Das Schweizer Norient-Netzwerk beschäftigt sich mit Popmusikkulturen des Globalen Südens

Im Westen nichts Neues

Das Schweizer Norient-Netzwerk liefert mit »Seismographic Sounds« einen faszinierenden Einblick in weniger vertraute Popmusikkulturen.

Sechs Jahre sind vergangen, seit MTV den taktischen Rückzug ins Bezahlprogramm antrat. Zu jenem Zeitpunkt war das Musikvideo allerdings bereits in die Bedeutungslosigkeit runtergewirtschaftet worden. Denn dort, wo die Buggles 1981 den »Radio Star« zu Grabe getragen hatten, verdrängten seit 2008 vor allem aufs Äußerste gelangweilte rich kids und der gefährlich nah am Abgrund der Psychose entlangschrammende Ozzy Osbourne eine Musiksendung nach der anderen.
Kurz nach der Jahrtausendwende, also noch bevor diese Entwicklungen eintraten, brachte das 19sekündige Video eines bleichgesichtigen Jungen aus Merseburg, der mit einiger Lethargie in der Stimme über die Bedeutung von Elefantenrüsseln sprach, eine der größten Erfolgsgeschichten des Jahrzehnts ins Rollen. Der Junge war Jawed Karim und das Portal, auf dem er das Video der Öffentlichkeit vorstellte, nannte sich Youtube. Heute hat »Me at the Zoo« knapp 29 Millionen Views und Karim sowie seine zwei Mitstreiter haben, nachdem sie das Portal Ende 2006 für 1,3 Milliarden Euro an Google verhökert hatten, vermutlich in etwa denselben Betrag auf ihrem Konto.
Während diese 29 Millionen Views vor allem angesichts des Inhalts bemerkenswert sind, gehören die totgeglaubten Musikvideos noch immer zu den erfolgreichsten Videos der Plattform. Statistiken von Youtube zufolge setzt sich die Top-Ten der am häufigsten aufgerufenen Clips aus Musikvideos zusammen, allen voran »Gangnam Style« des südkoreanischen Rappers Psy mit 2,5 Milliarden Aufrufen. Die übrigen darin vertretenen Künstler entstammen dem US-amerikanischen Markt.
Nach dem Tod des Musikvideos ist es um seinen Fortbestand also recht gut bestellt. Eigentlich sogar besser denn je, sofern man die maroden Einkommensstrukturen der Kreativ­industrie außer Acht lässt. Denn mit dem Wegfall des Quotendiktums, dem Kanäle wie MTV unterworfen waren, tritt eine ungeahnte Vielfalt an Musikvideos hervor. Und damit auch die Stimme des globalen »Mainstream der Minderheiten«, den Tom Holert und Mark Terkessidis einst beschrieben. Es sind vor allem die Minderheiten abseits der Kulturindustrien westlicher Gesellschaften, die nach und nach ins Rampenlicht rücken – »Gangnam Style« ist hier nur das prominenteste Beispiel.
Das Schweizer Norient-Netzwerk hat mit »Seismographic Sounds – Visions of a New World« ein Kompendium herausgegeben, das den Versuch wagt, Spuren dieser Popkulturen fernab des sogenannten globalen Nordens zu dokumentieren. Von Noise aus Israel über libanesischen Rap und afrikanischen Shangaan Electro bis hin zu japanischem Black Midi ist das gesamte Spektrum populärer Musiken abgedeckt. Einen Zugang zu all diesen unvertrauten Szenen bietet einmal mehr das Musikvideo, das man, in Anlehnung an den britischen Theoretiker Raymond Williams, als tableau vivant betrachten und aus dem man Rückschlüsse auf soziale Lebensrealitäten ziehen kann.
»Seismographic Sounds« ist vor allem eine Art musikethnographische Collage, ein Sammelsurium aus Kommentaren, Interviews, Fotoserien, Zitaten und wissenschaftlichen Artikeln, die sich jeweils an verschiedenen Musikvideos und Künstlern abarbeiten, um damit einen – wenn auch notwendigerweise fragmentarischen – Eindruck der sozialen, politischen und ästhetischen Vorstellungen der ihnen zugrunde liegenden Kultur zu vermitteln.
Und obgleich die einzelnen Beispiele in ihrem lokalen Kolorit kaum unterschiedlicher ausfallen könnten, lassen sich übergreifende Erzählstränge erkennen. Zum Beispiel die Auseinandersetzung mit den Wirkungsweisen des globalen Finanzmarktes. So hat sich etwa in Indonesien, in den Nachwehen der Suharto-Diktatur (1967 bis 1998), eine auf allen Verwaltungsebenen von Korruption durchzogene Kleptokratie herausgebildet, die es unabhängigen Konzertveranstaltern im Land nahezu unmöglich macht, eine funktionierende Infrastruktur aufzubauen. In diesem politischen Klima entwickelt sich Popmusik immer mehr zum Mittel des Protests. Die Band Burgerkill spielt dabei eine prominente Rolle. Sie ist eine der bekannteren Heavy-Metal-Bands des florierenden Underground in Indonesien. In ihrem Video zu »House of Greed« zeichnen sie das dystopische Panorama einer Gesellschaft, die von geldfressenden Monstern regiert wird. Der düster stilisierte Comiclook wird gekoppelt mit maschinengewehrartigen Bassdrum-Salven, heiser herausgebellten Textfetzen und der ohnehin harschen Klangästhetik, die eher an Hardcore denn Metal erinnert – all das beschwört ein atmosphärisch dichtes Stimmungsbild einer Subkultur, deren Alltag von Frustration und unterdrückter Wut bestimmt ist.
