Dem italienischen Schriftsteller Erri De Luca wird Anstiftung zu Straftaten vorgeworfen

Worte zu Drahtscheren

In Italien fordert die Staatsanwaltschaft gegen den Schriftsteller Erri De Luca wegen Anstiftung zu kriminellen Handlungen bei den Protesten gegen die Hochgeschwindigkeitstrasse TAV acht Monate Haft.

»Die Anstiftung, für die man mich verklagt hat, ist nichts im Vergleich zu der Anstiftung, die ich bewirken möchte.« Schon vor Prozessbeginn im Januar bekannte der Schriftsteller Erri De Luca, dass er sein Publikum nicht nur zur Lektüre anregen, sondern zum Widerstand und zum Kampf für Gerechtigkeit aufrufen wolle. Mit der Veröffentlichung des Pamphlets »Mein Wort dagegen« nahm er seine Verteidigung im Gerichtssaal vorweg, plädierte für das Recht und die Pflicht zu widersprechen.
De Luca wird beschuldigt, wiederholt zu kriminellen Handlungen gegen den Ausbau der Hochgeschwindigkeitstrasse (TAV) Turin-Lyon aufgerufen zu haben. Konkrete habe er dazu angestiftet, die Arbeiten der mit dem Bau beauftragten Firma LTF zu stören und am Bauabschnitt im italienischen Val di Susa Schäden anzurichten. Vergangene Woche forderte die Staatsanwaltschaft in Turin deshalb eine Haftstrafe von acht Monaten.

Die Anklage stützt sich auf ein Telefoninterview, das der Autor im September 2013 der Online-Zeitung Huffington Post gegeben hatte. Im Frühjahr desselben Jahres hatte die No-Tav-Bewegung zu Protesten gegen die Ausweitung der Sperrzone und der damit verbundenen Militarisierung des Susa-Tals aufgerufen (Jungle World 42/2013). Mit Beginn der Probebohrungen für den umstrittenen neuen Alpentunnel war die Baustelle in Chiomonte wiederholt nachts mit Molotowcocktails angegriffen worden. Gian Carlo Caselli, damaliger Leiter der Turiner Staatsanwaltschaft, beklagte, dass einige Intellektuelle die gewalttätigen Proteste im Val di Susa legitimierten und die Gefahr terroristischer Umtriebe unterschätzten. Er nannte keine Namen, aber seine Andeutungen genügten. Der Turiner Philosoph Gianni Vattimo, damals noch Abgeordneter des Europaparlaments, musste sich für einen Gefängnisbesuch bei No-Tav-Aktivisten rechtfertigen. Erri De Luca hatte in einem Artikel die Medienhetze gegen die No-Tav-Bewegung kritisiert. Auf die Anschuldigungen Casellis angesprochen, antwortete der Autor der Huffington Post: »Die TAV muss sabotiert werden. Dazu sind Drahtscheren nützlich: Mit ihnen kann man Gitterzäune durchschneiden. Mit Terrorismus hat das nichts zu tun.« Auf Nachfrage der italienischen Nachrichtenagentur ANSA bekräftigte De Luca: »Ich bleibe bei meiner Überzeugung, dass die TAV nutzlos ist, und denke weiterhin, dass es richtig ist, die Bauarbeiten zu sabotieren.« Er gab an, sich selbst an Straßenblockaden beteiligt und somit die freie Zirkulation von Bau- und Polizeifahrzeugen sabotiert zu haben.

Die Staatsanwaltschaft hat eine Liste von Straftaten vorgelegt, die alle nach dem Interview begangen wurden, konnte aber keinen direkten Zusammenhang mit den Äußerungen De Lucas nachweisen. Dass seinen Stellungnahmen eine besondere Gefährlichkeit zukommen soll, weil er in den siebziger Jahren in der linksautonomen Szene aktiv war, will De Luca nicht gelten lassen. Er gehört nicht zu jenen, die ihre Mitgliedschaft in der Gruppe Lotta Continua verleugnen, eher trägt er seine anarchorevolutionäre Vergangenheit mit viel Pathos vor sich her. Doch im Prozess, darauf besteht der Schriftsteller, gehe es nicht um seine Biographie, nicht um seine Taten, sondern nur um Worte. So verteidigt er vehement den Gebrauch des Wortes Sabotage, seine Bedeutung dürfe nicht auf die materielle Beschädigung beschränkt werden. Sabotage sei auch als Verweigerung, als Verhinderung durch Verschleppung und Vernachlässigung zu verstehen.
Dass er in seiner Streitschrift an die Möglichkeit der wilden, unangekündigten Streiks erinnert, mit denen in den sechziger Jahren die Produktion in den norditalienischen Fabriken sabotiert wurde, ist kein Zufall. Einige Arbeiter hatten De Luca in einem offenen Brief aufgefordert, sich in ihre Lage zu versetzen, schließlich gefährdeten die Sabotageakte an den Baustellen ihre Gesundheit und ihren Arbeitsplatz. Doch solche Versuche, die Arbeiterschaft gegen den mutmaßlichen »Salonintellektuellen« aufzubringen, laufen bei De Luca ins Leere. Er hat erst mit 40 Jahren angefangen, Romane und Erzählungen zu veröffentlichen, und zuvor selbst jahrelang auf dem Bau und in der Fabrik gearbeitet. Dass sich die Tunnelarbeiter wegen einer desolaten wirtschaftlichen Lage gezwungen sehen, lebensbedrohliche Arbeitsbedingungen zu akzeptieren, ist für De Luca nur ein Grund mehr, einen sofortigen Baustopp zu fordern. Denn lebensgefährlich ist für die Arbeiter nicht der No-Tav-Protest, sondern das Einatmen des bei den Bohrungen im Berg freigesetzten Asbest- und Uranstaubs.

Da De Luca schon vor Prozessbeginn erklärt hatte, jedes Gerichtsurteil anzunehmen, aber keine Einschränkung seines Wortschatzes zu akzeptieren, womit er die Absicht zur Wiederholung der ihm vorgeworfenen Tat ankündigte, zeigte er sich über die »Milde« des geforderten Strafmaßes überrascht. Er betonte aber noch einmal, dass er sich keineswegs als Märtyrer der No-Tav-Bewegung verstehe, sondern als Zeuge in einem Prozess, der Widerspruch unter Anklage stelle.
Solidarität erfährt De Luca inzwischen weit über die No-Tav-Bewegung hinaus. Seine Schriftstellerkolleginnen und -kollegen halten sich zwar auffallend zurück, dafür organisiert sein Lesepublikum unter dem Hashtag #IostoconErri (Ich stehe an Erris Seite) seit dem Frühjahr zahlreiche Lesungen des Pamphlets »Mein Wort dagegen«. Es wurde gleichzeitig in Italien, Frankreich, Spanien und Deutschland publiziert und fand im März auf der Buchmesse in Paris einen prominenten Unterstützer: Um eine Stellungnahme zum Fall Erri De Luca gebeten, antwortete der französische Staatspräsident François Hollande, Schriftsteller dürften nicht wegen ihrer Texte verfolgt werden.
Das Gericht in Turin will sein Urteil am 19. Oktober verkünden.