Der VW-Skandal

Deutsche Werte

Der wirkliche VW-Skandal ist nicht die Manipulation der Abgaswerte, sondern die enge Verflechtung von Politik und Unternehmen in Deutschland.

Einen Tag vor dem Rücktritt des VW-Vorstandsvorsitzenden Martin Winterkorn reichten Anwälte der Nationalen Wahrheitskommission Brasiliens eine Anzeige gegen das Unternehmen ein. Sie werfen dem Autokonzern vor, mit der Militärdiktatur zusammengearbeitet zu haben, die das südamerikanische Land zwischen 1964 und 1985 beherrschte. VW-Angestellte sollen schwarze Listen von Oppositionellen erstellt und der Konzern soll zugelassen haben, dass Mitarbeiter gefangen genommen und gefoltert wurden.
Doch es ist nicht die Nachricht von der Komplizenschaft des wichtigsten deutschen Autoherstellers mit einer brutalen Militärdiktatur, die die deutsche Öffentlichkeit erschüttert. Stattdessen erregen die bekannt gewordenen Manipulationen an Abgastests die Gemüter der Standortpatrioten. Mit großer krimineller Energie wurden im VW-Konzern mehr als elf Millionen Autos so manipuliert, dass der Ausstoß von Stickoxiden bei Tests geringer ausfällt als im Normalbetrieb. Die wirklichen Werte liegen bis zu 40 Mal höher als die bei den Prüfungen gemessenen. Stickoxide belasten die Umwelt und können eine Reihe von Krankheiten verursachen, zum Beispiel Asthma.

Die von VW manipulierten Fahrzeuge haben eine Software, die erkennt, wann der Motor länger läuft, ohne dass sich das Auto fortbewegt. Dann enthalten die Abgase weniger Stickoxide, weil ein Mechanismus unterbrochen wird, der ihren Ausstoß bewirkt. Die Software stammt von Bosch, einem weiteren deutschen Traditionsunternehmen. Umweltschützer weisen bereits seit langem darauf hin, dass Abgasmessungen in Tests anders ausfallen als im Normalbetrieb. »Mich überrascht, dass alle überrascht waren«, kommentiert Axel Friedrich, ein international tätiger Verkehrsberater und Umweltexperte, das enorme Echo auf die Betrugsmeldungen. Erst nachdem die US-Umweltbehörden gegen Volkswagen vorgingen, reagierte der Konzern – und die Öffentlichkeit.
Als »Nordkorea minus Arbeitslager« beschreibt der Spiegel den Führungsstil der Männermannschaft um den bisherigen Vorstandsvorsitzenden Martin Winterkorn. Volkswagen ist der größte europäische Autokonzern mit zuletzt glänzenden Absatz- und Gewinnzahlen. Das war nicht immer so. Noch vor zehn Jahren kämpfte das Unternehmen mit herben Einbrüchen. Der US-amerikanische Markt war und ist ein entscheidender Faktor in den weiteren Expansionsplänen. In den USA waren Autos von VW lange nicht gefragt – zu unscheinbar, zu klein. Nur dank einer speziellen Clean-Diesel-Kampagne konnte der Konzern den Markt ökonomisch erfolgreich erschließen. Viele Kunden glaubten der Werbung. »Es ist so, als entdeckte man, dass das Sportidol seiner Kindheit die ganze Zeit ein Lügner auf Steroiden war«, schreibt die US-amerikanische Zeitung Fortune. Auch in Europa ist die Erschütterung groß. »Es ist der schlimmste Unternehmensskandal in der Geschichte des modernen Deutschland, und er könnte das Ende für die Produktion von Diesel-Fahrzeugen als Massenprodukt einläuten«, schrieb die Londoner Times.
In der Bundesrepublik sehen manche gravierenden Schaden für alle deutschen Autohersteller, manche den Einbruch der Ausfuhren und damit der Konjunktur. »Ruf der Exportnation in Gefahr«, fürchtet die Berliner Morgenpost. Ein anhaltender Imageschaden wäre für die deutsche Autoindustrie schlecht. Von den 5,6 Millionen im vergangenen Jahr in Deutschland gebauten PKW wurden 4,3 Millionen ins Ausland verkauft. Außerhalb Deutschlands produzierten deutsche Hersteller 9,3 Millionen Wagen – ohne Nutzfahrzeuge. In der Debatte über den gefallenen Musterknaben nimmt die Sorge um das kollektive Selbstverständnis viel Raum ein. »Ob VW noch als Identitätsstifter für die Deutschen taugt, ist fraglich«, so die Süddeutsche Zeitung.

