Kamasi Washington und der Afro­futurismus

Vom Black Elvis über Sun Ra bis ins Grünspan

Zwischen geraubter Vergangenheit und technologischem Fortschritt: Musiker wie Kamasi Washington erinnern an den Afrofuturismus.

Irrsinnig: Kamasi Washington sieht aus wie ein durch jahrelanges Slackertum geformter Wiedergänger Sun Ras. Als hätte sich dem majästetischen Äußeren eine aus den Tiefen der Muskelfasern stammende Coolness hinzugesellt. Überhaupt wirkt das ganze Ensemble wie eine zeitgenössische Ausgabe des Arkestra. Mindestens ebenso irrsinnig ist es, dass Washingtons Bassist Miles Mosley auf seinem Kontrabass besser Doom Metal spielen kann als eine ganze Doom-Metal-Band, wohlgemerkt bei einem Jazz-Konzert.
Doch um all das geht es hier nicht. Stattdessen um eine Art phatisches Element im Unterboden dieser Musik, mit dessen Hilfe sie es vermag, Geschichte als Emotionen zu kommunizieren. So jedenfalls fühlt es sich an im Hamburger Club Grünspan an diesem 6. November.
Kamasi Washingtons Musik ist zugleich ­Reminiszenz an Jazz (Herbie Hancock, Sun Ra, ­Alice Coltrane, Miles Davis), HipHop (Kool Keith, Afrika Bambaataa, Public Enemy, A Tribe Called Quest), P-Funk (Parliament) und Elektronika (Model 500, Cybotron, Jeff Mills). Das alles weniger in einem strikt musikalischen Sinne, mehr in Form einer geteilten Sensibilität. Denn in ihrer jeweils spezifischen Ausprägung sind oder waren die Klangwelten dieser Künstler doch Variationen eines Themas, Produkt der Auseinandersetzung mit einer Frage: »What does it mean to be black?« Sie ist der Ausdruck der psychischen und sozialen Disposition, die der Soziologe W. E. B. Du Bois zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts durch den Begriff »Double Consciousness« fasste. Damals schrieb er: »One ever feels his twoness, – an American, a Negro; two souls, two thoughts, two unreconciled strivings; two warring ideals in one dark body, whose dogged strength alone keeps it from being torn asunder.« Dieser Schmerz, die Ausgeburt des Zwangs, die eigene Identität immer unter dem Gesichtspunkt des Mangels – als minoritärer Abkömmling des weißen Subjekts – denken zu müssen, daran erinnert auch das Konzert an diesem Abend.
Ein knapper Exkurs in die Geschichte: Für die westlichen Gesellschaften eröffnete sich im 17. Jahrhundert mit René Descartes berühmtem Diktum »Cogito ergo sum« ein neuer Diskurs: das segensreiche Projekt der Aufklärung, das sich daran abarbeitete, die Religion ins Reich der Mythen zu verbannen und das Fundament für die modernen Wissenschaften zu legen, mithin den Nährboden für Emanzipation und nicht zuletzt die Möglichkeit der Selbstbestimmung als vernunftbegabtes Subjekt. Zur selben Zeit wurden geraubte Afrikanerinnen und Afrikaner auf die Sklaventransportschiffe der Europäer verfrachtet, um als Fracht in die Neue Welt verschifft zu werden. Im weiteren Verlauf des atlantischen Sklavenhandels durchlebten Abertausende das »Founding Trauma« (Kodwo Eshun) durch Erfahrungen von kultureller Entwurzelung, vor allem aber von Dehumanisierung. Auf den Sklavenmärkten in Amerika angelangt und während der Reise jenes vom Westen so hochgehandelten Werts der Menschlichkeit beraubt, waren sie Objekte geworden, »Menschen-Material«, wie es Achille Mbembe in »Kritik der schwarzen Vernunft« beschreibt. »Der Neger (ist) der (oder auch das) (…), den (oder das) man sieht, wenn man nichts sieht, wenn man nichts versteht und, vor allem, wenn man nichts verstehen will.«
Obendrein erwies sich die Maschinerie des Sklavenhandels als äußerst effektiv in der Auslöschung kultureller Überbleibsel der vergan­genen Zivilisation: Dokumentationen der Herkunft wurden vernichtet, Muttersprachen verboten, Kinder regelmäßig der Obhut ihrer Eltern entrissen und weiterverkauft. Auf diese Weise wurden für die kommenden Generationen der afroamerikanischen Diaspora noch die letzten Versatzstücke eines herkunftsspezifischen Sozialbewusstseins zerstört und mit ihnen die Möglichkeit, auf eine kollektive Vergangenheit Bezug zu nehmen.
