Ein Dorf in den Philippinen übt den Katastrophenschutz gegen Taifune

Die Natur als Feind

Die Philippinen gehören zu den von Naturkatastrophen am stärksten gefährden Ländern der Welt. In den vergangenen Jahren sind insbesondere Taifune dort häufiger und stärker geworden, was Forscher in Zusammenhang mit dem Klimawandel bringen. Ein Besuch in Tigderanao, einem Dorf im Osten des Landes, wo die Menschen lernen müssen, mit der Gewalt der Natur zu leben.

An diesem Morgen im Frühjahr dümpeln die Auslegerkanus der Fischer von Tigderanao in der Sonne, die langsam hinter den Palmen emporsteigt. Die Visaya-See pocht mit leisen Wellen an das Ufer, die grauen Büffel schieben ihre gewal­tigen Hörner durch das sumpfige Unterholz am Rande des Dorfes. Sechs Monate wird das noch so bleiben. Dann geht alles wieder von vorn los.
450 Familien, 2 200 Einwohner, hat Tigderanao, ein kleines Eiland nahe der ostphilippinischen Insel Samar. Neun Komitees für Katastrophenschutz wurden hier gebildet, je eines für Vorwarnung, Sicherheit, Versorgung, Wiederaufbau, Schadensbegrenzung, Feuer, Rettung, Gesundheitsversorgung und Transport. Die Zentrale ist eine kleine Hütte an der Hauptstraße der Insel, fünf mal fünf Meter, in den Regalen liegen Dutzende Taschenlampen mit Kurbeldynamo und ein Funkgerät. Francisco Baniz ist der Chef dort. »Alle fragen immer, was man während des Taifuns so denkt«, sagt er. »Sogar Motorräder sind durch die Luft geflogen, alles war kaputt. Häuser weg, Pflanzen weg. Aber wir sind noch da. Das haben wir gedacht.« Es ist eine Art Graswurzel-Zivilschutz, auf den die Menschen hier setzen. »Wir müssen alles auf Dorfebene selbst machen«, sagt Baniz, »es darf keine Abhängigkeit von außen geben.« Wenn es ernst wird, wird die Hilfe nicht kommen. Das ist ihre Lehre aus der Vergangenheit.
Die Philippinen liegen mitten im pazifischen Feuergürtel, einem Halbkreis an den Rändern des Ozeans, der fast zwei Drittel aller Vulkane der Erde auf sich vereint. Das Land muss mit Erdbeben und Tsunamis rechnen, ebenso wie mit Taifunen, tropischen Wirbelstürmen. Sie gehören hier zum Wetter wie in Deutschland das Glatteis im Winter. Die Philippinen sind seit jeher eines der von Naturkatastrophen am stärksten gefährdeten Länder der Welt. Doch die Lage hat sich in den vergangenen Jahren verschlechtert. Die Provinz Samar im Osten des Landes ist eine der Frontlinien des Klimawandels. 20 Taifune verzeichnen die Philippinen im langjährigen Durchschnitt, der erste zu Beginn Saison bekommt immer einen Namen mit »A«, dann geht es im Alphabet weiter. 2013 hat das Alphabet zum ersten Mal nicht ausgereicht.

