Linke Verklärungen. Das Kopftuch und seine Apologeten

Critical Sadness

Linke Apologeten des Kopftuchs verklären die Verschleierung zum emanzipatorischen Akt selbstbewusster Muslimas. Dass muslismische Frauen das Kopftuch oft aus eigenem Willen tragen, hat mit Befreiung jedoch wenig zu tun. Über fragwür­dige Solidarisierungen und wirre Argumentationsmuster.

Unter dem Motto »Wir sind Deutschland« hat die antirassistische Salaam-Schalom-Initiative zu ­einer Kundgebung vor dem Neuköllner Rathaus aufgerufen, die am vergangenen Dienstag nach Redaktionsschluss stattfand. »Kopftücher sind ebenso wie Hochsteckfrisuren, Kippot oder Hüte ein Teil Neuköllns«, heißt es im Aufruf. Was für allerlei Frisuren und Tücher empirisch noch bestätigt werden kann, scheint im Falle der Kippot mehr dem Wunschdenken von einer irgendwie »bunten« Gesellschaft zu entspringen denn der alltäglichen Realität. Aufschlussreich ist der Aufruf auch dort, wo er konstatiert: »Wir repräsentieren diesen Bezirk und dieses Land, und fordern das Recht ein, diese Repräsentation auch (und gerade) in öffentlichen Ämtern wahrnehmen zu können.« Anlass der Kundgebung war der Fall der angehenden Rechtsreferendarin Betül Ulusoy, wie Armin Langer, Koordinator der Initiative, auf Nachfrage der Jungle World bestätigte.
Auch ungeachtet der Anbiederung an das nationale Narrativ des Zwangskollektivs und des bisweilen fragwürdigen Aktionismus, mit dem die Apologetinnen des Hijab seit mittlerweile gut ­einem Jahrzehnt ihre nichtmuslimische Mitwelt mit der immergleichen Botschaft einer frei gewählten und selbstbestimmten Verschleierungspraxis (»I love my Hijab«; »My Hijab – my choice«) beglücken, sollte sich ein kritisches, linkes Politikverständnis stets neu mit der Frage befassen, ob, mit wem, wozu und auf welcher Grundlage man sich solidarisiert.

In Zeiten, in denen der deutschnationale Mob die Islamisierung des Abendlandes herbeihalluziniert und von Freital quer durch die Republik die Generalmobilmachung der Wutbürgerschaft gegen Einwanderer, Muslime und Asylsuchende im Gange ist, versteht sich die generelle und unbedingte Solidarität mit kopftuchtragenden Frauen als Teil einer rassistisch bedrohten Minderheit von selbst. Wenn aber längst in die Mittelschicht aufgestiegene und selbstbewusst als politische Subjekte auftretende Neo-Muslimas das Ziel des Islamismus, ob absichtlich oder nicht, verfolgen, die hierzulande ohnehin nur rudimentär säkulare Verfasstheit herauszufordern, kann das Ganze durchaus noch einmal kritisch überdacht werden.
Damit ist auch schon das ganze Elend in jener Linken benannt, die von einem kulturalistisch verkürzten Zugang aus nicht zu differenzieren wissen und noch jede politische Forderung einer soziokulturellen Minderheit für per se progressiv halten – just weil sie von einer Minderheit formuliert wird. Dabei muss logischerweise aus der Wahrnehmung alles ausgeklammert werden, was die verinnerlichten Dogmen in Frage stellen könnte, sowie die Tatsache, dass gesellschaftliche Gruppen durchaus unterschiedliche, der eigenen politischen Position mitunter zuwiderlaufende Interessen verfolgen können. Virulent wird diese Tendenz bei Themen wie der islamischen Verschleierung, die im Kontext von Antirassismus, Queer Politics und Queerfeminismus diskutiert werden und regelmäßig auf ideologische Argumentationsschablonen zurückgreifen, die meist die Anstrengung einer kritischen Auseinandersetzung mit der Realität ersparen.

Darin ergänzen sich die Wahrnehmungsmuster der Anhängerinnen der Initiative »Muslima Pride« hervorragend mit jenen ihrer sogenannten allies, die die Komplexität spätkapitalistischer Gesellschaften unter dem Banner eines zur Ideologie verkürzten Critical Whiteness-Ansatzes einstampfen. Bestenfalls wird das Kopftuch noch entpolitisiert zum bedeutungslosen Kleidungsstück umgedeutet: »Meine Oma trug bei der Feldarbeit auch ein Kopftuch, so what?!« Im schlimmsten Fall wird es gar zur emanzipatorischen Praxis hochgejazzt. »Die Frau entzieht sich der allgegenwärtigen Sexualisierung/dem männlichen Blick«, lautet dann das Argument. Dass man sich damit en passant, wenngleich vielleicht unbeabsichtigt, mit der vom konservativen bis fundamentalistischen Islamverständnis propagierten weiblichen Bedeckungspflicht gemein macht – geschenkt.
An dieser Stelle sollte auch der regelmäßigen Beschwerde Rechnung getragen werden, es werde sehr viel über das Kopftuch gesprochen, selten jedoch mit den Kopftuchträgerinnen. In der Tat sorgt man sich etwa bei »Muslima Pride« um die Zurichtungen des weiblichen Körpers – nämlich jene und zwar ausschließlich jene durch das westliche »Patriarchat« mit seiner »ganzen Mode- und Kosmetikindustrie«, Körpernormierung und -optimierung. Im Eintrag »Traumberuf: Topmodel« vom 10. Mai heißt es auf dem Blog von Betül Ulusoy: »Es macht mir Angst, wenn kleine Mädchen im Kindergartenalter sagen, sie würden gern Topmodel werden, wenn sie einmal groß sind.« Ob sich die berechtigte Sorge der Feministin Ulusoy auch gleichermaßen auf Mädchen erstreckt, die im Grundschulalter bereits Hijab tragen, bleibt dagegen unbeantwortet.
Die »Bedeckung« habe im Zusammenhang mit der westlichen Konsumwelt immerhin »eman­zipatorischen Charakter«, wird behauptet. Oder, wie es jüngst die Britin Hanna Yusuf mit ähnlichem Sendungsbewusstsein in Sachen islamischer Bedeckungspraxis in einem Kommentarvideo des Guardian ganz keck – und mit reichlich Make-up im Gesicht – ins Web aussendete: »My Hijab has nothing to do with oppression – it’s a feminist statement!« Der Clou besteht jeweils darin, die Zurichtungen des weiblichen Körpers ­alleine in den Vermarktungsmechanismen westlich-kapitalistischer Gesellschaften zu verorten und die Sexualisierung des weiblichen Körpers zu einem rein westlichen Problem zu verkürzen. Die Kehrseite der Sexualisierung durch Sichtbarkeit – die Sexualisierung durch Verdeckung – kann sodann widerspruchsfrei zur subversiven Gegenstrategie verklärt werden.
In derartigen Argumentationen verrät sich eine geistige Verwandtschaft mit der Ideologie islamistischer Hardliner, die ebenfalls in projektiver Abspaltung alles Negative auf den verführerisch-dekadenten Westen zurückzuführen wissen, um sich die reine Lehre zu erhalten.