Mit der systematischen Verweigerung der Menschenrechte gerät die Figur des Sklaven zum blinden Fleck aufklärerischen Denkens, in dessen Zentrum das weiße, vernunftbegabte Subjekt die eigene Zweckrationalität walten lässt. Indem die Aufklärung der versklavten ­afroamerikanischen Diaspora das westliche Konzept der Subjektivität bis zur Einführung des 13. Zusatzartikels der US-amerikanischen Verfassung im Jahr 1865 kategorisch vorenthielt, schloss sie eine ganze Bevölkerungsgruppe vom dominierenden Strang der Geschichtsschreibung aus. Walter Benjamin schrieb dazu in einer seiner Thesen zum Geschichtsbegriff: »Wer immer bis zu diesem Tage den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahinführt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als Kulturgüter.« In dem Maße also, in dem die Aufklärung eine Geschichte der weißen, westlichen Erziehung zur Mündigkeit schrieb, gedieh gleichsam in ihrem Schatten eine der schwarzen Unterdrückung. Im Lichte dieser Relation gelesen, sind die Schöpfungen afroamerikanischer Kultur zugleich auch Mahnmal der Barbarei, wie Ben­jamin schreibt. Ähnlich formulierte das Sun Ra in der Dokumentation »A Joyful Noise«: »They say that history repeats itself. But history is only his story, you haven’t heard my story yet.«
Als in den frühen Stadien des Kalten Krieges in den fünfziger Jahren zwischen den USA und der Sowjetunion das Wettrüsten um die Kolonialisierung des Weltalls (das sogenannte Space Race) ausbricht, trägt die auf der Erzählung technologischen Fortschritts basierende Aufbruchseuphorie auch auf kultureller Ebene Früchte. Plötzlich öffnet sich der begrenzte Horizont irdischen Denkens hin zur Unendlichkeit, zum Potentiellen und Spekulativen. Zur selben Zeit avancieren Radio und Fernsehen zu Massenmedien und lösen sowohl Bild als auch Ton vom Ursprung ihrer Entstehung ab und setzen damit auf breiter Ebene eine Entwicklung fort, die bereits mit der Entwicklung des Phonographen und der Photographie begann. So rückten neue, technologievermittelte Formen der Subjektivität in den Rahmen des Denkbaren.
1952 erscheint Ralph Ellisons Science-Fiction-Roman »Invisible Man«, der die Geschichte ­eines Afroamerikaners auf der Suche nach der eigenen Identität außerhalb der Bilderwelten weißer Vorstellungen erzählt. Ellisons Protagonist entdeckt sie schließlich in der Auflösung des Körpers in Sound und Licht. Elektrisch verstärkt und über fünf Radioapparate multipliziert, schießt sein Astralleib im Gewand von Louis Armstrongs Stimme mit Lichtgeschwindigkeit durch die New Yorker Unterwelt.
Hier wird en passant ein weiteres wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen weißen Denkmodellen des Subjekts und einer Tradition afroamerikanischer Konzepte deutlich: Während erstere vor allem vermittels der sinnstiftenden Kraft des Sichtbaren (Schrift und Bild) funktionieren, schöpfen letztere ein Gros derselben aus dem Akustischen.