Die Taifune werden häufiger und stärker. Am 7. November 2013 traf Taifun Haiyan auf die Küste von Samar. Es war der wohl stärkste seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. »Am Ende konnten wir unsere Mitarbeiter nicht mal anrufen, um zu fragen, ob sie noch leben«, erzählt Alexander Pama, der oberste Katastrophenschützer der Philippinen. Etwa 6 300 Menschen hat der Sturm getötet, eine Million Häuser zerstört. Klimaforscher und Katastrophenschützer in der Region haben dafür den Begriff new normal geprägt. Die sich hier langsam durchsetzende Auffassung lautet: Es geht nicht mehr darum, den Klimawandel aufzuhalten, sondern nur noch darum, sich mit ihm zu arrangieren. In der Nähe gibt es ein Massengrab, eine Wiese mit Tausenden weißen Holzkreuzen. Jeder, der nach Taifun Haiyan einen Angehörigen vermisste, konnte sich ein Kreuz suchen und mit Filzstift den Namen des Vermissten darauf schreiben. An der Seite stand eine Art Gedenkwand mit ihren Namen. Doch die hat im Dezember der Taifun Hagyupit weggerissen.
Viele der Menschen in Tigderanao können nicht lesen, die Verhaltensregeln für den Ernstfall sind mit Illustrationen auf große Plakate gezeichnet, die an den Wänden von Baniz’ kleiner Zivilschutz-Zentrale hängen. Sie sehen aus wie aus einem Kinderbuch. Darauf stehen Anweisungen wie: »Wenn sich ein Unwetter ankündigt, durch Wind und starken Regen, bereite dein Haus vor«; »Bring das Vieh in Sicherheit«; »Wickele wichtige Dinge in Plastik ein und vergrabe sie«; »Packe Medikamente, Lebensmittel und die Schulbücher der Kinder in eine Tasche«; »Schalte das Radio ein und warte auf Nachrichten«; »Achte auf gefährliche Tiere, die auch vor einer Flut fliehen«; »Geh zum Evakuierungsort, aber halte dich fern von Gewässern und Stromleitungen«.
Evakuierungsorte gibt es allerdings nicht. Dafür hängt an Baniz’ Wand eine Karte mit den wenigen Betonhäusern auf der Insel, daneben stehen jeweils die Namen ihrer Besitzer. Die Dorfgemeinschaft hat beschlossen, dass sie ihre Häuser öffnen müssen. Wer hinein darf, ist genau fest­gelegt. Auf Plastiktafeln ist jede einzelne Familie Tigderanaos mit wasserfestem Stift eingetragen. Die Liste muss schweren Regen überstehen. Kindern, Alten und Kranken sind Plätze in den Betonhäusern zugeteilt. Die übrigen müssen in Hütten bleiben und hoffen, dass diese den Sturm überstehen. Taifun Haiyan hat 439 der Hütten zerstört. Die Taifune entstehen über den Meeren und lösen sich über dem Land auf. Dort, wo sie auf die Küste treffen, ist ihre Kraft am stärksten. 24 Stunden vorher können die Meteorologen heute ziemlich genau sagen, an welcher Stelle ein Taifun auf Land trifft. Aber was dann?

Der Chef des Komitees für Vorwarnung heißt Demart Auditor. Der 28jährige Surfertyp in blauer Badehose und engem weißen Hemd spricht gut englisch. An diesem Tag wollen die Menschen in Tigderanao proben, was sie tun können, wenn im Herbst die Stürme zurückkommen. Auditor läuft unruhig vor der Katastrophenschutzhütte auf und ab, gleich beginnt die Übung, es darf nichts schiefgehen. Die Dorfbewohner haben ihn gewählt, es ist ein wichtiges Amt, er will alles richtig machen.
Das Szenario sieht so aus: Die Ringstraße wird in jedem Fall überflutet. Dazu reichen 3,50 Meter Fluthöhe. Alle Menschen, die hier wohnen, müssen ins Inselinnere. Bis hinab zur Höhe von sechs Metern bleibt eine Zone in der Inselmitte trocken. Doch die Fluten können durchaus weiter steigen. »Wir bräuchten ein Evakuierungszentrum aus Beton, das mindestens sieben Meter über dem Meer liegt«, sagt Auditor. Doch ob die Regierung jemals einen solchen Ort in einer derart entlegenen Provinz errichtet, weiß niemand. Dieses Szenario wird vorerst ignoriert. »Wir müssen hier alles mit dem lösen, was wir haben«, sagt Auditor.
In der Provinz Samar gibt es Evakuierungsorte für zwei Prozent der Bevölkerung; wenn man die festen privaten Gebäude mitzählt wie auf Tigderanao, sind es 30 Prozent. Seit Haiyan wurde in der Provinz noch kein einziges neues Evakuierungszentrum gebaut, das Geld fehlt. Manche Menschen vertrauen darauf, dass sie im Zweifelsfall ein Loch graben, hineinklettern und Bretter drüber ziehen können. So haben sie hier früher alle Stürme überstanden. Doch früher erreichten Stürme kaum höhere Windgeschwindigkeiten als 150 km/h. Haiyan brachte es auf 315 km/h. Im Januar kam Papst Franziskus in die Provinzhauptstadt Tacloban auf Samar. Bis heute hängen überall die Plakate: Franziskus, hineinmontiert in eine Landschaft der Verwüstung, als könne er die Hütten durch sein Gebet wieder aufrichten. »Gott stellt uns keine Prüfung, die wir nicht bestehen können«, sagen manche hier.
Am Hafenbecken gegenüber hat sich jetzt eine Gruppe Rettungsschwimmer postiert, auch sie sind Dorfbewohner. Sie tragen schwarzrote Taucheranzüge, Bojen und eine Bahre, auch sie nehmen an der Übung teil. Eine ganze Reihe weiterer Menschen ist jetzt gekommen, Baniz und Auditor stecken die Köpfe zusammen. Dann bläst jemand in eine Trillerpfeife, einmal, zweimal, dreimal, Auditor holt gelbe, orangefarbene und rote Fahnen mit langen Stöcken aus der Hütte, er verteilt sie an einige der sieben Mitglieder seines Warnkommittees, sie laufen los, nach links, nach rechts, die Inselstraße entlang, und blasen dabei in kleine Trillerpfeifen. Baniz gibt Listen an die Mitglieder des Evakuierungskommittees aus, jede Hütte müssen sie nun abklappern. Niemand soll zurückbleiben, für jeden ist ein fester Ort bestimmt.

