Antisemitismus und der 11. September

9/11 was an inside schmock

Der 11. September ist weltweit ein regelrechter Feiertag der Verschwörungsideologen und Antisemiten geworden. Das Internet und die sozialen Medien sind ihre wichtigsten Verbreitungskanäle.

»Was hast du am 11. September gemacht?« ist eine Frage, die wohl jede und jeder beantworten kann, die oder der vor 1995 geboren wurde. Das zeigt, dass der 11. September 2001 zu einem defining moment geworden ist: als das »Ende des langen 20. Jahrhunderts«, als Ende des »Endes der Geschichte«. Nine Eleven, wie dieser Tag seitdem im global english genannt wird, war für viele Menschen ein einschneidendes Ereignis. Nicht nur für die Opfer und ihre Angehörigen, wie die kürzlich an Krebs verstorbene Marcy Borders, die dust lady aus New York City, deren Bild zum Symbol der Überlebenden des Angriffs wurde.

Der zeitliche Abstand zwischen den Terroranschlägen auf die beiden Türme des World Trade Center sorgte dafür, dass nicht nur der zweite Angriff weltweit live übertragen wurde, sondern auch der Einsturz der Gebäude – die erste Ikone des Terrors an der Schwelle zu einer neuen, multimedialen und in Echtzeit übertragbaren Epoche. Viele Menschen reagierten fassungslos, trauerten und drückten ihr Beileid aus. Aber neben dem Schock, der Kondolenz und der Angst vor weiterem Terror gab es auch antiimperialistische Schadenfreude: Endlich hatte jemand die Bestie ins Herz getroffen, der Hegemon war verwundbar. In den Tagen nach den Anschlägen in New York und Washington formierte sich ein Aufstand gegen die USA, überall auf der Welt feierten Menschen die Anschläge und verbrannten US-Flaggen.

Doch die Hoffnung auf den Niedergang der Vereinigten Staaten erfüllte sich nicht. Infolge der Terroranschläge wurden die Sicherheitsgesetze vieler Staaten verschärft und individuelle Freiheiten eingeschränkt. In Afghanistan und im Irak führten die USA und ihre Verbündeten Kriege gegen Islamisten sowie ihre wirklichen und vermeintlichen Unterstützer. Die Schadenfreude schlug in Wut um. Bereits kurz nach den Terroranschlägen verbreitete sich die Auffassung, dass 9/11 eine geschichtliche Zäsur markiere. Die Größe des Ereignisses war von dem Moment an klar, in dem der Einsturz der Türme des World Trade Center live in die ganze Welt übertragen wurde.

Solche großen gesellschaftlichen Umbrüche bieten den Nährboden für Verschwörungsideologien, denn sie liefern denen, die von den Ereignissen tief verunsichert sind, einfache Erklärungen, die sie nicht überfordern, sondern ihnen ein gutes Gefühl, ein Gefühl des Wissens und der Souveränität geben. Dazu müssen diese einfachen Erklärungsansätze und Verschwörungsideologien aber erst verbreitet werden. Der Zugang zu verschwörungsideologischer Propaganda wurde durch den Einzug des Internets in die Privathaushalte erleichtert. Von Beginn seiner zivilen Massennutzung an war das Internet auch Ort des Austausches von obskuren Weltanschauungen. Menschen, die mit ihrer Meinung in der Gesellschaft nicht reüssieren konnten, fanden im Netz schon recht früh einen Ort, an dem sie Gleichgesinnte treffen konnten, die ihre obskuren und mitunter faschistischen und reaktionären Ansichten teilten.

 

Dieser verschwörungsideologischen Szene war sofort klar, was sich am 11. September 2001 ereignet hatte: Der geheime Plan der Weltelite zur Bildung einer Neuen Weltordnung (NWO) war in eine neue Phase überführt worden. So wurde aus 9/11 ein Baustein in einer Weltsicht, die mit der circa 100 Jahre alten antisemitischen Fiktion der »Protokollen der Weisen von Zion« begann. In diesen wurde einer imaginierten geheimen Gruppe von Juden unterstellt, durch Täuschung, Betrügerei, Umerziehung, Terror und andere »böse« Machenschaften eine autoritäre Weltregierung zu errichten. Die »Protokolle« reihen sich damit in eine lange Tradition antisemitischer Narrative ein. 9/11 also – der neuste Coup der USA, Israels, der NWO, der »Juden«. Umgehend widmeten sich Privatermittlerinnen und Privatermittler der umfassenden Aufklärung dieser Ungeheuerlichkeiten.

