Die EU scheitert an der Verteilung von Flüchtlingen

Weder tot noch lebendig

Die Länder der Europäischen Union wollen viel weniger Asylsuchende aufnehmen, als nötig wäre. Einige Staaten an den Außengrenzen sind bereits jetzt mit den ankommenden Flüchtlingen überfordert.

Über 100 000 Migranten sind in diesem Jahr irregulär in die EU eingereist – mehr als je zuvor im gleichen Zeitraum. Der Streit um den Umgang mit ihnen spaltet Europa. Vor allem die Länder an den Außengrenzen drängen auf eine Reform des Dublin-Systems, das diesen Staaten die Verantwortung für die Ankömmlinge zuschiebt. Zwar einigten sich die EU-Staaten am 26. Juni auf eine seit langem geforderte Quote zur Verteilung von Asylsuchenden. Doch anders als ursprünglich vorgesehen, soll diese nur auf freiwilliger Basis gelten – und auf insgesamt nur 60 000 Menschen beschränkt bleiben. Die Dublin-Regelung bleibt in Kraft.
40 000 Flüchtlinge, deren Asylantrag bereits anerkannt wurde, sollen in den kommenden zwei Jahren über die EU verteilt werden, davon 24 000 Asylsuchende aus Italien und 16 000 aus Griechenland. 20 000 weitere Menschen sollen aus Lagern außerhalb Europas kommen, vor allem aus Anrainerstaaten Syriens. Deutschland will etwa 8 000 Asylsuchende aufnehmen. Die Verteilung soll im Spätsommer beginnen.
Der belgische Ministerpräsident Charles Michel sagte nach den Verhandlungen, er habe »ein für Europa unwürdiges Spektakel erlebt«. Vor allem osteuropäische und baltische Staaten, aber auch Großbritannien, hatten sich gegen eine für alle verbindliche Quote gewehrt. Litauens Präsidentin Dalia Grybauskaitė sagte, ihr Land wolle »die Möglichkeit haben, unsere Solidarität selbst zu zeigen, ohne dazu gezwungen zu werden«. Ungarns rechtsnationaler Ministerpräsident Viktor Orbán sagte, es sei das beschlossen worden, »was die Interessen der Ungarn schützt und bedient«. Man dürfe »weder der Versuchung schöner Worte erliegen, noch dem Mitgefühl«.
Bereits zwei Tage zuvor war der Streit zwischen der ungarischen Regierung und der EU eskaliert. Zunächst hatte die ungarische Regierung verkündet, das Dublin-III-Abkommen zur Rückführung von Flüchtlingen »auf unbestimmte Zeit« auszusetzen. Das Land wolle bis auf weiteres keine Flüchtlinge aus anderen EU-Staaten zurücknehmen – ein offener Bruch des EU-Rechts. Die EU forderte eine »sofortige Klarstellung«, das Auswärtige Amt bestellte gar den ungarischen Botschafter ein. Das zeigte offenbar Wirkung. Nur einen Tag später mühte sich der ungarische Außenminister Péter Szijjártó um Beschwichtigung. Sein Land werde »keine Bestimmung der Europäischen Union aussetzen«, sondern brauche lediglich »mehr Zeit«. Das Land habe derzeit keine Kapazitäten, um weitere Flüchtlinge aufzunehmen.
Die EU-Grenzagentur Frontex bezeichnet die Landroute nach Ungarn seit kurzem als »Haupttransitroute für Migranten, die die EU über Griechenland und Bulgarien betreten haben«. Der Weg sei auch eine »sicherere Option« als die Flucht über das Mittelmeer. Kamen 2012 rund 2 000 Flüchtlinge nach Ungarn, waren es nach offiziellen Angaben zwischen dem 1. Januar und dem 22. Juni dieses Jahres bereits mehr als 60 000.
Orbán schlug denn auch andere Töne an. Zwar sei die Ankündigung ein »sprachlicher Unfall« gewesen, der Ministerpräsident besteht jedoch weiter auf dem geplanten Bau eines vier Meter hohen und 175 Kilometer langen Grenzzauns zum Nachbarland Serbien. Zu erwarten sei derzeit »keine Flüchtlingswelle, sondern eine Völkerwanderung«, die Hunderttausende Menschen, die vor Krieg und Armut fliehen, nach Europa bringen werde, sagte Orbán. Sein Land sei nicht bereit, Flüchtlinge aufzunehmen, die in Griechenland EU-Boden betreten hätten: »Ungarn grenzt nicht an Syrien. In Griechenland sind die Flüchtlinge bereits in Sicherheit.« Das Helsinki-Komitee für Menschenrechte indes ließ Orbáns Argument zum Dublin-III-Abkommen nicht gelten: Von den rund 3 000 Flüchtlingen, die 2014 von Ungarn beispielsweise nach Deutschland gekommen seien, wurden lediglich 42 unter Verweis auf das Dublin-Abkommen wieder zurückgeschickt.

