Zum Tode des Komponisten Pierre Boulez

Mit der Rationalität ins Unbekannte gelangen

Wie Pierre Boulez Musik dachte.

Dem bürgerlichen Alltags-Unverstand gilt die Musik als Gefühlskunst, über deren einzelne ­Manifestationen man vielleicht unterschiedlicher Auffassung sein und unterschiedliche Ge­schmacks­urteile fällen kann, die sich aber einem theoretisierenden, diskursiv urteilendem Zugriff grundsätzlich entzieht. Musiktheorie ist nach dieser Auffassung eine der Musik äußerliche Angelegenheit, die ihr unverstelltes und unmittelbares Erleben geradezu bedroht. Natürlich ist dies Ideologie im strikten Sinne: Genausowenig, wie das bürgerliche Subjekt wahrhaben will, dass es selbst und die von ihm repräsentierte Gesellschaft keineswegs aus eigener Kraft und Anstrengung entstanden sind, sondern Resultat von politischen Zwangsmaßnahmen waren, so wenig will es wahrhaben, daß die Bedingung für die scheinbare Erhebung der Musik zu einer bloßen Gefühlskunst gerade rigide Rationalisierung des klingenden Materials ist: die Unterwerfung aller Ton- und Zeitbeziehungen unter ein mit Allgemeinheit und Notwendigkeit geltendes System namens Tonalität.
Aber selbst dort, wo diese thematisch, das heißt selbst zum Gegenstand gemacht wird, bei den bürgerlichen Musikwissenschaftlern und -theoretikern, wird sie nicht nur regelmäßig, sondern mit Notwendigkeit verfehlt. Denn ebenso wie die Ökonomen ihren Gegenstand, die Wirtschaft, denken diese den ihren, die Tonalität, durchweg kompatibel mit dem Alltags-Unverstand, als ein »an sich« harmonisches Ganzes, in dem alle Widersprüche sich am Ende gegenseitig ausgleichen und der deswegen nur durch äußerliche, »hinzutretende«, Faktoren in die Krise geraten konnte. Die harmonische Tonalität jedoch ist gerade kein mit sich identisches, in Selbstbestätigung verharrendes, sondern ebenso wie die Gesellschaft, die sich in ihr reflektiert, ein nicht-identisches, seine eigene Auflösung vorantreibendes System musikalischer Beziehungen: eben ein fundamentaler Krisenzusammenhang, der am Ende des 19. Jahrhunderts in Konsequenz seines selbstnegatorischen Charakters an sich selbst zugrunde ging. Tatsächlich fand die Revolution der Bürgerwelt bereits statt, aber nicht an der gesellschaftlichen Basis, sondern im Überbau, namentlich in der Musik, und seither werden die entscheidenden Fragen, die ein im qualitativen und emphatischen Sinne modernes gesellschaftliches Zusammenleben der Menschen betreffen, in der modernen Kunst verhandelt und durchgespielt. Und weil dies so ist, ist die Geschichte der neuen Musik seit 1900 auch eine Geschichte zahlloser Immunisierungsstrategien, welcher sich die Bürger befleißigen, um sich gegen in moderner Kunst laut werdende Erfahrungsgehalte zu schützen.
War alle Musik bis etwa 1900 stets auf ein gesellschaftlich, das heißt dem denkenden und handelnden Subjekt vorgeordnetes Repertoire an inner- und teilweise außermusikalischen Sachverhalten und ganzen idiomatischen Wendungen vereidigt, die zusammengenommen das bilden, was Adorno das »musikalische Material« nennt, so kommt der Sturz der Tonalität einem unwiederbringlichen Verlust dieser Selbstverständlichkeit gleich. Heinz-Klaus Metzger hat darauf hingewiesen, dass der heutige historische Stand des Materials gerade die Absenz eines solchen a priori benenn- und entscheidbaren Stands darstellt. Anders gesagt: In der modernen Musik gilt unumstößlich nur, dass nichts mehr unbefragt gilt, nicht einmal der Begriff der Musik selbst. Seit der Abdankung der Tonalität befindet sich die Musik in einem essentiell und unaufhebbar kritischen und negativen Verhältnis zu sich selbst und all ihren Eigenschaften im Einzelnen. Weil ein Komponist kein Klangmaterial, keine Klangverbindungen, keinen Rhythmus, kein Idiom, keine Form mehr als selbstverständlich gegeben hinnehmen kann, verhält es sich so, als ob er mit jedem Werk die Frage, was überhaupt Musik sein kann, wieder aufs Neue und grundsätzlich zu beantworten unternimmt. Der Komponist muss also für jedes Werk sein Klangmaterial, mit dem er arbeitet, und damit ein Kategoriensystem, in dem er sich frei bewegen kann, überhaupt erst einmal produzieren; er muss mit anderen Worten allerlei präkompositorische Arbeiten erledigen, unter deren Voraussetzung die Klänge komponierbar werden und ihr Eigen- und Triebleben entfalten können.
