Politische Renationalisierungsprozesse und den Zerfall der EU

Die Grenzen des europäischen Humanismus

Was die Mitgliedsländer der EU derzeit gemeinsam haben, sind ökonomische und politische Renationalisierungsprozesse und neue Grenzziehungen. Ein Essay über den Zerfall der EU und der europäischen Idee.

Hin- und hergerissen zwischen kapitalistischer Moderne und regressivem Bewusstsein zerfällt die Europäische Union dinglich und moralisch. Jedem Stamm seine Nation, zuerst die Katalanen, jeder Nation ihren Stacheldrahtverhau. Auf Personenkontrollen folgen Warenkontrollen, Schlagbäume, nationale Währungen und Zölle. Paneuropäische Ideen fallen der Peinlichkeit anheim, hoch im Kurs stehen Symbole der Renationalisierung. Europas Regierungen ignorieren die EU, hängen, wie die neue polnische Regierung, demonstrativ die Europa-Fahne im Parlament ab oder verklagen die EU. Ungarn und die Slowakei klagen gegen die Flüchtlingsquote, Wolfgang Schäuble droht mit einer Klage, um die deutsche Haftung für europäische Sparer zu verhindern.
Europa hat die Herzen nie so erwärmt wie die Nation, nun fressen Nationalismus, Tribalismus und nationalproletarische Querfronten die Reste weg, mit ihnen schwellen Rassismus und Antisemitismus an, schwinden Empathie und Anstand. Alle reden von einer »Flüchtlingskrise«, in Wahrheit handelt es sich um die Krise des europäischen Humanismus.

Kapitalbewegung und Staatsidee
Früher gingen die Kapitalbewegung und die ­Staatsidee Hand in Hand. Der Geist folgte den Interessen von Industrie und Handel, zwängte Kleinstaaten mit Fahnen, Mythen und Männerchören in Nationen hinein. Heute driften die Kapitalbewegung und die Staatsidee wieder auseinander. Das expansive Kapital sprengt die Fesseln der Nationalstaaten und benötigt ein supranationales Staatsgebilde, das seine Interessen bündelt, Investitionen, Rohstoffe und Transportwege sichert, Märkte erschließt, für frische Arbeitskräfte sorgt, aber das gesellschaftliche Bewusstsein und die Politik kleben an der Nation oder fallen in die Kleinstaaterei mit Zöllen und Münzprägung zurück. Die Nationen lösen sich wieder auf. Die Sowjetunion, Jugoslawien und die Tschechoslowakei sind zerfallen, Spanien, Belgien, Ukraine und andere werden wohl folgen.
Noch vor dem nächsten Attentat könnte die spanische Armee in Katalonien einmarschiert und Belgien zerrissen sein. Zu den Wurzeln des Separatismus zählen die in Krisen zu beobachtende Flucht in den Heimathafen, der Wunsch, das Siechtum mit protektionistischen Mitteln zu stoppen, die absurde Aversion gegen den Euro, die Geldgier (meistens wollen reiche Regionen die Abspaltung), neuerdings die Angst vor Fremden und der Ruf nach Sicherheit.
Da ist aber noch etwas. Seit Jahrzehnten lasten NGOs und Antiglobalisierer Kriege, Eroberungen und Krisen fälschlicherweise nicht dem Kapitalismus und dem Mehrwertraub der Nationen an, sondern der Globalisierung. Als gut erscheint dann das Antiglobale, Nationale, Ethnische und alles Kleine auf der Welt, das die Botschaft des Heimatfilms »Heidi« variiert: Großstadtluft macht böse, Bergluft macht gute Menschen.
Europa sollte einmal der dritte Machtblock neben Amerika und Asien werden. Dafür ist keine Zeit mehr. Österreich karre »Flüchtlinge nach Eintritt der Dunkelheit« an die deutsche Grenze, versichert Thomas de Maiziére, der sie gern in der Türkei hätte. »Natürlich geht es um Zäune«, sagt Österreichs Innenministerin Johanna Mikl-Leitner, »aber auch um befestigte Anlagen.« Nicolas Sarkozy vergleicht Flüchtlinge mit einem zerborstenen Abwasserrohr, eine republikanische Parteifreundin will Frankreich, das »Land der weißen Rasse«, vor Merkels Flüchtlingskontingenten schützen. Beppe Grillo von der italienischen Fünf-Sterne-Bewegung erwähnt Flüchtlinge neben Abfall und Ratten.
Jürgen Habermas schwärmte von der »Wiedergeburt Europas«, weil »die moralische Autorität Amerikas in Trümmern« liege, Peter Sloterdijk sah die »Weltkultur« nicht in den USA, sondern in Europa »ehrenvoll vertreten«. Kann man sich vorstellen, dass New Mexico, Texas, Louisiana und Mississippi sich in der Dunkelheit heimlich Mexikaner zuschieben und dass in einer Weltkultur Menschen mit Ungeziefer gleichgesetzt werden? Zur Weltkultur gehört mindestens eine Pyramide.