Wer überlebt, für den fangen die Probleme dann erst an. Fast niemand hier kann sich ein Betonhaus leisten, die Hütten werden immer wieder niedergerissen, die Menschen fangen bei null an. Fast alle hier leben von kleinen Subsistenzplantagen mit Cassava-Wurzeln und dem Verkauf von Palmenkernen für Palmöl. Taifun Haiyan hat von vielen Palmen nur Stümpfe übriggelassen, das eindringende Salzwasser schädigte die Wurzeln der übrigen und machte die Böden unfruchtbar. Die Bauern fischen nun auch, die Fischbestände gehen stark zurück.
Auditor und Baniz haben jetzt Funkgeräte in den Händen, pausenlos sprechen sie hinein. Auditor ruft den Läufern mit den Warnfahnen etwas hinterher, die nach einer Weile vollkommen nassgeschwitzt sind, aber weiter in ihre Trillerpfeifen blasen und mit den Fahnen zwischen den Hütten umher traben. Die Übung läuft unter erleichterten Bedingungen ab: Tatsächlich geht es vor allem darum, zu testen, ob alle verstanden haben, was sie tun müssen. Die Dorfbewohner wussten seit langem Bescheid, viele haben bereits gepackt und auf die Warnläufer mit den Fahnen gewartet. Es dauert nur wenige Minuten, dann ergießt sich ein Treck Dutzender Familien über die Straße, die Kinder tragen Stofftiere, die Erwachsenen Töpfe, Säcke, Pakete, Decken, Taschen, sie laufen in verschiedene Richtungen, doch jeder scheint seinen Bestimmungsort zu kennen.
Es gibt heute Katastrophenschutz als Schulfach. Fünf Prozent der öffentlichen Haushalte in den Philippinen müssen für Katastrophenschutz zurückgehalten werden. Die Behörden haben ein Kataster behinderter Menschen angelegt, die sich nicht selbst in Sicherheit bringen können, damit sie abgeholt werden. Es gibt in den Kreisstädten Seminare für Leute wie Francisco Baniz und Demart Auditor. Sie werden darin ausgebildet, in ihre Dörfer zu gehen und den Leuten zu erklären, dass eine neue Zeit angebrochen ist, eine Zeit, in der die Stürme immer tödlicher werden. Es gibt Warnsysteme über Smartphone-Apps und Social Media-Beauftragte. Höhlen wurden als of­fizielle Evakuierungsorte registriert und ausgewiesen. Die Palmbauern bekommen Kurse darin, Schweine und Hühner in ihren Gärten zu züchten, back­yard gardening, um nicht so abhängig von den bald womöglich wieder zerstörten Ölpalmen zu sein. Resilience ist das Zauberwort, Widerstandskraft. Die Menschen sollen den unausweichlichen Stürmen trotzen können. Die EU-Kommission finanziert solche Programme in der Region, es gibt Studien, die besagen, dass jeder Dollar, der in solche Vorbereitungsmaßnahmen gesteckt wird, bis zu sieben Dollar an entstehenden Schäden verhütet.

