»Die Kartelle halten Sklaven«

In den letzten Augusttagen des Jahres 2010 gingen Meldungen über das Massaker von San Fernando in Tamaulipas um die Welt und machten das Ausmaß der Gewalt gegen Migranten in Mexiko deutlich. 72 Menschen aus Mittel- und Südamerika wurden vom Drogenkartell der Zetas ermordet. Fünf Jahre später gelten illegalisierte Migranten weiter als eine Haupteinnahmequelle des organisierten Verbrechens. In der Migrantenherberge von Saltillo, eine Tagesreise von der Grenze zu den USA entfernt, berichten Menschen aus den südlichen Nachbarländern täglich über das, was sie auf der Transitroute durch Mexiko erleben. Die Jungle World befragte den Leiter der Herberge, Alberto Xicoténcatl Carrasco, was sich an den Gewaltszenarien geändert hat.

Werden fünf Jahre nach dem Massaker von San Fernando weiterhin Migranten in Mexiko entführt?
Allerdings, auch wenn die Drogenkartelle eine neue Praxis entwickelt haben. Entführungen finden heute nicht mehr auf den Güterzügen im Süden des Landes statt, die die Menschen für die klandestine Reise in Richtung Norden nutzen. Sie werden kurz vor dem Grenzübertritt in die USA gemacht und finden vor allem im Bundesstaat Tamaulipas an der Golfküste statt. Dort ist seit Beginn des sogenannten Drogenkriegs die Regierung de facto entmachtet. Das Golfkartell und die Zetas haben Städte und Regionen untereinander aufgeteilt und hier werden derzeit Migranten verschleppt.
Wie gehen diese Entführungen vonstatten?
Die Fälle, von denen uns Migranten erzählen, offenbaren ein eigenartiges Hybridmodell zwischen Erpressung und Serviceleistung. Die Familie wird angerufen und erpresst, nicht nur für die Freilassung, sondern auch gleich für den Grenzübertritt zu zahlen. Das bedeutet, dass Migranten nicht mehr frei entscheiden können, wer sie über die Grenze bringt. Vielmehr entscheiden die Kartelle, welche Gruppe sie in ihre Gewalt bringen.
Und wie viel kostet eine solche Freilassung inklusive Grenzübertritt?
Dafür müssen die Familien 5 000 bis 7 000 US-Dollar aufbringen. Normalerweise zahlt man für einen Grenzübertritt mit einem Schlepper 3 000 US-Dollar. Doch es gibt tatsächlich mittlerweile keine unabhängigen Schlepper mehr. Alle müssen Abgaben an eines der Kartelle zahlen und werden von ihnen kontrolliert, denn diese haben die gesamte Grenze zu den USA untereinander aufgeteilt.
Das heißt, Migranten kommen nach Zahlung eines Lösegeldes schnell wieder frei – eventuell sogar schon auf US-amerikanischem Boden?
Nicht unbedingt. Wir beobachten, dass die Entführten vermehrt in den Menschenhandel eingespeist werden. Dann gibt es keine Lösegelderpressungen; die Gefangenen geraten in eine moderne Sklaverei. Früher konzentrierten sich die Kartelle auf die Einnahmen durch Lösegelder, heute erzielen sie offenbar mehr Gewinne im Menschenhandel. Im vorigen Jahr haben wir fünf Migranten aufgenommen, die dem Menschenhandel entkommen sind. Da es nahezu unmöglich ist, dass eine Person diesen Netzwerken lebend entkommt, sehen wir diese Fälle als Spitze des Eisberges an.
Welche Arbeiten mussten die Entkommenen verrichten?
Es handelt sich vor allem um Menschenhandel für Kleindealertum. Die, die entkamen, berichteten, dass sie nach außen hin nicht von freien Dealern zu unterscheiden waren. Tatsächlich waren sie aber Sklaven der Kartelle. Andere Entführte werden zum Betteln an Ampeln im Stadtzentrum angehalten. An den Verkehrsknotenpunkten im Zentrum Mexikos, in Städten wie Puebla und Guadalajara, sieht man normalerweise Migranten, die das ein, zwei Tage machen. Dann reisen sie mit den Einnahmen weiter. Hier in Saltillo sehen wir Migranten, die seit Monaten an der gleichen Straßenecke betteln und abends von Neuwagen eingesammelt werden. Diese neue Form der Ausbeutung ist viel alltäglicher und weniger auffällig als Entführungen.
Wäre es für diese Menschen nicht ein Leichtes zu fliehen?
Die Gefangenen befinden sich zwar im öffentlichen Raum, werden aber 24 Stunden am Tag kontrolliert. Menschenhandel funktioniert selten so wie im Kino, mit Ketten und Fesseln. Es ist ein Gefängnis in simulierter Freiheit. Die Kartelle arbeiten eng mit den lokalen Polizeieinheiten zusammen, und wer auf der Straße zu fliehen versucht, wird von der nächsten Streife aufgegriffen.
Dennoch hört sich all dies weit weniger brutal an als die Massenfolterungen von Migranten für Lösegelderpressungen, durch die das Kartell der Zetas noch vor Jahren von sich reden machte.
