Die Ausstellung »I Got Rhythm« in Stuttgart

Pinsel, Phallus und Bananen

Die Stuttgarter Ausstellung »I Got Rhythm« zeigt, wie der Jazz künstlerische Prozesse, Ideen und Produktionen beeinflusst hat.

Lee Krasner wäre »am liebsten die Wände raufgeklettert«, wenn ihr Ehemann Jackson Pollock beim Malen seine Jazzplatten hörte.« Nicht nur tagelang – Tag und Nacht, drei Tage ununterbrochen!« berichtet sie in einem Text im Katalog der Ausstellung »I Got Rhythm. Kunst und Jazz seit 1920« im Kunstmuseum Stuttgart. Für Pollock war Jazz neben dem abstrakten Expressionismus »die einzige originäre Kunstform, die die USA hervorgebracht hatten«. Seine Tropfbilder und die von ihm verwendetete Technik des Action Painting beeinflussten wiederum den Komponisten Ornette Coleman. Der afroamerikanische Saxophonist sah Parallelen zwischen der Abstraktion der Malerei und der musikalischen Improvisation; er verwendete für das Cover seines bahnbrechenden Albums »Free Jazz« 1961 Pollocks Drip Painting »White Light«. Beispiele, die von der Liaison zwischen Jazz und bildender Kunst zeugen. Allerdings habe die Geschichte einen Haken, so Sven Beckstette, so der Kurator von »I Got Rhythm«: »Pollock hat in den Vierzigern vor allem Swing gehört, die große Tanzmusik der dreißiger und frühen vierziger Jahre. Zu dem Zeitpunkt gab es ja schon Bebop, die progressivere Jazz-Musik, aber er hat dezidiert Swing gehört.«
Die Verbindungen zwischen Kunst und Jazz zeigt die Ausstellung auf mannigfache Weise. Da wird abstrakte Malerei zum Bebop, Maler malen Musiker, Musiker wie Coleman Haw­kins nennen ihre Songs »Picasso« oder »Dali«. Ein 1946 entstandenes Figurenbild des Jazz-Fans Max Beckmann trägt den Titel »Begin the Beguine«, nach einem Klassiker von Cole Porter. Maler hören Jazz, Jazzer verwenden Gemälde als Plattencover. Der Schriftsteller Albert Murray sieht in den Collagen seines Freundes Romare Bearden »visual riff phrases«, einen Transfer vom Jazz ins Bildnerische. »Visuelle Synkopen« erkennt der Katalogtext in den Bildern der Schweizer Malerin Verena Loewensberg, die in den sechziger Jahren in Zürich einen auf Jazz spezialisierten Schallplattenladen hatte. 1963 landet ein Bild von Loewensberg auf dem Cover des Albums »Made in Germany« von Klaus Doldinger. Den naheliegenden Einwand, dass die Berührungspunkte zwischen Kunst und Jazz eher zufällig seien und willkürlich in ein Ausstellungskonzept gepresst würden, weist der Kurator zurück: »Bei einer Ausstellung über die Wechselwirkung von Künsten geht es immer auch um Projektionen, also was sieht er oder sie in der Kunst und den Ausdrucksformen von anderen. Das muss ja nicht deckungsgleich sein.«
»I Got Rhythm« ist ein Panorama der Projektionen und Spiegelungen, das ausgreift ins Soziale und Politische, denn Jazz ist, mit dem Titel des Katalog-Essays von Beckstette gesprochen, »Mehr als Musik«. In Kontingenz schwelgend, wird eine Geschichte des 20. Jahrhunderts in Bild und Ton erzählt, die Musik kommt per Audio Guide aus dem Kopfhörer. Louis Armstrongs »I Got Rhythm« begleitet ein Bild des afroamerikanischen Malers Earnie Barnes: »Study: History Of Jazz«. Auf drei Etagen sind Arbeiten aus 100 Jahren versammelt, die in Erinnerung rufen, welche Befreiungspotentiale der Jazz als populäre Tanzmusik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte, bevor er in den fünfziger Jahren von Rhythm & Blues und Rock ’n’ Roll verdrängt wurde und neue, weniger massenkompatible Wege ging. So wird die Dialektik von Kontinuität und Bruch der Jazz-Historie spürbar. Klar, Bebop bricht mit Swing, klar, der Free Jazz befreit die Musik aus Routinen und Konventionen, aber am Ende stehen sie doch alle für die dramatische und widersprüchliche Geschichte der ­afroamerikanischen Musik des 20. Jahrhunderts: Count Basie und Charles Mingus, Billie Holiday und Bessie Smith, Alice und John Coltrane, Miles und Monk, Bo Diddley und Jean-Michel Basquiat. Selbstverständlich werden auch weiße Jazz-Größen gewürdigt, aber im Zentrum steht die über das Sonische hinaus­gehende Faszination der black music (nicht nur) auf white people im Spannungsfeld von Rassismus, Exotismus, Sexualisierung und Negro­philie.