Nicht nur an der Verteilung von Flüchtlingen scheiterte die EU, sondern vorerst auch an dem geplanten Militäreinsatz gegen sogenannte Schlepper. Statt, wie geplant, deren Basen in Libyen per Raketenbeschuss anzugreifen, sollen sie zunächst nur ausgeforscht werden – die »Phase eins« der EU-Operation. Für einen weitergehenden Einsatz, etwa zur Zerstörung von Schlepperbooten in libyschen Hoheitsgewässern, fehlt der EU noch ein UN-Mandat und die Zustimmung der libyschen Regierung. Vorerst werden die 28 EU-Mitgliedstaaten zu Wasser, aus der Luft und dem All mit Satellitenbildern Informationen über Fluchtrouten aus Nordafrika sammeln. Auch Polizei und Geheimdienste sollen mitwirken. Eine tragende Rolle spielt dabei das Joint Operational Team Mare (JOT Mare). Das Aufklärungszentrum der EU-Polizeibehörde Europol nahm im März seine Arbeit auf, auch das deutsche BKA ist beteiligt. Alleinige Aufgabe der Sondereinheit mit Sitz in Den Haag ist das Aufspüren von Schleppern. Dazu bedient sie sich kriminalpolizeilicher Methoden wie Telefonüberwachung oder der Kontrolle grenzüberschreitender Banküberweisungen.
In Italien wurde derweil Kritik am Umgang mit den Leichen auf der Flucht gestorbener, meist ertrunkener Migranten laut. Eine staatliche Krankenhausgesellschaft entließ den Leiter einer Klinik in der sizilianischen Hafenstadt Augusta. In der Klinik waren die Leichen von 17 Menschen wie Schlachtabfälle, verpackt in Müllsäcke, in einer Kühlkammer verwahrt worden. Die Menschen, vermutlich Eritreer, waren am 29. Mai bei einem Unfall vor der libyschen Küste gestorben, nachdem sie Dieseldämpfe eingeatmet hatten. Ein örtlicher Bestatter hatte einem Mitarbeiter der Künstlergruppe Zentrum für politische Schönheit den Kühlraum gezeigt. Daraufhin fotografierte dieser die Leichen und machte die Bilder öffentlich. Die Klinikgesellschaft übergab den Fall der Staatsanwaltschaft. In dem Krankenhaus dürfen bis auf Weiteres keine Leichen verwahrt werden. »Wenn so viele Kadaver kommen, weiß man nicht, wohin damit«, sagte der Rechtsmediziner Francesco Coco, der die Leichen untersucht hatte. Die Leichen auf mehrere Orte zu verteilen und angemessen aufzubewahren, werde »alles viel komplizierter und teurer machen«. Der Umgang mit den Toten sei »nicht leicht für Sizilien«.

Tatsächlich sind seit Beginn dieses Jahres rund 50 000 irreguläre Migranten in Süditalien angekommen, die Belastung für die Verwaltung und Hilfsorganisationen ist enorm. Die Zahl der Ertrunkenen liegt vermutlich im vierstelligen Bereich, eine genaue Erhebung gibt es bislang nicht. Nur ein Bruchteil der Leichen wird auf dem Meer geborgen, die Marine ist meist mit der Rettung der Lebenden beschäftigt. Von 3 546 toten Migranten im Jahr 2014 spricht die Internationale Organisation für Migration (IOM), nur 33 Leichen wurden im gesamten vorigen Jahr nach Ostsizilien gebracht, 28 waren es bislang in diesem Jahr.
Die Verantwortung für die Toten in Italien ist das getreue Abbild des europäischen Asylsystems: Für die Lebenden ist die nationale Migrationspolizei zuständig, für die Toten sind es die Kommunen, in denen die Leichen an Land gebracht werden – also jene, in denen Marine oder Küstenwache ihre Basen haben. Die Identifizierung der Toten ist problematisch. Rechtsmediziner entnehmen den Leichen Gewebeproben, ein kriminaltechnisches Labor erstellt ein DNA-Profil. Danach werden die Leichen anonym, aber mit einer Kennnummer auf staatlichen Friedhöfen bestattet. Angehörige verschwundener Migranten können den Behörden Gewebeproben für einen Vergleich zur Verfügung stellen. Bei einer Übereinstimmung können sie die Toten auf eigene Kosten überführen lassen. Bisher sind nach Angaben der Staatsanwaltschaft der sizilianischen Stadt Siracusa auf diese Weise nur in drei Fällen Leichen identifiziert worden – Migranten aus dem Nahen Osten. Die Mehrzahl der Toten im Mittelmeer stammt aus subsaharischen Staaten, vor allem in Ostafrika. Für ihre Angehörigen sind die Hürden für Nachforschungen bei den italienischen Behörden zu hoch.