Letzteres führt zurück zu jenen eingangs erwähnten Linken, die die zweckdienliche Umdeutung (»My Hijab – my choice«) und Aneignung der Slogans westlicher Emanzipationsbewegungen, wie die der Zweiten Welle der Frauenbewegung oder der LGBT-Bewegung (»Muslima Pride«), in Teilen der »antirassisisch-queerfeministischen« Szene begeistert aufsaugen. Mit der eingangs zitierten Subsumption aller Widersprüche unter der Schablone der Critical Whiteness Theory schließt sich denn auch der Kreis. Hier wie da entlarvt ein vermeintlich hyperkritischer Habitus die Tendenz, als »westlich« gefasste, emanzipatorische Errungenschaften pauschal mit der Begründung abzuwerten, sie seien dereinst anderen Kulturen oktroyiert worden. Was historisch zwar zutreffend ist, aber mit der Einschränkung, dass es die Gewaltförmigkeit der Unterwerfung und Ausbeutung anderer Gesellschaften war, die zu kritisieren ist, nicht die erkämpften universellen Werte wie etwa Aufklärung und Emanzipation selbst, die bloß im Kielwasser von Legitimationsversuchen kolonialer Herrschaft mitgeschwommen waren.
Die Gefahr dieser zum antiwestlichen Ressentiment verkürzten Wahrnehmung besteht, ganz konkret, in der Entsolidarisierung, und zwar genau dann, wenn praktische Solidarität statt Ideologiepflege angebracht wäre.
Der Fall des schwulen Deutschlibanesen Nasser el-Ahmad illustrierte jüngst, was passiert, wenn die ausgeblendeten Widersprüche des dogmatischen Blockdenkens offen zutage treten. Der junge Mann hatte Mitte April zu einer Großdemonstration für das universelle Recht auf ­sexuelle Selbstbestimmung durch seinen ehemaligen Wohnbezirk in Berlin-Neukölln aufgerufen. Ziel war es, den Protest gegen die erlittene patriarchal-homophobe Gewalt im Namen der »Ehre« an den Ort des Geschehens zu tragen. El-Ahmads Familie hatte ihn nach seinem Outing mehrfach misshandelt, mit Mord bedroht und schließlich versuchte, ihn in den Libanon zu entführen und ihm dort eine arrangierte Ehe auf­zuzwingen. Da es sich bei el-Ahmad nach Lesart besagter antirassistischen und queerpolitischen Kreise um eine von Gewalt betroffene Person of Color handelt, die zu breiter Solidarisierung aufrief, hätte man eine solche eigentlich erwarten können. Was folgte, waren jedoch schrille, in Blogs und auf Social Media gestreute Distanzierungen, die sich zu einer Art moralisch echauffiertem Boykottaufruf hochschraubten. Warum man denn ausgerechnet durch vermeintlich besonders sensible Bezirke wie Neukölln »mit vielen Moscheen, People of Color, Schwarzen Personen und von Klassismus betroffenen Menschen« ziehen müsse, ätzte etwa Hengameh Yaghoobifarah, queerfeministisch-aktivistische Modebloggerin und Online-Redakteurin des Missy Magazins, auf ihrem Blog »Teariffic«, ihre blockdenkengeschulte »Positionierung« ins Web.
Sie und andere sahen sich berufen, über eine angeblich »weiß dominierte« Zusammensetzung der Demonstration und deren verdeckt mitagitierende antimuslimische Stigmatisierung des Bezirks als homophob aufzuklären und zu »judgen«. Die bemüht herbeikonstruierte Begründung entpuppt sich dem Betrachter als Realsatire in Reinform. Traurig aber wahr: So wird die reine Lehre frei von Widersprüchen gehalten – und eine emanzipierte schwule Person of Color ist diesmal ausgerechnet durch identitätspolitisch vereinnahmende Personen der vermeintlich eigenen Community »gesilencet« worden. Dass el-Ahmads Anliegen einer breiten Solidarisierung auf dem ­Altar des Dogmatismus geopfert wurde, ist nur mehr eine tragische Fußnote der Geschichte.