auf Mitglieder und Sympathisanten der HDP und zu Anschlägen auf ihre Parteibüros.
Nehmen wir mal an, die Katzen blieben diesmal zu Hause und die HDP käme ins Parlament. Wird dann die Türkei von einer prokurdischen Partei und dem gefangenen PKK-Chef vor Erdoğans Autokratie bewahrt werden? Wahrscheinlich muss man sich darum keine Sorgen machen, die Kurden werden es wohl nicht ganz schaffen, und im Zweifelsfall bleiben die Katzen eben doch nicht im Haus.