Da die antisemitische Interpretation der Ereignisse bereits von vornherein festgeschrieben war und Israel als Profiteur ausgemacht wurde, sezierten die Detektive und Detektivinnen konsequenterweise den Anteil jüdischer Toter in den beiden WTC-Gebäuden. Das Gerücht, jüdische Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seien vor den Anschlägen gewarnt worden, verbreitete sich blitzschnell im Netz. Langsam machte auch die Erzählung vom »inside job« die Runde, also der mutwilligen Herbeiführung der Terroranschläge durch die CIA beziehungsweise den Mossad. In der Erzählung »9/11 was an inside job« mischten sich Ungeklärtes, Pseudofakten und Pseudoexpertisen mit falschen Kausalzusammenhängen, spekulativen Videoanalysen, tendenziösen Graphiken und antisemitischen Verschwörungsmythen. Diese und andere »wahre« Hintergründe der Anschläge wurden im Internet massenhaft produziert und von Verschwörungsfans verbreitet, bewundert und weiterentwickelt. Zu dieser Zeit aufkommende Videoplattformen wie Youtube ermöglichten schon sehr früh einen Massenaustausch, der über reine Texte hinausging.

Jede und jeder hatte schon damals die Möglichkeit, eine riesige Reichweite zu erzielen, was vielen Macherinnen und Machern verschwörungsideologischer Videos zu 9/11 gelang. In Deutschland bildete sich schnell eine Szene von Verschwörungsideologinnenen und -ideologen, die sich einfach in die antisemitischen Narrative deutscher Kultur einreihte. In der Erzählung von der Weltverschwörung tritt für die Deutschen sogar noch ein besonderer Aspekt hinzu: Wenn fremde Mächte seit Jahrhunderten die Geschicke der Welt steuern, können Nationalsozialismus und die Shoah nicht in die deutsche Verantwortung fallen. Durch die Erzählung von der »jüdischen Weltverschwörung« wird die Schuldumkehr vervollständigt. Heraus kommen als wahre Opfer des Weltgeschehens: die Deutschen.

 

Hier wird die Schnittstelle zwischen nationalsozialistischer und verschwörungsideologischer Weltanschauung deutlich: Antisemitismus. Und so wird aus dem Terroranschlag ein Verschwörungsmythos, der sich nahtlos in den Antisemitismus der Moderne einreiht: Bilderberger, Illuminaten, Tempelritter, Mossad, Israel und die CIA inklusive. Hierbei bestätigt sich auch die These vom Antisemitismus als negativer Leitidee der Moderne: Verschwörungsideologien sind immer auch eine Reaktion auf das Unbehagen an den Widersprüchen der Moderne, Erklärungsmuster, die diese Widersprüche in Einklang bringen. Der 11. September 2001 war nicht nur wegen der Tragödie und der medialen Wucht eine Zäsur, sondern auch, weil die Komplexität internationaler Politik in einem Ereignis kulminierte.

Im Zuge der verschwörungsideologischen Aufarbeitung von 9/11 wurde beispielsweise dann auch die Zusammenarbeit der USA mit den Mujaheddin und dem Schah von Persien in den Fokus gerückt. Gerade mit Blick auf den Iran wurde hier eine bizarre Umdeutung der historischen Ereignisse von 1953 vollzogen: Der Iran unter Mossadegh als das Opfer der NWO, also der USA, also Israel, also »der Juden«, die als Strafe den Schah einsetzten. Die Mullahs, die nach dem Stirz des Schahs die Macht ergriffen, werden in der Erzählung zu Freiheitskämpfern für das iranische Volk gegen die, nun ja, Juden. Mit einem geschult kritischen Blick sollte jeder und jedem klar sein, dass verschiedene Akteure Interesse an einem Sturz Mossadeghs hatten. Dennoch wird der Iran als Opfer stilisiert, das sich zu Recht gegen den Staat Israel wehrt.

Das ist die unterkomplexe verschwörungsideologische Erklärung, und der Kreis zum Antisemitismus wird endgültig geschlossen. 9/11 ist seit nunmehr 14 Jahren der zentrale Verschwörungsmythos unserer Zeit. Überall sieht man »9/11 was an inside job«-Shirts, -Poster und Gratis-DVDs. Der 11. September ist ein regelrechter Feiertag der Antisemiten geworden, die sich weltweit unter dem Banner der »Wahrheit« und »Aufklärung« finden, um ihren antisemitischen Vernichtungsphantasien freien Lauf zu lassen. Dabei ist der 11. September ein Tag zum Feiern: Es ist Adornos Geburtstag, dieses Jahr wäre er 112 Jahre alt geworden. Aber vielleicht ist das auch nur ein Hinweis darauf, dass die NWO ihre Kritikerinnen und Kritiker nur allzu gut kennt.