Das Komponieren selbst weist in der modernen Musik also Züge einer ästhetisch ausgerichteten »wissenschaftlichen« Forschung über klingendes Material auf, erheischt also in ganz anderem Maßstab und in einem qualitativ neuen Sinne theoretische Reflexion als alle vorangegangene Musik. Es ist die im umfassenden Sinne des Wortes a-tonale Musik seit Beginn des 20. Jahrhunderts, die die Musik wieder ausdrücklich zu dem macht, was sie immer schon war: Gedankenkunst – und sie in dieser Bestimmung erst zu sich selbst bringt. Neue Musik ist stets unmittelbar zugleich: Musikdenken, das heißt ein Denken in Klängen, nicht eines über Klänge oder gar etwas, was man sich zu ihnen »hinzudenkt«.
Bekanntlich war Arnold Schönberg derjenige Komponist, der als erster im westlichen Europa bewusst die freie Atonalität ins Werk gesetzt und mit der »Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen«, wie er sie nannte, eine Möglichkeit bereitstellte, sich im nun frei gewordenen, nicht mehr hierarchisch strukturierten Tonraum zu bewegen; und nicht zufällig war er jemand, der zeit seines Lebens auch in Wort und Schrift für eine Musik eintrat, die wesentlich Gedankenkunst ist. Und es war der am 5. Januar im Alter von 90 Jahren verstorbene Pierre Boulez, der das ganze Ausmaß und die gebotenen Konsequenzen jener a-tonalen Revolution zur Sprache brachte, die Arnold Schönberg, Alban Berg und Anton Webern losgetreten hatten, und damit das, was die musikalische Moderne in ihrem Wesen ausmacht, zum Selbstbewusstsein erhob: dass nämlich von diesem epochalen Vorgang schlichtweg alle konstitutiven und formbildenden Eigenschaften von Musik betroffen sind: nicht nur die simultane und sukzessive Relation der Tonhöhen, sondern auch die der Dauer, Dynamik, Artikulation und Klangfarbe. Damit trieb er seinerseits die prinzipiell unabschließbare Entwicklung der a-tonalen Musik weiter, in deren Logik die genannten und auch von Boulez noch recht pauschal gefassten Klangparameter bald weiter nuanciert wurden. So wurden bereits bei Stockhausen in den Orchesterwerken »Punkte« beziehungsweise »Gruppen« zu musikalischen Formulierungen, die früher einmal als Ornamente oder Akzidenzien, das heißt als Beiwerk galten, wie zum Beispiel vibrati oder Triller als »Mikrorhythmen«. Bei Helmut Lachenmann wurden die analytisch zerlegten und neu zusammengesetzten Vorgänge der Tonerzeugung am Instrument als formbildende Momente erkannt.
