Care for the Revolution
Ein gängiges Szenario, das Ängste schürt, lautet: Künftig gibt es mehr Menschen, die gepflegt werden müssen, als solche, die sie pflegen könnten, und die Rente wird kaum für Miete und Medikamente reichen. Dieses Szenario dient als strategisches Mittel, um Stimmung zu machen und Kassenbeiträge zu erhöhen. Doch man müßte gar nicht in die Zukunft blicken, denn Defizite und Ungerechtigkeiten im Pflegesektor gibt es schon heute. Der Pflegebereich ist stark vom neoliberalen Umbau des Sozialstaates betroffen. Eine gute Pflege erhält nicht, wer ihrer besonders bedarf, sondern wer sie sich leisten kann. Angestellte in der Pflege leiden unter der Prekarisierung ihrer Arbeit. Stellen werden abgebaut, was zu einem unzureichenden Personalschlüssel und folglich zu schlechter Versorgung führt. Befristete Beschäftigungsverhältnisse nehmen zu und das Lohnniveau ist besonders niedrig – sind es doch vor allem Frauen und Migranten, die im Care-Sektor den größten Teil der Arbeit leisten. Wie können diese Ungerechtigkeiten thematisiert und angegangen werden? Wie kann eine Gesundheitsversorgung und Pflegeinfrastruktur gestaltet werden, die sich am gesellschaftlichen Bedarf orientiert? Wie können die Gewerkschaften intervenieren? Diese Fragen diskutiert die Konferenz »Für neue Strategien in Gesundheit und Pflege«, die vom 16. bis 18. Oktober in den Räumen der Rosa-Luxemburg-Stiftung am Franz-Mehring-Platz 1 stattfindet. Gemeinsam mit der Bundestagsfraktion der Linkspartei und dem Netzwerk »Care Revolution« organisiert die Rosa-Luxemburg-Stiftung dieses Zusammentreffen. Eine Vielzahl an Verbänden, Gewerkschaften, sozialen Bewegungen, kleinen Selbsthilfeorganisationen und linken Gruppen beteiligen sich an der Vorbereitung. Erwartet werden 500 Teilnehmerinnen und Teilnehmer, unter ihnen Beschäftigte im Care-Sektor, Gewerkschafter, pflegende Angehörige, Menschen, die im Alltag auf Unterstützung angewiesen sind, kritische Wissenschaftler und interessierte Einzelpersonen. Die Konferenz möchte keine Fachtagung sein, sondern aktiv nach politischen Alternativen suchen. Bei Podiumsdiskussionen, Workshops, Arbeits- und Vernetzungstreffen und diversen Kulturveranstaltungen wird erörtert, wie es um Pflege und Assistenz steht und was mögliche Auswege aus der problematischen Situation sein können. Ausgangspunkte sind die Frustration und die schlechte ökonomische Lage der Beschäftigten. Es soll außerdem um zukünftige Arbeitskämpfe in der Pflege und im Gesundheitswesen gehen. Proteste organisiert beispielsweise die Bewegung »Pflege am Boden«: Gemeinsam veranstalten bezahlte und unbezahlte Pflegekräfte Flashmobs im öffentlichen Raum. Genau auf solche Bewegungen möchte die Konferenz zugehen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Themenschwerpunkte sind die Altenpflege, Arbeit im Krankenhaus, häusliche (unentlohnte) Sorgearbeit, Palliativmedizin und Hospize, ambulante Gesundheitsversorgung und die Zukunft der Daseinsvorsorge. Es werden Finanzierungsmodelle von Pflege erörtert, beispielsweise das Konzept der solidarischen Bürgerinnen- und Bürgerversicherung, das Gerechtigkeitsdefizite aufheben soll. Weiterhin stehen das kirchlich geprägte Pflegeethos und die rechtlichen Bedingungen für gewerkschaftliche Organisierung und Arbeitskämpfe in kirchlichen Einrichtungen zur Diskussion. Einen besonderen Fokus legt die Konferenz auf das Thema Migration: Oft sind es migrantische Pflegekräfte, die gezwungen sind, für ihren Aufenthaltsstatus Knebelverträge zu akzeptieren. Unter dem Titel »Deutschland exportiert den Pflegenotstand: Care-Krise und Migration« diskutieren Carlos Aparacio (GAS – Grupo de acción sindical) und Heino Güllmann (Referent für globale Gesundheit bei Terre des Hommes) mit Pia Zimmermann (pflegepolitische Sprecherin der Bundestagsfraktion der Linkspartei) darüber, wie Pflegekräfte aus südeuropäischen Krisenländern angeworben werden. Dadurch werden nicht nur die Gesundheitssysteme in Ländern wie Griechenland und Spanien geschwächt, sondern es wird auch hierzulande der Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen erhöht. Ein der Care-Arbeit immanentes Thema sind die Geschlechterverhältnisse. »Warum Care-Revolution und Feminismus zusammengehören« diskutieren Jette Hausotter vom Netzwerk »Care Revolution« und Julia Dück von der »Interventionistischen Linken Berlin« auf einer Podiumsdiskussion. Die gerechte Umverteilung von Tätigkeiten, die hauptsächlich von Frauen ausgeübt werden, ist eine Forderung queerfeministischer Bewegungen. Die Konferenz bietet auch Raum für eine Diskussion darüber, welche Lebens- und Arbeitsverhältnisse krank machen und umstrukturiert werden müssten, damit Gesundheit kein Gut bleibt, das man zu erkaufen gezwungen ist. So praxisorientiert die Konferenz ist, sind doch eine ganze Reihe theoretischer Reflexionen in das Konzept eingeflossen. Da ist die feministische Kritik an der biologistischen Zuweisung von Sorgekompetenzen. Aus ökonomiekritischer Perspektive wird die Verquickung von Care-Arbeit und Profitinteressen thematisiert. Auch die Debatte um Psychiatriekritik greift auf eine lange Theorietradition zurück. Und der praktische Aspekt der Veranstaltung? Was ist das revolutionäre Potential von Altenpflegerinnen und Altenpflegern? Wie kann ein Aktivismus von Hospizangestellten aussehen? »Für eine Linke, die an einer grundsätzlichen Kapitalismuskritik festhält, aber keinen Grund hat, anzunehmen, dass sich dieser in einer Art Umsturz erledigen lässt, stellt sich doch folgende Frage: Wie können wir hier und heute Veränderungen anschieben, die die Bedingungen für weitere Schritte vorbereiten und Handlungsspielräume vergrößern? Wie lassen sich die Kräfteverhältnisse Stück für Stück so verschieben, dass grundlegendere Transformationen möglich werden? »Es sind hier vor allem Alltagskämpfe, an denen wir ansetzen können, die täglichen Sorgen und Nöten der Einzelnen«, meint Barbara Fried von der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Mitorganisatorin der Konferenz. »Diese gilt es aber zu einem übergreifenden Projekt zu verallgemeinern. Nur dann kann ein effektiver Bruch mit den bestehenden Machtverhältnissen gelingen. Rosa Luxemburg nennt das ›revolutionäre Realpolitik‹.« Es geht also auch um die Frage, was eigentlich Lebensqualität ist, wie aus einem wachsenden Bewusstsein für die prekären Zustände Mut geschöpft werden kann. Nur so können Kräfte für die sogenannte Care-Revolution gebündelt werden.