Der Westen und der Krieg

Krieg und Klassenkampf

Über das Verhältnis der westlichen Gesellschaften zum Krieg.

Alles hängt am Einsatz von Bodentruppen: Kommen sie nicht, werden die Milizen des »Islamischen Staats« (IS) niemals besiegt werden. So endet derzeit eigentlich jeder Essay, jede Analyse über den syrisch-irakischen Bürgerkrieg und seine weltweite Bedeutung. Zwar sind amerikanische, iranische und auch russische Einheiten vor Ort, aber es handelt sich entweder um »Berater« und Ausbilder oder kleine Spezialkommandos, es sind allenfalls Surrogate einer schlagkräftigen Infanterie. Sie kümmern sich um Geiselbefreiungen, Attentatsverhinderung und – mehr schlecht als recht – um die Logistik. Der Krieg soll weiter ein Stellvertreterkrieg bleiben. Niemand will Bodentruppen entsenden, weil niemand es kann – das ist die These. Es handelt sich nicht um ein rein militärisches Problem oder – scheinbar der krasse Gegensatz – ein rein moralisches, obwohl militärische und moralische Fragen eine Rolle spielen. Sie sind aber aufgehoben in einem größeren Komplex, der den Zustand des Kapitalismus als Weltsystem betrifft.
Denn der Einsatz von Bodentruppen, wie er typisch für die Kriege auch noch unserer Zeit sein müsste, wäre gleichbedeutend mit der Sichtbarkeit des Proletariats – und das will niemand, am allerwenigsten das globale Proletariat selbst. Bodentruppen und die Klasse der Arbeiter in einem Satz zusammenzubringen, dürfte für die meisten völlig abwegig erscheinen. Das ist aber schon symptomatisch, denn im 19. und 20. Jahrhundert war dieser Zusammenhang allen Theoretikern der sozialen Kräfte klar: Die Urszene ist die Umformung des französischen Militärs in der Folge der Revolution von 1789, das neue Volksheer erweist sich allen anderen europäischen Heeren überlegen. Im amerikanischen Bürgerkrieg kämpfen auf Seiten der Nordstaaten schwarze Bataillone gegen ihre ehemaligen Sklavenhalter, man darf diese Truppen getrost als durch und durch proletarische verstehen.
Es ist schließlich Friedrich Engels, der im Volksheer die Schule der Revolution erkennt: Die Arbeiter lernen den Umgang mit der Waffe, werden strategisch und taktisch geschult und bekommen die Disziplin eingebläut, die man in den zu erwartenden langwierigen Klassenkriegen nun mal brauchen würde. Zu Beginn des vorigen Jahrhunderts wussten die sozialistischen Führer Europas, dass im drohenden Krieg sich Arbeiter gegenüberstünden, die Klasse also sich selbst verschlingen würde. Daher der Antimilitarismus, der nach 1914 nicht nur einfach verraten wurde, sondern sich in einem höheren Sinn auflöste: In Deutschland entdeckten die Oberste Heeresleitung, Gewerkschaftsführer, rechte Sozialdemokraten und Visionäre des Kapitals wie Walther Rathenau die Chance eines Kriegssozialismus. In ihm sollten die sozialpartnerschaftlichen Utopien der Gewerkschaften, der dringend nötige Rationalisiserungsschub der deutschen Industrie und militärische Effizienz verschmelzen. 25 Jahre später beschreibt der ebenso brillante wie zynische Opportunist Curzio Malaparte in seinen Reportagen für den Corriere della Sera den Krieg in der Sowjetunion als Aufeinandertreffen zweier fabrikmäßig organisierter Arbeiterheere, er kleidet seine Russland-Impressionen durchgängig in die Termini von Arbeitsteilung und Produktivkräften, bis seine Reportagen vom Propagandaministerium verboten werden. Nach 1945 ist er verschlagen genug, seine zensierten Reportagen als Apologie der Arbeiterklasse auszugeben.
Der Ausflug durch die Geschichte soll hier abgebrochen werden, um bei Donald Rumsfeld zu landen. Zu Zeiten seines Feldzuges ließ er sich als »Visionär des Krieges« (Die Zeit, 27. März 2003) feiern.

Man kann seine Strategie als Komplement zur damals virulenten Diskussion über das Verschwinden der Arbeiterklasse respektive den Durchbruch der sogenannten immateriellen Arbeit verstehen. Wenn man dereinst charakteristische historische Paare bilden wird, dann gehören Toni Negri (wahlweise Jeremy Rifkin) und Rumsfeld zusammen. »Er möchte den Maschinenkrieg des Industriezeitalters ersetzen durch den High-Tech-Krieg des Informationszeitalters«, so die Zeit 2003. Die personell radikal reduzierte Infanterie sollte im Stile von kognitiven Arbeitern agieren, kaum sichtbar, die wichtigste Waffen sind der Laptop und das Mobiltelefon, kleine wendige Einheiten – flexibel und hierarchiefrei –, die nicht mehr an einer Front agieren, sondern im Feindesland die Ziele ausspähen und – permanent aufs Networking bedacht – die Luftwaffe präszise vom Boden aus dirigieren. Bekanntlich ist diese Strategie grandios gescheitert, und es waren Generäle wie David Petraeus, die sie in Afghanistan und Irak revidierten: durch massive Truppenaufstockung. Aber nicht nur. Petraeus erarbeitete ein Programm der Aufstandsbekämpfung (»Field Manual 3-24 Counterinsurgency«), für das ihn selbst das »Unsichtbare Komitee« beneiden müsste. Demnach muss sich die Infanterie als lernende Organisation verstehen, die auf die Wünsche und Bedürfnisse der Bevölkerung einzugehen weiß, sie behandelt sie nicht feindlich, sie hilft ihr, die alte Ordnung zu überwinden. Im Kampf gegen das schlechte Alte schon die neue Gesellschaft aufbauen: Dieser sozialistische Anspruch an den Klassenkampf tritt hier in imperialistischer Form wieder auf. Obwohl das Manual von Petraeus keine zehn Jahre alt ist, erscheint es unendlich weit weg. Weil für den gegenwärtigen arabischen Krieg die Massenbasis fehlt.