Aber nichts von alledem hat Boulez sich einfach »ausgedacht«, wie es das billige anti-intellektuelle Cliché will, sondern: Es waren primär und genuin kompositorische Interessen, die ihn zu diesen Erkenntnissen führten und die ihn sowohl in die Nähe von als auch in Gegensatz zu Schönberg brachten. Boulez, der zeit seines Lebens nie darum verlegen war, um der Sache willen zu polemisieren, erklärte jeden Komponisten, der die Notwendigkeit der zwölftönigen Schreibweise nicht erkannt habe, rundweg »für UNNÜTZ« – ein Verdikt, das heute so aktuell ist wie im Jahr 1948, aus dem diese Bemerkung stammt; und andererseits postulierte er in einem anderen programmatischen Aufsatz von 1951 »Schönberg est mort« und warf ihm Halbherzigkeit in der Behandlung der Reihentechnik sowie Konservativismus in Fragen der Formbildung vor und schloss daraus, dass Schönberg deshalb kein Vorbild für das gegenwärtige Komponieren abgeben könne. (Dass der Vorwurf nicht zur Gänze haltbar ist, darauf weist der Komponist Mathias Spahlinger mit Blick auf Schönbergs op. 31 und op. 45 immer wieder hin.)
Boulez hatte die Musik der »zweiten Wiener Schule« durch den nach Paris emigrierten Dirigenten und Komponisten René Leibowitz kennengelernt, bei dem er seit 1945 Analysekurse besuchte. Dessen phänomenologisch-existentialistische Auslegung und zum Teil buchhalterische Analyse der Zwölftontechnik forderten ihn zunehmend zum Widerstand heraus, so dass er 1946 mit Leibowitz brach. Musikwissenschaftler vermuten zurecht, dass die Polemik gegen Schönberg in Wahrheit eine gegen Leibowitz war.
Bereits etwas früher, seit 1944, nahm Boulez Theorie- und bald darauf auch Kompositionsunterricht bei Olivier Messiaen, wo er Werke von Debussy, Ravel und vor allem Strawinsky kennenlernte. Liest man die Aufsätze des jungen Boulez aus den späten vierziger Jahren und hört man seine frühen Kompositionen – und macht man beides so unbefangen wie möglich –, dann wird deutlich, welcher Unsinn anhaltend über das »serielle« Komponieren verzapft wird, das Boulez zusammen unter anderem mit Karlheinz Stockhausen, Luigi Nono, Bruno Maderna, Henri Pousseur und anderen begründete. Zum einen schließt Boulez musikalisch vor allem an Anton Webern, aber eben auch an Strawinsky und Messiaen an, also Komponisten, die mit Reihenverfahren damals überhaupt nichts zu tun hatten. Und zum anderen ging es Boulez und auch seinen bedeutenden Kollegen keineswegs darum, das Reihenprinzip auf andere musikalische Eigenschaften einfach zu »übertragen«, d.h. in Analogie zu den Zwölf-Ton-Reihen auch solche für Dauern, Lautstärken, Artikulation, Klangfarben zu konstruieren und aus dem Geflecht von Reihen ein musikalisches Werk gleichsam »automatisch« hervorgehen zu lassen. Boulez hat diesen Versuch tatsächlich einmal unternommen, in der »Structure Ia« für zwei Klaviere aus dem Jahr 1951 – und bis heute hält sich in weiten Teilen der an neuer Musik interessierten Öffentlichkeit hartnäckig die Auffassung, dass just dieses Werk typisch und beispielhaft für das »serielle« Komponieren sei (Leider hat György Ligeti mit seiner Analyse von 1960 entscheidend zu diesem Missverständnis beigetragen).
Dabei hat Boulez selbst mehrfach darauf hingewiesen, dass dieses Stück und die Vorgehensweise gleichsam ein Selbstversuch in einer durchaus vom Surrealismus angeregten écriture automatique waren. Er wollte sich bewusst an einen »Nullpunkt« der Schreibweise bringen, und zwar mit einem Material, aus dem alles Gestische, Sprachähnliche und Formal-Gestalthafte radikal getilgt ist und von der Musik nur noch zwölf in all ihren Eigenschaften durch Reihen determinierte Töne übrigbleiben. Der Komponist bringt sich bewusst in eine Zwangssituation, in der er sich den Rückgriff auf althergebrachte musikalische Gestalten abschneidet – damit er in der Folge unbelastet vom geschichtlichen »Alp der toten Geschlechter« (Marx) neue, unverbrauchte, noch nie dagewesene Formen finden oder auch erfinden kann – was Boulez in den kurz danach entstandenen Structures Ic und Ib und erst recht im zweiten Band der »Structures« von 1962 denn auch in beeindruckender Weise unternahm. Um deutlich zu machen, dass es sich bei der »Structure Ia« um einen unwiederholbaren Einzelfall handelte, erwog er, die Komposition nach einem Bild des von ihm geschätzten Paul Klee »An der Grenze des Fruchtlandes« zu nennen.