Der Ausgangspunkt der Ausstellung sei, so Sven Beckstette, das Großstadt-Triptychon von Otto Dix, das sich im Besitz des Museums befindet. »Es ist das Bild, in dem das Jazz-Zeitalter aus deutscher Perspektive festgehalten ist. Davon ausgehend wollten wir kontextualisieren, wie Jazz andere Künstlerinnen und Künstler begeistert hat.« Wie viele Künstler hat Otto Dix den Jazz in den zwanziger Jahren nicht nur gemalt, er war auch begeisterter Jazztänzer. Sein Gemälde einer sexuell aufgeladenen Salonszene mit Jazz-Band hält sich im kollektiven Gedächtnis als Inbegriff der mondänen Dekadenz im speedgetriebenen Berlin der Weimarer Republik. Das Triptychon gehört zur Daueraustellung des Museums, ein Stockwerk höher in der Schau »I Got Rhythm« hängt die dazugehörige lebensgroße Skizze aus abertausend Bleistift-Strichen. Interessanterweise sind die Frauen, die in der grellbunten Endfassung elegante Kleider tragen, auf der Kartonskizze nackt. Schon für diesen Vergleich lohnt sich die Reise ins die grüne Provinz.
Im gemalten Jazz Age stürzen Körper ineinander, Musiker überschlagen sich, Saxophone fliegen durch die Luft, der Rhythmus entfesselt die Leiber; alles ist Verdichtung, Beschleunigung, Großstadt, Maschinenzeitalter. Saxophon und schwarze Haut sind die Signifikanten des Jazz wie der Jazz-Malerei, schwarze Gesichter werden überzeichnet, manchmal ins Groteske, in guter wie in böser Absicht, so negrophil wie rassistisch. Ernst Ludwig Kirchners Gemälde »Negertanz« feiert bereits 1911 die wilden Nächte in Berliner Varietés und Cabarets »als Gegenpol zum starren Korsett der wilhelmi­nischen Gesellschaft« (Katalog). Der Deutsche Frauenkampfbund gegen Entartung fordert bald ein »Verbot von Saxophonen und Negertänzen«. Das phallisch codierte Instrument mitsamt den Tönen, die es produziert, um solche Tänze anzufachen, ist den Nazis ein Dorn im Auge.
1938 wurde in Düsseldorf die Ausstellung »Entartete Musik« eröffnet. Das Begleitheft zeigte auf dem Titel die Karikatur eines schwarzen Saxophonisten mit stereotyp dicken Lippen, Löckchen, Ohrring und Judenstern. »Die Verbindung zwischen Judentum und Afroamerikanern leiteten die Nazis aus der Tatsache ab, dass es sich bei beiden um ›Wüsten­völker‹ handelte«, heißt es im Katalog. »Der ›jüdisch-negroide Mensch‹ galt den Nazis als schlimmste Form der ›Rassenmischung‹. 1943 erschien ein Artikel in der Zeitschrift Musik in Jugend und Volk mit dem Titel ›Der Jazz als Kampfmittel des Judentums und des Amerikanismus‹. Wer illegal Jazzmusik hörte, lief Gefahr, als ›Swing-Boy‹ im Konzentrationslager interniert zu werden wie etwa der jugendliche Kurt Rudolf Hoffmann, der nach dem Zweiten Weltkrieg als K. R. H. Sonderborg zu den wichtigsten Künstlern des deutschen Informel zählen sollte.«
»Negerpaar in Harlem« ist der Titel eines Bildes von George Grosz. Schon vor dem ersten Weltkrieg habe Grosz »eine Art Jazzauftritt im Café Oranienburger-Tor in Berlin gesehen«, heißt es im Katalog. 1933 geht der Maler nach New York, die Faszination der Jazz-Metropole fängt er in Aquarellen ein. Nebenbei unterrichtet Grosz den afroamerikanischen Künstler Romare Bearden, der mit »The Savoy«, einer Collage zur Jazzgeschichte, in der Ausstellung vertreten ist. Zeit seines Künstlerlebens hadert Bearden mit »The Negro Artist’s Dilemma«, so der Titel eines seiner Aufsätze über den Widerspruch zwischen Essentialismus und Universalismus: Thematisiere ich als schwarzer Künstler vor allem schwarze Fragen und riskiere damit, auf meine Hautfarbe reduziert zu werden? Oder weise ich derartige Zuschreibungen zurück und verrate so die afroamerikanische Emanzipationsbewegung? Bearden schwankt zwischen beiden Positionen. Und zweifelt, so Beckstette, »an der Vorbildfunk­tion des Jazz als originärem Ausdruck afroamerikanischer Kultur, weil sich Kunst nicht essentialistisch einer bestimmten Herkunft zuordnen lasse, sie entstehe vielmehr im Austausch verschiedener Ethnien«.
