Die Debatte zu Islamismus und Toleranz

Lust auf Liberté statt German Angst

Wie in Deutschland der politische und mediale Diskurs über den Islamismus zum Eiertanz gerät, der jede Aufklärung verhindert.

Angesichts der barbarischen Gewalt jihadistischer Killer in Paris lässt sich in Deutschland, anders als in Frankreich, nur wenig Beruhigendes, Erbauliches oder gar Widerständiges ausmachen. Ganz so, als hätte man sich bislang von den Folgen des Aufstiegs islamistischer Ideologie völlig abschotten können, wird diskutiert, ob die Anschläge von »bisher ungekannter Qualität« seien. Anders als im Januar bei den Angriffen auf Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt läge die Besonderheit der jüngsten Anschläge in Paris darin, dass sie sich nicht gegen bestimmte Ziele gerichtet hätten. Damit wird klar, wer bislang nicht in Überlegungen über »unsere Sicherheit« einbezogen wurde: die Jüdinnen und Juden in Europa, deren Sorgen angesichts des Aufstiegs des Islamismus und dessen inhärenten Antisemitismus schon länger ignoriert oder beschwichtigt werden. Und diejenigen, die ihre bürgerlichen Freiheits- und Gleichheitsrechte nicht durch den schlechten Konsens der Relativierung selbiger einschränken lassen wollen.

Zu den unausweichlichen Folgen islamistischer Anschläge gehören in Deutschland seit dem 11. September 2001 die Rituale der institutionalisierten Debattenkultur rund um Islam und Muslime. Rituale, die versuchen, das Bedürfnis nach Sicherheit durch die Wiederholung des immer Gleichen zu bedienen. So schielt man stets erwartungsvoll auf die Antworten der in den Rang von Autoritäten erhobenen Vertreter von Islamverbänden. Die Funktionäre wollen oder können aber nichts allgemein Nachvollziehbares sagen. »Im Bewusstsein der Barmherzigkeit Allahs stehen wir vereint in unserer Liebe zum Nächsten und in Achtung vor dem Leben«, hieß es auf einer gemeinsamen Pressekonferenz des Zentralrats der Muslime, des Islamrats und anderer Verbände. Angesichts der in Paris gerade erst verübten Morde im Namen »Allahs« besticht die mit dem Stolz des aufrechten Gläubigen zur Schau getragene Selbstgewissheit, den einzig wahren barmherzigen Islam zu verkörpern, durch solide Einfalt. Einerseits sind die Vertreter der Islamverbände zwar demselben Glauben verhaftet wie die Täter – nämlich, sich in ihrem ganzen Tun auf den unhinterfragbaren Koran stützen zu müssen. Dass sie sich ausgerechnet damit von den Jihadisten distanzieren wollen, wird vom Bewältigungsbetrieb gerade nicht als Borniertheit erkannt, sondern dankbar angenommen. Die »klare Distanzierung« sei »zu erwarten« gewesen, täuscht sich beispielsweise Claudia Hannen in der Taz über die Sinnlosigkeit des Rituals hinweg. Dessen Kern besteht im gegenseitigen Austausch von Floskeln der Höflichkeit und der Anerkennung, mit dem alle Beteiligten aus der hierzulande so beliebten Begegnungs- und Dialogtradition vertraut sind.
Die pflichtbewusst vollzogenen Debatten sind dem deutschen Sicherheitsbedürfnis insofern zuträglich, als durch diesen Eiertanz um die Tabus Selbstbeschwichtigung betrieben wird. Das dürfte natürlich auch deutsche Muslime als Teil derselben Gesellschaft um- und antreiben, das Spiel mitzuspielen. Durch das Ritualhafte der Distanzierung einerseits und die Anerkennung fixer und daher auch »zu erwartender« Floskeln (»Das sind keine Muslime«) andererseits wird ­gerade jene nötige kritische Auseinandersetzung, die auf alle Beteiligten aufklärend wirken könnte, vermieden. Mit der Übernahme von Tabus und nebulösen Phrasen wie der vom »Missbrauch der Religion« leistet der Aufarbeitungsbetrieb seinen antiaufklärerischen Beitrag, auf dass die kritische »Auseinandersetzung« mit unterschiedlichen Interessen und Gruppen mit Islambezug zuverlässig ausbleibt. Mit den Tabus wird die Angst in Form eines diffusen Misstrauens gegen das eigene Sprachhandeln konsolidiert. »Warum junge Frauen und Männer – in wessen Gottes Namen auch immer – Waffen in die Hand nehmen, um andere Menschen niederzumetzeln«, wie es die Tagesthemen-Moderatorin Caren Miosga formulierte, das muss »schlicht unbegreiflich« bleiben. Bloß nicht Islamisten sagen. Oder Allah.