Wohlgemerkt: Dieses einmalige Experiment ist nicht der Ausgangspunkt von Boulez’ Komponieren, sondern er praktizierte es, nachdem er bereits eine Reihe exemplarischer Werke verfasst hatte, in denen er die zentrale Herausforderung, die das Reihenverfahren stellt, der es aber nicht gerecht wird, auf je unterschiedliche Art zu bemeistern sucht: die konstruktive Handhabung und Beziehung aller musikalischen Eigenschaften aufeinander dergestalt, dass eine Struktur für die andere, wie Boulez es gerne nannte, »verantwortlich« ist und für sie eintreten kann. Die Serie seiner frühen Meisterwerke wird eröffnet mit den »Notations« für Klavier von 1945, zwölf Stücken mit zwölf­tönigem Tonmaterial im Umfang von je zwölf Takten – Klavierstücke von aphoristischer Kürze bei höchstmöglicher struktureller Verdichtung, die so klingen, als seien sie ganz absichtslos hingeworfen. Boulez befand sie noch nach Jahrzehnten zurecht für so gelungen, dass er fünf dieser Stücke seit 1980 mit zum Teil erheblichen Erweiterungen für großes Orchester bearbeitete. Heraus kamen dabei die besten seiner späten Kompositionen.
Was sich in den »Notations« bereits deutlich ankündigt, kommt dann in der Zweiten Klaviersonate (1946/48) und im Streichquartett »Livre pour quatuor« aus den Jahren 1948/49 zur veritablen Explosion. Beide zählen sicherlich zu den komplexesten Werken ihrer Gattung. Boulez arbeitet in beiden Werken mit kleinen rhythmischen »Zellen« und variiert und entwickelt sie völlig unabhängig von den Tonhöhenverläufen. Die Tonhöhen sind zwar ihrerseits von einer Zwölftonreihe abgeleitet, aber in Gruppen unterteilt, die sowohl horizontal-melodisch als auch vertikal-harmonisch gebraucht werden; im Zusammenspiel mit den komplexen rhythmischen Überlagerungen und einer Behandlung der Lautstärke, die nicht mehr dazu dient, einzelnen expressiven Gesten Nachdruck zu verleihen, resultiert eine Musik, deren durchgängiges Kennzeichen eine ­refraktäre Widerborstigkeit, eine Aufgesprengtheit des Oberflächenzusammenhangs ist, die teils an eine freie Improvisation erinnert, dann wieder wie ein chaotisches Fluten anmutet – aber eben nicht im Sinne einer Entdifferenzierung, sondern im Gegenteil mit einem Höchstmaß an Konstruktivität, durch die jeder Augenblick der Musik gleich nah zum Mittelpunkt steht. Einer der spektakulärsten Sätze ist gewiß das Finale der zweiten Sonate, in der ein Fugensoggetto mithilfe rhythmischer Variationen durchgeführt und dabei regelrecht zerschmettert wird: Pulvériser le son lautet dazu die Vortragsanweisung. Diese Variationstechnik wird dann im Streichquartett zu neuen, ungeahnten Konsequenzen getrieben. Der vierte und sechste Satz des Werkes etwa sind eine Kombination des ersten und zweiten Satzes; teils werden Elemente des einen Verlaufs in den anderen hineinmontiert, teils werden ganze ­polyphone Passagen zu Hyperpolyphonien überlagert und dabei werden wiederum zunächst klar erkennbare rhythmische Gruppen zersprengt und auf Tonpunkte reduziert; zudem wird die aufs Äußerste verfeinerte Spieltechnik der Streichinstrumente mit ins kom­positorische Kalkül einbezogen. Einen einsamen Höhepunkt nicht nur der frühen Werke, sondern im kompositorischen Schaffen von Boulez überhaupt bildet dann das 1950/51 komponierte Kammerorchesterwerk »Polyphonie X«, das 1951 durch Hans Rosbaud in Donaueschingen uraufgeführt wurde und einen ziemlichen Skandal verursachte, wie man in dem auf CD verfügbaren Mitschnitt gut hören kann.