Heute brauchen sie keine brutale Gewaltanwendung mehr, denn sie haben ihren Ruf und ihre Territorien gesichert. Früher erzählten uns Migranten, dass sie in klandestinen Häusern mit 500 Menschen eingesperrt waren, von denen die, deren Verwandte zahlungswillig waren, eine gewisse Vorzugsbehandlung genossen. Sie waren nicht mehr der Folter unterworfen und bekamen zwei statt einer Tortilla zu essen. Andere hingegen, die sich nicht kollaborationswillig zeigten oder deren Familien noch kein Geld aufgebracht hatten, siechten dort mit Knochenbrüchen und Essensentzug dahin. Die physische Gewalt ist heute weitaus gezielter, es handelt sich vermehrt um psychologische Gewalt: Einer wird vor allen anderen hingerichtet. Alle, die zugesehen haben, widersetzen sich nicht.
Im Jahr 2011 sprach die Nationale Menschenrechtskommission von 11 000 innerhalb von sechs Monaten entführten Migranten. Ist die Zahl der Entführungen noch immer so hoch?
Ich glaube nicht, dass die Entführungen in der gleichen Quantität weitergehen wie einst. Es war in einer Phase, als die Zetas neue Territorien eroberten und Kapital brauchten, um sich an Ort und Stelle zu installieren. Das organisierte Verbrechen entwickelt sich stetig fort und verfeinert seine Taktiken. Zwar gibt es weiterhin auch viele Entführungen. Aus logistischen Gründen werden jedoch vermehrt kleine Gruppen entführt: damit sie nicht entdeckt und weniger Personen zur Bewachung gebraucht werden. Es gab eine Zeit, da gab es viele Berichte darüber, dass die Migrationspolizei und lokale Polizeieinheiten Migranten den Zetas aushändigten. Heute benennen Migranten wieder vermehrt staatliche Einheiten als eigenständige Akteure von Menschenrechtsverletzungen und Express-Entführungen. Die neue Staatsgewalt scheint sogar der Gewalt der Kartelle den Rang abzulaufen.
Woher rührt die institutionalisierte Gewalt gegen Migranten?
Die erneute Präsenz der Polizeieinheiten im Süden Mexikos basiert auf dem vor einem Jahr ins Leben gerufenen »Programm Südgrenze«. Ein Militarisierungsvorhaben, das im Rahmen der Mérida-Initiative von den USA finanziert wird. Zynischerweise wurde es im Juli 2014 als Antwort auf die humanitäre Krise auf den Tisch gebracht, als Zehntausende vor der Gewalt in Zentralamerika geflohene Kinder und Jugendliche an der US-Grenze festgesetzt wurden. Migrationspolitik ist damit in Mexiko wieder zu einer reinen Politik der inneren Sicherheit geworden. Die Bundespolizei, die eigentlich gegen Drogen-, Waffen- und Menschenhandel vorgehen sollte, macht nun Jagd auf Migranten.
Wie sieht diese Menschenjagd in der Praxis aus?
Viele Migranten erzählen, wie Militär und Polizei sie unter Gewaltanwendung von den Güterzügen holen, dem Hauptreisemittel der Illegalisierten. In diesen Einsätzen werden Migranten auch immer wieder vorsätzlich zu Fall gebracht. Augenzeugen berichten, wie Menschen gestürzt und unter die Zugräder geraten sind.
Erstatten Migranten in Mexiko Anzeige? Gibt es eine Aufklärung von Gewalttaten gegen sie – seien nun Polizei oder Kartelle die Täter?
Generell will kein Migrant Anzeige erstatten, aus berechtigter Angst und Misstrauen. Nur wenn ein humanitäres Visum in Aussicht steht, gehen Migranten darauf ein, eine Aussage zu machen. Es geht ihnen dabei selten um Gerechtigkeit, generell haben sie kein Vertrauen in die Justiz in Mexiko. Aus ihren Ländern sind sie ebenso gewöhnt, dass das Justizsystem korrupt und interessengeleitet ist und die Rechte der Mehrheitsbevölkerung nicht beachtet. Wenn sie jedoch in Aussicht gestellt bekommen, eine Zeit legal in Mexiko zu bleiben beziehungsweise ohne Gefahr weiter gen Norden zu reisen, erscheint ihnen das als guter Handel. Die Anzahl humanitärer Visa, die beantragt werden, ist jedoch gering, und die, denen stattgegeben wird, unbedeutend angesichts der horrenden Zahl von Gewalttaten gegen Migranten.
Mütterkarawanen aus Mittelamerika machen sich immer wieder auf, um in Mexiko selbständig nach verschwundenen Angehörigen zu suchen, nach den Menschen, die auf der Strecke vermisst werden. Haben sie damit Erfolg?
Nur, wenn Migranten sich selbstgewählt zum Untertauchen entschieden haben. Denn viele ziehen es aufgrund der restriktiven Migrationsgesetze vor, ihre Vergangenheit auszulöschen und ein neues Leben als vorgeblicher mexikanischer Staatsbürger zu beginnen. Leider nehmen die Behörden dies als Ausrede, um Verschwundenenanzeigen nicht nachzugehen. Angesichts dessen, was über den Menschenhandel zu Tage kommt, muss in Mexiko nicht nur nach Massengräbern, sondern auch nach Lebenden gesucht werden. Migranten berichten, dass dort, wo sie gefangen waren, auch Mexikaner waren, nicht nur Mittelamerikaner. Das eröffnet eine ganz neue Dimension. Die Verschwundenen des Krieges sind, so wurde bisher angenommen, Menschen, die für eine Politik der sozialen Kontrolle sterben mussten. Aber es scheint auch ein Verschwindenlassen zu kommerziellen Zwecken zu geben.