Ganz ähnlich Jérôme Bernards Video zu Seun Kutis »IMF«: Anstelle boshafter Comic-Monster stehen hier die corporate zombies des Internationalen Währungsfonds im Mittelpunkt, den Kuti poetisch in »International Mother Fucker« umdeutet. Der politische Hintergrund ist ähnlich: Als der IWF in den neunziger Jahren verstärkt Aufbaukredite an afrikanische Staaten vergibt, sind deren Rahmenbedingungen so ausgelegt, dass sie vor allem der vermögenden Klasse in die Hände spielen, während sie die unteren Schichten der Gesellschaft immer tiefer in die Verschuldung treiben. Interessant an beiden Videos ist die Tatsache, dass sie sich überschneiden, obgleich es keinerlei Verbindung zwischen beiden Szenen gibt.
Mitunter eint nicht nur das Thema, sondern auch die ästhetische Auseinandersetzung Popkulturen, die Tausende Kilometer voneinender entfernt sind. Bisweilen mit groteskem Resultat – etwa dann, wenn die Buchautoren eine auffällige Häufung von Supermarktkulissen in Musikvideos entdecken. In Esther Springetts Video zu Gazelle Twins »The Belly of the Beast« wird die Ware zum Fetischobjekt, das Begehren nimmt pathologische Züge an, körperliche Entzugserscheinungen inklusive. Die perverse Überzeichnung dieses Motivs kommt schließlich in Eric Wareheims filmischer Umsetzung von Mr. Oizos »Ham« zur Geltung: Der Kon­sum­wahn hat eine Meute fettsüchtiger Konsumenten geschaffen, die in einem Spektakel ausufernder Gewalt – das letztlich im Tod nahezu aller Beteiligten mündet – um die letzte verbliebene Flat-Eric-Puppe kämpft.
Eines der eindrucksvollsten Kapitel von »Seismographic Sounds« beschäftigt sich mit der Verarbeitung von Gewalt und Kriegseindrücken. Erst vor kurzem widmete sich das Berliner Haus der Kulturen der Welt mit dem Festival »Krieg singen« der Verbindung zwischen Sound und Kriegsführung (Jungle World 2/16). Das klangkünstlerische Interesse an Kriegs-sounds folgt einer langen Tradition, die gegenwärtig von Künstlern wie Matthew Herbert vertreten wird und über die russische Avantgarde (zum Beispiel Arseny Avraamovs »Symphony of Sirens«) bis zu den italienischen Futuristen um Luigi Russolo zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurückreicht. In Fortführung dieser Tradition bildet sich in Israel – um nur eines der zahlreichen Beispiele anzuführen – seit geraumer Zeit um das Label Heart & Crossbone eine lebendige Noise-Szene heraus, die versucht, die traumatisierenden Kriegserfahrungen in Klang zu übersetzen. Der Kopf des Labels, David Oppenheimer, erweitert diesen Ansatz in »Sakata Helicobtir Min Tiraz Sikorsky« bis hinein ins Bildliche und ergänzt einen akustisch nachempfundenen Helikopterabsturz mit Karten der Region und Skizzen des imaginierten Geschehens.
Vor allem das macht die beeindruckende Vielzahl an Beiträgen unmissverständlich deutlich: Popkultur kann nicht als ein vorrangig westliches Phänomen verstanden werden, das Einflüsse nichtwestlicher Kulturen lediglich unter kolonialistisch konnotierten Labels wie »World Music« oder »Exotika« zu integrieren vermag. Vielmehr ist »Seismographic Sounds« eine Aufforderung dazu, die gängigen Konzeptionen von Popkulturgeschichte aus geographischer Perspektive zu dekonstruieren.
Eine Auswahl der Beiträge und Themen des Buchs werden im Rahmen des CTM-Festivals ausgestellt. Unter dem Titel »New Geographies« widmet sich das Berliner Kulturfestival in diesem Jahr den komplexen Verschränkungen von lokalen Zusammenhängen, globaler Kommunikation und künstlerischen Praktiken. Auch vor dem Hintergrund der Flüchtlingsdebatte setzen sich Künstler, Kuratoren und Wissenschaftler mit neuen und alten Grenzziehungen auseinander.

Theresa Beyer, Thomas Burkhalter, Hannes Liechti (Hg.): Seismographic Sounds – Visions of a New World. Bern 2015, Norient Books, 504 Seiten, 35,99 Euro

Das CTM-Festival findet vom 29. Januar bis 7. Februar an verschiedenen Veranstaltungsorten in Berlin statt.