»Polyphonie X« ist gewiss Boulez’ radikalstes Werk, das sich vom Streichquartett ebenso unterscheidet, wie es daran anschließt: Im Gegensatz zum Quartett treten die rhythmischen Grundmuster nie im Original in Erscheinung, sondern immer schon in komplexen Ableitungen, die sich zudem nicht zu weiträumigen Ketten assoziieren, sondern zu punktuellen Feldern zusammenschießen, rhythmischem »Schwärmen«, die an Xenakis erinnern, denen alles traditionell Gestalthafte abgeht und die doch auf ganz neue Art »greifbar« sind. Und das »X« im Titel steht symbolisch für die Satztechnik, mit der Boulez schon im Streichquartett experimentiert: sich kreuzende Kanons, bei denen wiederum die Töne und Rhythmen unabhängige »Strukturen« ergeben und die auf eine höchst flexible und phantasievolle Weise miteinander polyphon kombiniert und den sieben Gruppen, in die das Orchester unterteilt ist und die ihre Zusammensetzung wechseln, übertragen werden. Zusammen mit dem »Livre« ist »Polyphonie X« gewiss eines der exaltiertesten und zügellosesten Musikstücke, die je komponiert wurden.
Mit gutem Grund darf vermutet werden, dass die Ablehnung neuer Musik, wie sie nicht nur »Polyphonie X« entgegenschlug, gar nicht so sehr dem mathematisch geschärften Kalkül gilt, dem das musikalische Material unterworfen wird, sondern vielmehr der unvermuteten Entfesselung des Klangs, die daraus resultiert. Es ist das Frappierende nicht nur, aber vor allem dieses Werks, dass hier eine kompositorische Kombinatorik, die völlig abstrakt verfährt, das heißt keine Rücksicht nimmt auf althergebrachte Ausdrucks-, Gestalt- und Sprachcharaktere, diese vielmehr durch den Grad ihrer Ab­straktion systematisch ausschließt, eine Beredtheit, eine Vehemenz des Ausdrucks und eine Gestaltenfülle hervorbringt, die auch für den Komponisten unvermutet und unberechenbar bleibt. Tatsächlich war Boulez selbst von seinem eigenen Werk überrumpelt und schockiert; und er zog gerade dieses Stück (wie auch viele andere) zurück und untersagte weitere Aufführungen.
Seine kompositorische Entwicklung war von diesem Punkt an die Geschichte eines fragwürdigen Gelingens. Boulez perfektionierte die Handhabung der von ihm entwickelten Techniken und wurde nicht zuletzt wegen seiner Dirigententätigkeit seit Mitte der fünfziger Jahre erfahrener im Umgang mit dem Orchester. Aber im selben Maße, wie Boulez die konstruktiven Härten der Technik milderte, gewann seine Musik an Berechenbarkeit, strahlte mitunter akademische Routine aus und wurde das, was neue Musik am allerwenigsten sein sollte: harmlos-ornamental. Und in einem beinahe an Selbstzerstörung gemahnenden Perfektionsdrang überarbeitete Boulez auch frühere Werke zum Teil mehrmals und glättete dabei auch ihre klanglichen Härten, wie zum Beispiel in der Überarbeitung der 1951 entstandenen Kantate »Le visage nuptial« besonders deutlich hörbar wird. Die 1991 festiggestellte Ausarbeitung des 1971 begonnenen Zyklus » … explosante-fixe … « markiert einen traurigen Tiefpunkt seines Komponierens: die Klangwelt, die von einer solistischen, zwei begleitenden und dank Live-Elektronik gleichsam im Raum umherschwirrenden Flöten im Zusammenspiel mit einem Kammerorchester aufgemacht wird, ist zweifellos faszinierend in ihrer Stimmigkeit und lässt einen genau deshalb ganz unberührt. Anders, als es der Titel verspricht, klingt » … explosante-fixe … « wie eine komplett desexualisierte Phantasmagorie, eine reichlich zahme Orgie im Puppenstubenformat. Es ist ein Glücksfall, dass Boulez die Glättung seiner Techniken und mit ihr der Musik nicht durchweg so lückenlos gelang wie hier: Der »Marteau sans maître« (1953/54) ist ein durchweg geglücktes musikalisches Äquivalent zu den dort verwendeten Gedichten René Chars; »Pli selon pli« nach Mallarmé (1957ff.) ist, zumal in seiner ersten Fassung, fraglos ein Meisterwerk, ebenso wie »Rituel in memoriam Bruno Maderna« (1973/74) für in Gruppen geteiltes Orchester.