VW hat für etliche Bundesbürger eine Symbolkraft, die ans Groteske grenzt. Das Unternehmen gilt als typisch deutsch – deutscher als die Deutsche Bank, Haribo oder einst Quelle. Es steht für Erfolg, Gründlichkeit, Zuverlässigkeit. Historisch ist VW eine Schöpfung der Nationalsozialisten. Mit dem Geld der enteigneten Gewerkschaften als Gründungskapital bauten sie 1938 ein Werk, in dem ein »Kraft-durch-Freude-Wagen« entstehen sollte – das billige und im Verbrauch sparsame Auto für den »Volksgenossen«, seine Frau und drei Kinder. Doch zunächst ließ das Unternehmen auch von Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen militärische Fahrzeuge für drei Mann und eine MP bauen. Das Werk entstand bei Fallersleben, dem Geburtsort des Verfassers der deutschen Nationalhymne, August Heinrich Hoffmann von Fallersleben. Nach dem Zweiten Weltkrieg gaben die Alliierten dem Ort, an dem sich Tausende Arbeiter rund um die Fabrik angesiedelt hatten, den Namen »Wolfsburg« – nicht in Anspielung auf Hitlers Decknamen, der Name geht auf eine echte Burg zurück. Die Nationalsozialisten hatten sich für den Standort entschieden, weil er verkehrsgünstig und im Kriegsfall weit genug von Grenzen und Metropolen entfernt lag.
Tatsächlich wurde von den Industrieanlangen wenig zerstört, so dass die Produktion nach dem Krieg schnell wiederaufgenommen werden konnte. Der »Käfer«, einst im Auftrag der Nazis von Ferdinand Porsche konstruiert, wurde als Exportschlager zum Symbol für das deutsche Wirtschaftswunder. 1960 wurde VW privatisiert. Heutzutage ist das Land Niedersachsen mit 20 Prozent an dem Unternehmen beteiligt, die IG Metall hat weitreichende Mitbestimmungsrechte, etwa bei Produktionsverlagerungen. Bei der Durchsetzung von Unternehmensentscheidungen gegen die Belegschaft waren die Manager in Wolfsburg nicht zimperlich. Vor zehn Jahren kamen Bordellbesuche und andere Bestechungen auf VW-Kosten ans Licht, mit denen Manager Betriebsräte gekauft hatten.
VW ist in der Abgasaffäre geständig. Die ersten Konsequenzen waren schnell gezogen. Winterkorn musste gehen, für seine Altersvorsorge hat VW 28 Millionen Euro zurückgestellt. Sein Nachfolger Matthias Müller ist ein alter Vertrauter des VW-Patriachen Ferdinand Piëch, der sich im Frühjahr bei der von ihm forcierten Ablösung von Winterkorn nicht durchsetzen konnte. Wer was von den Manipulationen wusste, ist unklar. Ob andere Hersteller ähnliche Manipulationen vorgenommen haben, steht noch nicht fest. VW hat eine US-amerikanische Anwaltskanzlei damit beauftragt, die Sache aufzuklären. Die Angelegenheit wird VW sehr viel Geld kosten, viel mehr, als es die Komplizenschaft mit Diktaturen je vermochte. Dem Konzern drohen in den USA Strafzahlungen bis zu 18 Milliarden US-Dollar, hinzu kommen Schadenersatzansprüche von Kunden, auch die Umrüstung von Millionen manipulierter PKW ist nicht billig. Dutzende Klagen von Kunden sind bei US-Gerichten bislang eingereicht worden, die von Aktionären werden folgen. Anwaltskanzleien bereiten Sammelklagen gegen VW vor.
In Deutschland gibt es diese Möglichkeit nicht, das schwächt die Position von Kunden, die einen der hierzulande verkauften fast drei Millionen Wagen mit Betrugssoftware erworben haben. Der Verbraucherzentrale-Bundesverband (VZBV) fordert als Konsequenz aus dem Skandal, in Deutschland Gruppenklagen einzuführen. »Rechtsbruch darf sich für Unternehmen nicht lohnen. Es ist an der Zeit, dass Verbraucher nicht nur zu ihrem Recht, sondern auch zu ihrem Geld kommen«, so VZBV-Vorstand Klaus Müller. In Deutschland können Unternehmen bislang unrechtmäßig erzielte Gewinne oft behalten, weil Klagen extrem kompliziert sind. Auch das müsse sich ändern, fordert der VZBV.