Wenigstens vereinzelt zeichnet sich auch Widerstand gegen die Einfalt im deutschen Debatten-Dschungel ab. In für einen Politiker der Grünen erfrischend direkter Sprache antwortete etwa Daniel Cohn-Bendit im Taz-Interview auf die Frage nach dem Charakter der Pariser Attentate: »Es ist ein islamischer Faschismus.« In der Feststellung liegt die Perspektive begründet, dass es eben doch »einen Kampf der Muslime um einen aufgeklärten Islam geben« müsse. Dass die Befreiung aller Muslime (und damit aller Menschen) vom Phantasma des »wahren Islam« nur das Werk der Muslime selber sein kann und muss. Das hat den Bruch mit selbstauferlegten Diskursverboten zur Voraussetzung. Den Bruch nämlich mit dem Glauben an die Unhinterfragbarkeit, dessen Hüter zu sein Verbandsvertreter ebenso wie Salafisten und IS vorgeben. Deniz Yücel verweist in der Welt darauf, dass »der Islam, wie jedes andere Glaubens- und Weltanschauungssystem auch, die Summe dessen ist, was seine Anhänger denken und tun«. Solange es also den Jihadismus gebe, gehöre er zum Islam – und ergo »inschallah eines Tages nicht mehr«, so Yücel.
Freilich braucht es für die eigene Befreiung gelegentlich solidarische Verbündete. Die sich deutschen Muslimen traditionell andienenden Linken und Antirassisten diskreditieren sich selbstredend als kontraproduktiv. Die stets vorgeblich um Ausgleich von Differenz bemühten Anhänger der »Erbsenzählerei« (Yücel) bereichern die Debattenkultur derzeit bloß mit ihren ritu­alisierten, paternalistisch motivierten Empörungsbekundungen (Paris, ja? Und was ist mit Beirut?!).
Und doch zeitigen die islamistischen Anschläge Erschütterungen bei den antirassistisch motivierten deutschen Positionierungsweltmeistern. Im Neuen Deutschland schreibt sich die Kolumnistin Elsa Koester das Entsetzen darüber von der Bewegungsseele, dass der IS mit den Anschlägen in Paris eine neue Zielgruppe ins Visier genommen habe, nämlich die »linksliberale, kritische Mittelschicht«. Imaginiert als »tolerante, tendenziell antirassistische und pazifistische junge Menschen«, die »in den zerschossenen Cafés und Kneipen im zehnten und elften Bezirk von Paris« lediglich »ihr ›Demi‹« getrunken hätten, hat es diesmal offenbar die Falschen, weil Guten getroffen. Die Fassungslosigkeit darüber, dass der Jihadist keinerlei Grenzen, auch nicht die distinkter Politmilieus anerkennt, ist mit Händen zu greifen. Nicht »die Kriegsherren«, nicht die »dekadenten Eliten« wurden attackiert: »Sondern wir. Wir Linken.« Die Empörung und Wut über eine so ungerechte Welt gerät im verschwörungsaffinen Duktus (»Für die meisten ist in Paris nicht die linksliberale Jugend gestorben, sondern der französische Bürger. So erzählt es uns die politische Elite«) und in der identifikatorischen Überhöhung der imaginierten Opfergruppe (»Jenes Milieu eben, das in Frankreich wie auch in Deutschland sehr wichtig ist für den Zusammenhalt der Gesellschaft, weil es das größte Bollwerk gegen rechts darstellt«) schnell zur Nabelschau. Der Rückfall in antibürgerliche Ressentiments gegen alles, was als elitär, westlich und dekadent herabgesetzt wird, zeugt von der primitiven Spaltung der Welt in Gut und Böse, anstatt die behauptete gesellschaftliche Relevanz der Linken als antireaktionäres Bollwerk auch nur im Ansatz einzulösen.