Es ist gerade das Musikdenken von Pierre Boulez, mit dem er sich selbst und sein Komponieren immer wieder überflügelte; und eine seiner zentralen Schriften heißt auch genau so: »Musikdenken heute«. Mit ins Extrem getriebenen technischen Verfahren ins Freie, Unverfügbare, nicht bereits Vorgeprägte zu ­gelangen, »Unbekanntheitsmechanismen« zu entwickeln, war die kompositorische Utopie von Boulez – darin zweifellos der philosophischen Intention Adornos wahlverwandt, mit dem ihn auch eine herzliche Freundschaft verband. Und die Worte, in denen er diese Utopie umschrieb, und die bildkräftige Sprache, in der er nicht nur über seine Musik zu schreiben wusste, bezeugen, wie sehr Boulez’ Musikdenken von der Literatur und literarischen Entwürfen geprägt war: namentlich von Arthur Rimbaud, von Stéphane Mallarmé und vom Surrealismus. Die seriell veranstaltete Zertrümmerung der alterhergebrachten musikalischen Sprachcharaktere geschah, um eine Sprache gleichsam unterhalb der konventionellen Sprache erstehen zu lassen, eine, die nicht mehr »bedeutet«, sondern pure Lautintensität ist, déchirement sonore im Sinne Antonin Artauds.
Bereits André Breton hatte 1935 Rimbauds Formulierung aufgegriffen, wonach die Kunst das dérèglement des toutes les sens zu besorgen habe, und diese wirkungsästhetisch erweitert. Boulez seinerseits griff diese Formulierung in einem Vortrag von 1960 auf und gab ihr eine paradoxe Wendung: »Es geht darum, durch die REGELUNG aller Sinne zum Unbekannten zu gelangen.« Um eben dieses dialektischen Umschlagens von strenger Konstruktivität in unvermuteten Ausdruck willen legte Boulez stets so großen Wert auf kompositorisches »Metier«: die Schulung und Beherrschung des kompositorischen Handwerks, die Notwendigkeit, ein Kunstwerk mit rationalen Mitteln zu organisieren. Alle Versuche, ästhetische Entgrenzung ohne reflektierte Vermittlungen zu praktizieren und es dem Zufall zu überlassen, was dabei herauskommt, hielt Boulez mit vollem Recht für musik-, ja kunstfremde, d.h. kunstgewerbliche Bastelei mit Hang zum Sektierertum. John Cage, mit dem Boulez Anfang der fünfziger Jahre eine mehrjährige Brieffreundschaft unterhielt, bezeichnete er später als »Faulpelz« und »Hofnarren« einer »geschlossenen Gesellschaft mit faschistischen Tendenzen«. Es spricht für die Großzügigkeit des Menschen Boulez, dass er in seiner Zeit als Chefdirigent des New York Philharmonic Orchestra ein Stück von Cage dirigierte und ihn 1979 an das von ihm gegründete Pariser IRCAM, das Forschungsinstitut für Akustik und Musik, einlud.
In Zeiten des institutionalisierten postmodernen Schwachsinns, der nicht zufällig gerne bei John Cage Anleihen nimmt, kann man Boulez nicht genug dafür rühmen, dass er zeit seines Lebens nie von seinem strengen Musikdenken abgerückt ist. Die Postmoderne war für ihn »wie ein trauriger Spaziergang auf einem Friedhof«, eine Haltung, die Geschichtsbewusstsein vortäuscht, wo sie doch nur mit längst mumifizierten und eingesargten Versatzstücken der Geschichte ein Gesellschaftsspiel für ermüdete Intellektuelle veranstaltet. Boulez’ Haltung zur Geschichte war hingegen, wie Michel Foucault in einem seiner wenigen lesenswerten und klugen Aufsätze schrieb, »­intensiv und kriegerisch«; und, ganz ähnlich wie seine Auffassung von Technik, eminent dialektisch.