Die Kultur und die Ökonomie
Europa ist ein Konglomerat konkurrierender Nationalstaaten, die ihre Ressentiments als Kultur verbrämen, die erhabener sein soll als die amerikanische – plus Freihandel, Euro und Frontex.
An der Spitze residiert Deutschland als angeschlagener Hegemon im Krisengebiet des Weltkapitalismus. Jedes Jahr wandert aus Deutschland eine Kapitalmasse von netto 150 bis 180 Milliarden Euro nach Asien und Amerika ab. Lange wird es seinen Aderlass nicht mehr durch den Abzug von Produktion, Beschäftigung und Mehrwert aus Europa, der sich im Exportüberschuss spiegelt, kompensieren können, weil der Wertraub Deutschlands Absatzgebiete entleert. Das Modell, in dem das Überschussland Waren exportiert und den Abnehmern Geld leiht, damit sie ihre Rechnungen bezahlen können, wird wohl kollabieren. Deutschland muss Europa wieder in ein Profitcenter verwandeln, um seine Reproduktion zu sichern, Haftungsverluste zu vermeiden und Weltmachtambitionen zu wahren.
Auch hier klaffen Geschäftsinteressen und Bewusstsein auseinander. Die Wirtschaft weiß, dass Deutschlands Aufstieg auf Einwanderungswellen basiert. 1910 waren im Ruhrgebiet 20 Prozent der Einwohner Polen, die in einer Parallelgesellschaft eigene Schulen, Parteien, Gesangs- und Sportvereine betrieben. Nach 1945 kamen zwölf Millionen Flüchtlinge und Umsiedler aus dem Osten, sie bekamen Antrittsgeld, Hausrat, Wohnraum, Kredit für den Hausbau. Dann kamen Millionen »Gastarbeiter« und später zwei Millionen Russlanddeutsche.
Demographen rechnen aus, dass Deutschland ohne Einwanderung in 15 Jahren sieben Millionen Erwerbstätige fehlen werden. Die Reproduktionskraft der Wirtschaft und der Erhalt der Sozialsysteme sind also von ihnen abhängig. BDI-Präsident Ulrich Grillo ist deshalb gegen die »Obergrenze« und würde gern Flüchtlinge für Zukunftsaufgaben wie Infrastrukturerhalt, Breitband-Verbindungen oder Wohnungsbau einsetzen. Für Daimler-Chef Dieter Zetsche bilden Flüchtlinge die »Grundlage für das nächste deutsche Wirtschaftswunder«, Evonik-Chef Klaus Engel sieht mit den Flüchtlingen den »American Dream« auf Europa zukommen, die Deutsche Bank bezeichnet sie als »wirtschaftlichen Glücksfall«. Das sind Wirtschaftsleute, die aus dem Fundus der Migranten die Nützlichen herausfiltern wollen und die, anders als 1933, Wahlerfolge der Faschisten fürchten. Aus verständlichen Gründen. Für den Front National (FN) etwa ist die EU das »trojanische Pferd der ultraliberalen Globalisierung«, das er ebenso wie den Euro »zerstören« will. Der Franc soll dann um 30 Prozent abgewertet und eine Sondersteuer für einen nationalen Fond erhoben werden. Der Freihandel wäre gestoppt, der abgewertete Franc würde den Schuldendienst und die Importe teurer machen. Schlimmer ist, dass der FN das deutsch-französische Bündnis (das Herzstück der europäischen Wirtschaft) ersetzen will durch ein »strategisches Bündnis mit Russland«. Das geht nicht anders, weil russische Banken den FN finanzieren.