Die Geschichte von Kunst und Jazz ist eine Männergeschichte. Das besondere Augenmerk der Ausstellung gilt allerdings einer Frau. ­»Josephine Baker ist die Hauptfigur der Ausstellung, weil sich an ihr exemplarisch zeigen lässt, warum die Künstler vom Jazz fasziniert waren«, sagt Sven Beckstette. »Josephine Baker ist beides: ultramodern und ultraprimitiv, das Ultramoderne ihrer Kurzhaarfrisur und das Ultra­primitive mit ihrem Bananenkleidchen.«
Die 1906 in St. Louis geborene uneheliche Tochter einer afroamerkanischen Waschfrau und eines jüdischen Schlagzeugers ist ein wandelnder Widerspruch. Als Chorus Girl tingelt sie durch die USA, 1925 geht sie nach Paris und macht Europa mit dem Charleston bekannt. Mit der Revue Le Negre wird Baker zum Star, von den Massen angebetet, mal als schwarze Venus, mal als Hottentotten-Venus verehrt. Ja, Baker ist beides: ultramodern und ultraprimitiv, und sie ist Subjekt und Objekt. Die entfesselte nackte schwarze Frau mit den hüpfenden Bananen um die rotierenden Hüften bringt nicht nur das männliche Publikum zum Rasen, Baker ist Projektionsfläche widersprüchlichster sexueller Phantasien (nicht nur von Männern), sie bedient den inneren Kolonialherren im Manne und behält, so scheint es, doch die Kontrolle über ihren Act, bleibt Subjekt. Beck­stette sagt: »Josephine Baker war sich sehr ­bewusst darüber, was sie als Performerin, Sängerin, Tänzerin, aber auch in ihren Filmen tat. Sie konnte mit Klischees umgehen. Schon das Bananenröckchen! Was symbolisieren eigentlich diese Bananen?« Die Frage treibt die Kunst bis heute um. So prallen im Baker-Tempel der Ausstellung feministisch und postkolonial inspirierte Arbeiten auf voyeuristische Männerphantasien.