Für Boulez ging es stets darum, Geschichte zu machen, anstatt sich ihr wie einer kompakten »Bedingung« zu vergewissern. Liest man zum Beispiel seine frühen Analysen der 2. Kantate von Anton Webern, dann ist offenkundig, dass Boulez aus Webern gerade das extrahiert, was ihn selbst kompositorisch interessiert; seine Sicht auf Webern ist also extrem »subjektiv gefärbt«. Aber diese Tatsache kann keinen Vorwurf begründen, denn: indem aus dem kompositorischen Impetus, sich ohne Schutz und Deckung auf ungewisses Terrain vorzuwagen, vergangene Musik mit Bewusstsein ergriffen wird, wird vielleicht zu einem Teil verfehlt, was eine gewissenhafte, den historischen Ort und die Entstehungsbedingungen, das an Ort und Stelle Gesagte, Gemeinte und Intendierte berücksichtigende, kurz historistische Betrachtung erschließen würde. Aber dafür entbirgt die aktualisierende Perspektive den zukunftsweisenden, der Epoche, dem Publikum, den Theoretikern und womöglich auch dem Komponisten selbst verborgen gebliebenen Gehalt eines Werks. Sie »vergegenwärtigt« es im schönsten und produktivsten Sinne, indem sie durch solche Betrachtung selbst Geschichte macht und vergangene Musik in die geschichtliche Bewegung hinein- und sie der Konser­vation und Mumifizierung entzieht, die in aller historisierenden, d.h. die »Zeitumstände« gewissenhaft abwägenden Betrachtung schon im Ansatz beschlossen ist. Die ungewöhnliche, gewisse Züge an einem älteren Kunstwerk gleichsam überscharf belichtende Reaktionsform gehört vielmehr als unabdingbar subjektives Moment selber zur objektiven historischen Bewegung des Kunstwerks als einer ­offenen, sich geschichtlich entfaltenden Wahrheit.
Boulez verhielt sich so, wie Walter Benjamin es in seinen »Geschichtsphilosophischen Thesen« postulierte: Vergangenes war für ihn von Interesse als »mit Jetztzeit geladenes«, er wollte das »Aktuelle, wo immer es sich im Dickicht des Einst bewegt«, aufspüren; und eben dadurch verändert sich auch die Gegenwart, die sich mit Splittern des Vergangenen auflädt. So verhielt er sich nicht nur kompositorisch und reflektierend, sondern auch als Dirigent, wenn er etwa in der Bayreuther »Ring«-Inszenierung mit Patrice Chérau von 1976 Wagner konsequent aus dem Geist der Moderne zum Klingen brachte.
In diesem Zusammenhang wäre das scheinbar geschichtslose »Stunde Null«-Denken, das man den Serialisten und insbesondere Boulez gerne vorgeworfen hat, als produktives und unabdingbares Durchgangsmoment einer reflektierten Haltung zur Geschichte zu verteidigen: sich in eine Situation des Nullpunkts zu versetzen, wie Boulez es bei der »Structure Ia« praktizierte, heißt mit der schlechten Kontinuität der Geschichte – »dass alles immer so weiter geht« – zu brechen; aber es ist genau jener Bruch, der es erlaubt, Vergangenes bewusst in die Gegenwart zu ziehen anstatt es als toten Ballast bewußtlos mitzuschleifen. Der Nullpunkt, als ein Moment, in dem sich unvermutet und das heißt für den Menschen aktuell nicht zur Gänze durchschaubar ein neuer Anfang setzt, wäre eine gute Umschreibung für das, was man gemeinhin Revolution nennt. Und wenn es gelingt, in einem solchen Augenblick Fakten zu schaffen, die lange fortwirken, nachdem der Moment vorbei und der Schwung, der zu ihm führte, erlahmt ist, dann war es eine geglückte Revolution.
Pierre Boulez ist tot. Erfüllen wir sein Werk mit Jetztzeit.