VW ist ein reiches Unternehmen, aber die anstehenden Summen zur Schadenseindämmung kann auch dieser Konzern nicht einfach wegstecken. Er hat eine Bank, über die Kunden ihren Autokauf mit Krediten finanzieren. Vor allem für die Bank dürfte die schlechte Bewertung durch Rating-Agenturen zum Problem werden. Allerdings gilt VW nicht nur in Niedersachsen, sondern in ganz Deutschland als systemrelevant. Die Bundesregierung wird sich im Ernstfall etwas einfallen lassen, um den fallenden Riesen aufzufangen.
Ob Abwrackprämie, Verzicht aufs Tempolimit oder Durchkreuzung der Pläne der EU zu den Höchstgrenzen des CO2-Ausstoßes – stets ist die Politik der Branche zu Diensten gewesen, egal ob Helmut Kohl, Gerhard Schröder oder Angela Merkel im Kanzleramt saß. »Die Bundesregierung muss auf Abstand zur Autolobby gehen«, fordert die Organisation Lobbycontrol. Die Autobranche weiß ihre wirtschaftliche Macht auszuspielen. In Deutschland arbeiten nach Angaben des Bundeswirtschaftsministeriums 775 000 Beschäftigte direkt oder indirekt im Autobau. 2014 hatte die deutsche Automobilindustrie einen Umsatz in Höhe von 384 Milliarden Euro – weit über dem Bundeshaushalt mit knapp 300 Milliarden Euro.
Hersteller und Politik sind eng miteinander verbandelt. Der Cheflobbyist von VW ist Thomas Steg. Er ist in Niedersachsen unter Gerhard Schröder emporgekommen und war einst Sprecher der Bundesregierung. Im Frühjahr 2015 ging auch Merkels ehemaliger Büroleiter in der CDU-Zentrale zu VW. Der einstige CDU-Verkehrsminister Matthias Wissmann ist heute Präsident des Verbands der deutschen Automobilindustrie. Der frühere Staatsminister im Kanzleramt, Eckart von Klaeden, ist heute Lobbyist für Daimler.
Die Staatsanwaltschaft Braunschweig hat im Fall VW Ermittlungen eingeleitet, auch US-Behörden ermitteln. Dass Manager nach solchen Skandalen vor Gericht gestellt werden, ist in Deutschland im Vergleich zu den USA selten. Justiz und Behörden in den USA sind gegenüber Unternehmen und Managern sehr viel unnachgiebiger, als man es in Deutschland ist. Ein Grund dafür ist, dass es dort anders als in der Bundesrepublik ein Unternehmensstrafrecht gibt; ein Konzern kann etwa mit der Schließung von Geschäftsfeldern oder Geldbußen bestraft werden. Die US-Behörden haben deshalb auch Wirtschaftskriminelle besser im Blick. Ob der große Korruptionsskandal bei Siemens, die systematischen Betrügereien der Deutschen Bank oder jetzt Volkswagen – die Aufdeckung der großen Kriminalfälle der deutschen Wirtschaft begann stets in den USA.
Kein Wunder, dass die deutsche Industrie mit großem Pathos für die Umsetzung des transatlantischen Handelsabkommens TTIP mit den USA wirbt. Anders als von TTIP-Gegnern oft in den Vordergrund gestellt, geht es bei diesem Abkommen keineswegs nur um die Absenkung von Standards in Europa – sondern auch und gerade in den USA. Denn Manager aus Wolfsburg und anderen Konzern-Zentralen hätten eine Menge zu gewinnen, wenn die USA ihre wirtschaftsrechtlichen Standards auf deutsches Niveau senken müssten.