Die Bedrohung
Millionen preiswerte, vom Westen begeisterte und vermutlich dankbare Arbeitskräfte stehen vor der Tür, aber sie werden als Bedrohung wahrgenommen, besonders von Männern.
AfD-Kader Björn Höcke phantasiert im Nazijargon über die Vergewaltigung »der blonden Frau« und sagt: »Das drängendste Problem ist, dass Deutschland, dass Europa ihre Männlichkeit verloren haben. Nur wenn wir unsere Männlichkeit wieder entdecken, werden wir mannhaft.« Auch wenn er Knobelbecher anzieht, wird er seine Verkümmerung nicht reparieren, die im »Schicksal der durch die Zivilisation verdrängten und entstellten menschlichen Instinkte und Leidenschaften« (Adorno) liegt.
Der Mann bekommt es also mit der Angst zu tun und fragt in einer TV-Sendung, in der Politik auf Stammkneipe trifft: »Wieviele Flüchtlinge verkraftet Europa?« Wer weiß das schon? Dem Nazi ist einer zuviel, andere finden, dass in Deutschland zu viele Deutsche leben. Auf der Suche nach einem Sündenbock fiel ganz Europa schließlich über Frau Merkel her, die den Fehler begangen hatte, ihren eigenen Reden über den europäischen Humanismus Glauben zu schenken. Ganz offen beschuldigte »Europa« Merkel, sie habe Europa in einem zu guten Licht erstrahlen lassen. Deutsche finden mittlerweile Wolfgang Schäuble sympathischer, weil er Flüchtlinge mit dem Begriff »Lawine« zu einer Naturkatastrophe entmenschlichte.
In der Sendung »Was nun, Frau Merkel?« fragten Bettina Schausten und Peter Frey: »Hat Ihr Herz über Ihren Verstand gesiegt?«, worauf sie antwortete, dass Deutsche Angst davor hätten, »Fremde im eigenen Land zu werden«. Die sinnvolle Antwort, dass noch immer zu wenig Therapieplätze für Journalisten frei sind, darf sie nicht geben.
Auch Oskar Lafontaine will »den Flüchtlingszuzug begrenzen« und glaubt, dass Merkel »mitverantwortlich für die ansteigenden Flüchtlingszahlen und das Erstarken rechter Parteien in Europa ist«. Es sollte sich herumgesprochen haben, dass die Ursache für seinen Hass beim Faschisten selbst zu finden ist und nicht bei dessen Opfern. Sahra Wagenknecht griff Merkels Satz, Menschen in Not mit einem freundlichen Gesicht begegnen zu wollen, an und fragte: »Wo ist Ihr freundliches Gesicht gegenüber Menschen in Notsituationen hier im Land?« Der Kanzlerin in einer Epoche, in der jede Nacht zwei Asylunterkünfte brennen, Kollaboration mit Ausländern vorzuwerfen – dazu muss man schon eine überzeugte Pegida-Anhängerin sein. Hinter ihrem zweiten Vorwurf, die Flüchtlinge kämen nur, weil Amerika im arabischen Raum Chaos angerichtet habe, verbirgt sich die Liebe zur ordnenden Hand des Diktators und die Entmündigung der Araber. Niemand muss nach dem Sturz des Despoten Chaos inszenieren, Andersgläubige ermorden, Frauen und Kinder kidnappen und vergewaltigen. Darin spiegeln sich eigene Traditionen, Menschenhass und Machtbesessenheit.
Seit Jahren schreibt Deutschland anderen Europäern vor, nach welchen Regeln sie zu leben haben. Die Verpflichtung auf deutsche Werte zielt auf die Beseitigung von Kulturen, die dem Kapitalismus noch Leben abtrotzen, um Wert aus ihnen herauszupressen. Nun zahlen die EU-Mitglieder es Deutschland heim, dadurch dass sie ihm die Flüchtlinge nicht abnehmen. Aber die Bundesregierung soll einen »Notfallplan« in der Schublade haben: Die Grenzen werden geschlossen, für Flüchtlinge und für Europäer, die Deutschlands Quotenregelung ablehnen. Ohne den freien Grenzverkehr kommen viele Leute nicht mehr an ihren Arbeitsplatz.
François Holland reagierte anders. Er erkannte, dass Frankreich mit einem Krieg aus dem Schatten Deutschlands treten und als militärpolitischer Hegemon neben Deutschland Platz nehmen kann. Im Krieg gegen das Böse fragt keiner mehr nach der Sanierung der Finanzen, sondern zahlt – in bar oder mit Fregatten und Fliegern. Auch andere Fragen werden im Krieg nicht mehr gestellt. Warum wird die Fremdenlegion, die für Hunderttausende Kolonialmorde verantwortlich ist, auf den Champs-Élysées gefeiert, während die Migration in Frankreichs Geschichte keinen Platz hat?