Nicht nur in neokonservativen Blogs wird geätzt, wie gering die Bereitschaft der westlichen Bevölkerung sei, für »ihre« Werte die Waffen zu ergreifen. Nur die westliche? Auch Iran und Russland lassen lieber kämpfen, Saudi-Arabiens Generäle werden für ihre Jemen-Kampagne als »Scheckbuch-Krieger« verspottet: Sie dirigieren Söldner-Truppen. Wie es hinter der Propagandamaske des sogenannten Islamischen Staats (IS) aussieht, weiß niemand genau. Es kann gut sein, dass der maßlose Terror der Organisation ihre Unfähigkeit kaschiert, einen sunnitischen Massenaufstand zu initiieren.
Die Milizen und Söldner, die die Kriege in Syrien, Irak und auch im Jemen tatsächlich führen (müssen), tun dies in dem Bewusstsein, dass letztlich keine imperiale Schutzmacht hinter ihnen steht. Sie kämpfen deshalb mit großer Grausamkeit, um möglichst viele ihrer Feinde zu töten – weil die das Gleiche mit ihnen machen würden – und um die Bevölkerung zu vertreiben. Ihr Kalkül: Wenn der Krieg irgendwann mal beendet sein wird, darf es niemanden mehr geben, der Rache nehmen kann.
Die meisten der heutigen Kriege haben einen totalitären Charakter, es geht nicht um territoriale Bereinigung oder einen Bevölkerungsaustausch, sondern um die Durchsetzung einer anderen Gesellschaftsordnung, eben: um totale Herrschaft. Deshalb waren George W. Bush und seine Clique auch keine irren Visionäre, sondern handelten nach den Imperativen eines totalitären Kapitalismus, noch in Petraeus’ Aufstandsbekämpfung spiegeln sich Normen dieser Gesellschaftsordnung wider. Der syrisch-irakische Krieg ist davon geprägt, dass seine entscheidenden Akteure, die allesamt nicht in Syrien selbst zu finden sind, zwar gesamtgesellschaftliche Ordnungsvorstellungen durchsetzen wollen, es aber nicht können. Das hängt im Westen, seit einigen Jahren auch in Putins Russland und vermutlich auch im Iran mit der Integration der Arbeiterklasse zusammen: paradoxerweise mit genau dem Aspekt des totalitären Kapitalismus, der weltweit durchgesetzt werden soll. Die Arbeiterheere, die früher aufeinander gehetzt wurden, waren zwar nicht mehr zum Produzieren da, sondern zum Töten, aber es blieben Arbeiterheere. Die Angst, dass die Soldaten die Gewehre umdrehen und auf ihre Offiziere schießen, war den Generälen eingebrannt. Der Revolutionswelle ab 1917 gingen Bilder meuternder Soldaten voraus. Der Zweite Weltkrieg wurde von den Strategen auf allen Seiten so geführt, dass dieser Defaitismus nicht wieder ausbrechen konnte (Martin van Crefelds interessante Studie »Kampfkraft. Militärische Organisation und Leistung 1939–1945« legt dies nahe).
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben die Arbeiter – nicht nur im Westen! – die Revolution gegen den Sozialstaat und bürgerliche Anerkennung eingetauscht, sich manifestierend in Kreditwürdigkeit, Motorisierung und Massenkonsum. Ein Bestandteil dieser Pazifizierungsleistung ist der Verzicht auf Krieg, pointiert gesagt: Nicht weil der Westen dekadent ist, sondern weil er gesiegt hat (und nicht aufhört zu siegen), sind die Leute hier kaum noch bereit, seine Werte mit der Waffe zu verteidigen. Niemand muss noch ein Proletariat an die Front schicken, damit es dort seine potentiell revolutionären Energien verheizt, aber es gilt auch: Niemand kann es noch. Es gibt keinen direkten Zusammenhang mehr zwischen Krieg und Klassenkampf, die Arbeiter haben ihn selbst zerbrochen. Deshalb ist der syrisch-irakische Bürgerkrieg ein Ausdruck der Schwäche aller darin involvierten Akteure. Die Linke sollte das ohne Furcht – und also ohne Sehnsucht nach einem kleineren Übel – anerkennen. Die Furchtlosigkeit wird sie brauchen, denn der Terror, nicht nur in Syrien, sondern weltweit, wird in nächster Zeit nicht weniger werden.