Im Katalog widmet sich Anne Anlin Cheng der Frage nach den Bananen. Die afroameri­kanische Künstlerin Kara Walker antwortet mit einer Arbeit mit dem Titel »Consume«. Ein meterhoher Scherenschnitt in Schwarzweiß zeigt im Profil die dominante schwarze Frau in High Heels und Bananenrock. Mit wulstigen Lippen saugt sie an ihrer eigenen Brust. Einen Meter tiefer saugt ein – mutmaßlich weißer – Junge (oder Mann) an einer der Bananen. Dr. Freud, übernehmen Sie! Auch Cheng bemüht für Walkers Schattenriss die Psychoanalyse: »Wenn wir die Bananen als Symbol für den Kolonialwarenhandel nehmen, was genau wird dann eigentlich konsumiert in dieser verwirrend vielschichtigen Szene, in der das Genussobjekt eine ›exotische‹ Frucht ist, die sich verstehen ließe als Verbrämung des ›fehlenden‹ Gliedes der schwarzen Frau, eine Verbrämung, die man wiederum deuten könnte als Verbrämung des schwarzen männlichen Gliedes, was dann in einer weiteren Volte als Verbrämung der Unersättlichkeit des weißen imperialen Phallus interpretiert werden könnte?«
Weniger Rätsel gibt ein Holzhäuschen auf, das in der Mitte des Baker-Raums auf einem Podest thront. Das Modell eines Hauses für Josephine, 1927 kreiert vom renommierten Architekten Adolf Loos. Der Entwurf gelte »als berühmtes Beispiel für das Phänomen der kolo­nialen Projektion«, schreibt Cheng mit Blick auf die exotistisch-primitivistische Signatur der schwarzweiß gestreiften Fassade in Zebra-Optik. Der Hit des Hauses ist der Pool. Das große, in einem über zwei Stockwerke reichenden Raum sich befindende, von oben beleuchtete Schwimmbecken bildet das Zentrum des Hauses. »Um das Bassin herum«, so Cheng, »sind Gänge angelegt, von denen aus man durch Fenster aus durchsichtigem Spiegelglas in das Becken blicken kann, so dass Besucher des Hauses in den Genuss einer Art ›Unterwasserrevue‹ kommen und die mutmaßliche ­Bewohnerin Baker somit zu einem Unterhaltungsobjekt wird. Ist das Haus also eine Übersetzung des Bananenrocks in Architektur?«
Im Baker-Raum treffen Werke aus verschiedenen Epochen aufeinander. Gezeigt wird nicht nur der Hausentwurf von Adolf Loos für Baker. Neben diesem Monument sexistischer Projektion hängt eine Arbeit, die Josephine Baker in heutige Debatten über Race und Gender verwickelt: »The Minaj Glass Engravings« von Ditte Ejlerskov konfrontiert Bilder von Baker mit Songzeilen der R&B-Queen Nicki Minaj: »I said, where my fat ass big bitches in the club?« Die Frage stammt aus dem Hit »Anaconda«, mit dem Minaj eine Art »Arschkulturkampf« (Sonja Eismann) losgetreten hatte. Die Rapperin warb für einen körperpolitischen Paradigmenwechsel wider das Diktat der skinny bitches und der Optimierungsindustrie. Ejlerskov nutzt Baker als Protagonistin einer selbstbewussten weiblichen, schwarzen Performance und verteidigt Nicki Minaj, die als die Aggressorin im Streit mit Taylor Swift galt. Kurator Sven Beckstette schlägt den Bogen von der Bakermania zu den Pop-Künstlerinnen der Gegenwart: »Musikerinnen wie Beyoncé waren von Josephine Baker beeinflusst, weil sie mit visuellen Elementen und mit Klischees von Gender und Hautfarbe gespielt hat. Was ist eigentlich Haut und was ist die nächste Schicht unter der Haut? In fast all ihren Filmen ist Baker auf der Flucht und rettet sich mit Maskierungen. Unter der einen Maskierung tritt immer schon die nächste hervor. Auch Lady Gaga hat zu Beginn ihrer Kar­riere damit gespielt, dass sie die Puppe ist, die für alle tanzt und singt. Ähnlich ist es bei Grace Jones, bei der die Dominanz eine größere Rolle spielt. Ihre Brikettfrisur ist härter ist als die Kurzhaarfrisur von Baker. Und sie hat sich maskuliner inszeniert.«
Im Video-Trailer zur Ausstellung posiert ­Ulrike Groos, die Direktorin des Kunstmuseums Stuttgart, vor einem ihrer Lieblingsbilder: »Es stammt von Lotte B. Prechner, eine Jüdin, die von den Nazis als entartet eingestuft wurde. Das Bild war verpönt, weil es das Saxophon in den Vordergrund stellt, das auch deshalb als öbszön eingestuft wurde, weil es eine phallischen Form hat. Die Aufbruchstimmung der Weimarer Republik hielt Prechner 1929 in ihrem Gemälde ›Jazztänzerin‹ fest. Sie stellt den modernen, emanzipierten Frauentypus der 1920er Jahre dar, der, androgyn gekleidet mit Hut und langer Hose, an Marlene Dietrich er­innert und selbstbewusst zu Jazzmusik tanzt.« Jazz kommt zu sich, wenn er den Übungsraum, das Studio, verlässt und in Bars und Salons die Leute zum Tanzen bringt. Dann ist Jazz: Mehr als Musik.

I Got Rhythm. Kunstmuseum Stuttgart. Bis 6. März