Der Krieg in Syrien
Und warum sucht Frankreich in Syrien, wo Saudi-Arabien, der Iran und die Türkei um die Vormacht streiten, das Bündnis mit Russland und Assads Truppen? Will es Gerhard Schröders Achse »Paris-Berlin-Moskau« wiederbeleben – unter französischer Führung? Russland bombt an der Seite der schiitischen Front »Assad-Iran-Hizbollah«, um Rest-Syrien in ein russisches Protektorat zu verwandeln und Irans Weg nach Israel frei zu halten. Deshalb greifen russische Flieger fast nur die von Saudi-Arabien und der Türkei unterstützten sunnitischen Rebellen-Milizen an, die Assad stürzen wollen.
Die USA wollen den »Islamischen Staat« (IS) ausschalten, damit der arabische Raum nicht dauerhaft der Kapitalverwertung entzogen wird, und kurdische Bodentruppen einsetzen, die wiederum vom Nato-Partner Türkei beschossen werden. Der IS strebt das Welt-Kalifat an. Dazwischen fliegt Frank-Walter Steinmeier hin und her, weil Deutschland sich mit allen gut stellen will: mit Frankreich, damit ihm Russland nicht abspenstig gemacht wird; mit Assad wegen Frankreich; mit dem Iran und Saudi-Arabien wegen der Rohstoffe und Großaufträge; mit der Türkei, damit die Aufbewahrung der Flüchtlinge nicht zu teuer wird, und mit den USA wegen des Außenhandels und der Rettung von VW.
Der Krieg wird wohl lange dauern. In Syrien operieren knapp 1 000 Milizen. Die »Nationale Syrische Koalition«, einer der Dachverbände, einigte sich in Riad auf eine Zukunft ohne Assad und »die Ablehnung aller ausländischen Kräfte im Land«. Sie wird also wohl kämpfen, bis Russland, die Hizbollah, iranische Garden, US-Ausbilder und Franzosen draußen sind. Vielleicht im Bündnis mit dem IS.

Die Essenz
Europas Gemeinsamkeiten reichen noch für Außenwälle und antiisraelische Beschlüsse, wie die Kennzeichnung von Waren aus Siedlungsgebieten. Da sind plötzlich alle an der Seite der EU: AfD und NPD, Linke und Grüne, Pax Christi, Attac, Verbraucherinis, Ärzte für das Gute. Da überhört man sogar den Protest der Palästinenser, die bei israelischen Firmen arbeiten und die EU-Kampagne verurteilen, um die korrekt bezahlte, sozialversicherte Arbeit zu behalten und sich zu bilden. Keine Chance! Die EU will die gemeinsame Moderne von Palästinensern und Juden zerstören. Palästinenser sollen zurück in die Sharia-Gesellschaft, Marx würde sagen: zurück zur »Idiotie des Landlebens«.
Fazit: Niemand muss der EU eine Träne nachweinen, sondern das bekämpfen, was folgen wird. Aber wer soll das machen?
Durch die historischen Niederlagen und Deformationen der kommunistischen, anarchistischen, sozialistischen und emanzipatorischen Visionen und Kämpfe fehlt heute das Korrektiv, das die religiös-fanatischen, nationalen, marktkonformen, ethnischen, tribalen, männerkultigen, rassistischen und faschistischen Wucherungen bremsen könnte.
Linke haben mitgeholfen, sich zu demontieren. Postmodern Gewordene ersetzten die Kritik an der Klassengesellschaft durch den Konsum und den positiven Geist, Linkskeynesianer erzählten, ein böser Neoliberalismus sei über die Menschheit gekommen. Demnach müsste es vorher einen guten Kapitalismus gegeben haben, zum Beispiel den in den »sozialstaatlichen keynesianisch geprägten sozialdemokratischen Jahrzehnten nach 1945« (Altvater), zu dem auch Helmut Kohl mit seiner geistig-moralischen Wende zurück wollte.
In der Krise flüchteten Linke sich in die Kritik der Finanzen, adelten so die Ausbeutung und Entfremdung der Menschen im Mehrwertbetrieb und schoben alle Schuld auf New York, Finanzen, Banken, Spekulanten und benutzen auch all die anderen antisemitisch konnotierten Begriffe. Wer auf die Straße ging und nicht »Juden ins Gas« oder »Putin, Putin!« rufen wollte, lud die Antisemitin Naomi Klein als Rednerin vor der Europäischen Zentralbank ein.
Ruhe bitte! Bachmann, Zetsche, Kaczyński, Söder, Naidoo, Le Pen, Orbàn und ich feiern auf dem Weihnachtsmarkt unsere gemeinsame Kultur, auf die ein Anschlag verübt wurde. Danach singen wir die »Marseillaise«: »Marschieren wir, marschieren wir. Unreines Blut, tränke unsere Furchen!« Und nicht vergessen: Es gibt auch helfende Hände! Thomas Oppermann (SPD) dankte ihnen auf dem Parteitag für die Verbesserung des Deutschland-Bildes in der Welt und versprach, da sie sicher überfordert seien, »alles zu tun, dass sich die Zahl der Flüchtlinge verringert, dass weniger zu uns kommen«. Etwa zur selben Zeit beschloss die Schweiz eine »Schutzklausel«, die die Zuwanderung aus der EU beendet.