Ellisons »Invisible Man« artikuliert einerseits prototypisch die Faszination der Afrofuturisten für die Potentiale der Technologie, benennt darüber hinaus jedoch ein Befreiungsmoment: Eine Idee von Subjektivität, die nicht mehr den Indizes von Körper und Stimme ­verhaftet bleibt. Hier verketten sich magische Qualitäten mit der Wirkungskraft der Techno­logie zu einer Art posthumanen Hybriden, den der Kulturkritiker Alexander Weheliye »Hypersoul« nennt. Dieser Strategie liegt das mythologisierte Konstrukt einer schwarzen Seele zugrunde, deren Fundamente auf dem afrikanischen Kontinent zu Zeiten einer längst vergangenen Zivilisation ruhen – so lassen sich etwa im Œuvre von Sun Ra zahlreiche Bezüge auf die Pharaonenzeit im Alten Ägypten entdecken. Aus diesem Mythos leitet sich ein Modell schwarzer Identität ab, das sich vor allem aus einer Art Voodoo-Metaphorik speist. Zugleich formiert sich ein schwarzes Subjekt, in dessen Kern sich Mythos und Magie verschränken, um die Basis jenes Rationalismus in Frage zu stellen, auf der das aufklärerische Subjekt fußt. Mehr noch: Indem sie der westlichen Ratio­nalität das Irrationale gegenüberstellt, entlarvt die Strategie des Afrofuturismus sowohl sich selbst als auch das Projekt der Aufklärung als Wissensstrukturen, die einer jeweils eigenen Logik der Sinnstiftung folgen. Im Licht dieser Erkenntnis bröckelt der immanente Universa­litätsanspruch aufklärerischen Denkens unter der Last eines mit Mitteln der Rationalität nicht zu legitimierenden Rassismus.
Eine derartige Konzeption von Subjektivität betont zudem das Wandelbare, um mithin den Begriff selbst von dessen symbolischer Verdichtung auf den weißen Körper zu befreien. Im selben Atemzug stellt sie unterschwellig den westlichen Anthropozentrismus in Frage. Überdies wird das Spiel mit Kunstfiguren möglich, wie sie beispielsweise Kool Keith in Form von Dr. Octagon, Black Elvis und Dr. Doom oder Parliament mit Dr. Funkenstein, dem Lollipop Man und den Extrater­restrial Brothers erschufen. Der britische Kulturkritiker Kodwo Eshun sprach in diesem ­Zusammenhang von »Multi-Egos«, denn als gänzlich artifizielle Charaktere sind diese Kunstfiguren keine Variationen eines originären Ichs mehr, sondern eigenständige Sub­jekte und damit auch so etwas wie spekulative Entwürfe einer Utopie, die sich am Leitfaden technologischer Entwicklung auf eine postrassistische, posthumane (insofern »human« auf das Menschenbild des westlichen Humanismus abzielt) und postidentitäre Gesellschaftsform zu bewegen.
An dieser Stelle verbirgt sich auch der grundlegende Unterschied zur Bewegung des Black Nationalism: Während letztere um das afroamerikanische Äquivalent weißer Subjektivität kämpfen, stellt der Afrofuturismus das Konzept zur Gänze in Frage. Das macht ihn gleichsam zum Politikum, denn insofern über den Mittler des Subjekts Identitäten und damit immer auch Ausgrenzungen produziert werden, sind diese machtpolitisch gegeneinander ausspielbar. Im Namen der afrofuturistischen Utopie gilt es also, so eine Forderung von Antonio Negri und Michael Hardt, »an der Abschaffung der eigenen Identität zu arbeiten«.
Was an diesem Abend im Grünspan klar wurde: wie viel besser diese Musik ist, wenn man sie nicht perspektivisch ansieht und -hört, sondern wirklich zuhört, während sie wütet; wenn man bei Soli nicht den musikalischen Fähigkeiten applaudiert, sondern weil diese Soli die Emotion anreichern und schärfen, nur um anschließend mit vier Drumsticks auf den Solarplexus einzuhämmern. Sich selbst samt des Bewusstseins dieses Selbst zertrümmern lassen, darum geht es.
Vielleicht ist der Schmerz, diese vage emotionale Erkenntnis davon, was es bedeuten könnte, keine Vergangenheit zu haben, produktiv. In dem Sinne: Am Gerüst der eigenen Position rütteln, endlich wieder anfangen, über Zukünfte zu spekulieren, anstatt im Krebsgang von Mode zu Mode zu hasten. Im kleinen Rahmen von Pop braucht es mehr denn je Labels wie Brainfeeder, auf dem auch Kamasi Washingtons jüngstes Album »The Epic« erschienen ist, weil dort die akustische Komfortzone verlassen und verhandelt wird. Überhaupt: mehr afro-diasporische Musik, mehr Verhandlung!