Die Schule ist eines der wenigen stabilen Gebäude auf Tigderanao. Die Dorfbewohner haben beschlossen, dass die Kinder, die hier unterrichtet werden, auch während des Sturms in der Schule sein und ihre Eltern mitbringen dürfen. Wie ihre Schülerinnen tragen auch die Lehrerinnen eine Uniform, sie sehen darin ein wenig aus wie Stewardessen. Sie stammen vom Festland, bei einem Sturm wären sie vermutlich früh genug vorgewarnt und nicht auf der Insel. Etwas unbeteiligt stehen sie neben dem Tor zum Schulhof, wedeln sich mit kleinen Fächern Luft zu und betrachten den Strom von Kindern und deren Eltern, die sich an den Händen halten und schwer bepackt langsam auf das Schulgelände kommen.
Ist das die »neue Normalität«? Ist es ein semantischer Trick, um das unbeschreibliche zu beschreiben? Was, wenn der nächste Sturm nicht 315, sondern 380 Km/h schnell ist? Kann sich der Mensch in einem Zeitalter entfesselten Extremwetters einrichten? Was, wenn es keine Palmen mehr gibt und kein Cassava und keine Fische, wenn die Ferkel im Vorgarten im Salzwasser ertrinken, während die Menschen in den Schulklassen sitzen?
20 Minuten nachdem Auditor die Warnläufer losgeschickt hat, ist der Raum der vierten Klasse von Lehrerin Celerine Beberino komplett voll. Die Kinder sitzen auf ihren Bänken, die Erwachsenen auf dem Boden, ihren Proviant und ihre Habseligkeiten haben sie an den Wänden gestapelt. Das Versorgungskomitee kommt und verteilt rationierte Pakete mit Reis und Nudeln. Vor Taifun Haiyan hatte die Schule nur eine Toilette, jetzt sind außen an jedem Klassenraum zwei, sie können betreten werden, ohne das Gebäude zu verlassen und sich in den lebensgefährlichen Sturm zu wagen. Es ist eine der wenigen Neuerungen, für die Geld nach Tigderanao geflossen ist. Ein paar Minuten später kommt die Frau vom Evakuierungskomitee, sie stakst mehrmals durch die Reihen, zählt und blickt auf ihre Liste. Zwei Menschen fehlen, aber sie weiß nicht, wer.
Wäre es klüger, die besonders gefährdeten Landstriche einfach komplett zu räumen, zu unbesiedelbaren No-Go-Areas zu erklären? Die Philippinen stehen schon heute auf Platz elf der am dichtesten besiedelten Länder der Erde, jedes Jahr kommen rund 1,5 Millionen Menschen hinzu. Trotz aller Gefahren ist das Leben an der Küste für arme Menschen attraktiv. Wer sonst nichts hat, kommt mit Fischen, Palmen und etwas Subsistenzanbau über die Runden. Die Regierung versucht, manche informellen Siedlungen am Meer nach Evakuierungen nicht wieder entstehen zu lassen, doch dann wissen die Leute nicht wohin. Es gibt keinen Platz, um die Millionen umzusiedeln, die an den besonders gefährdeten Küsten leben, und selbst wenn es gelänge, würden sofort Menschen nachkommen und die Parzellen besetzen. »Wir können nirgendwo anders hin«, sagt Baniz. »Wir müssen das Problem hier lösen.«