Der 40. Jahrestag des Militärputsches in Argentinien

Aufarbeitung auf dem Abstellgleis

In Argentinien jährt sich dieser Tage der Militärputsch von 1976 zum 40. Mal. Die neue konservative Regierung unter Präsident Mauricio Macri versucht, sich des ungeliebten Themas der Aufarbeitung zu entledigen, ohne Konfrontationen zu provozieren.

Hunderttausende werden am 24. März im Zentrum von Buenos Aires erwartet, wenn wie jedes Jahr des Beginns der von 1976 bis 1983 währenden Diktatur gedacht wird. Diese war zwar die brutalste, aber bei weitem nicht die einzige Diktatur in Argentinien im 20. Jahrhundert – seit 1930 kam es zu acht Staatsstreichen. Der letzte ereignete sich am 24. März 1976, als Präsidentin Isabel Perón am Flughafen von Buenos Aires festgenommen wurde. Eine Militärjunta unter Führung von Jorge Videla ergriff die Macht, womit sich der Kreis im Cono Sur, dem südlichen Teil Südamerikas, schloss. Denn in den Nachbarländern Bolivien, Brasilien, Chile, Paraguay und Uruguay herrschten bereits Diktatoren.
Die Vorjahre des Putsches waren geprägt vom Konflikt zwischen Staat und Guerillagruppen. Letztere hatten sich nach dem »argentinischen 1968« gegründet, das ein Jahr verspätet im sogenannten Cordobazo seinen deutlichsten Ausdruck fand. Im Mai 1969 kam es zu einem Aufstand von Studierenden und Arbeitern gegen die damalige Diktatur. Nur mit Mühe konnte das entsandte Militär nach zwei Tagen die Kontrolle über die Stadt Córdoba erlangen. Gegen die linksperonistisch, leninistisch und trotzkistisch geprägten Guerillagruppen baute Präsident Juan Domingo Perón ab 1973 die paramilitärische Antikommunistische Allianz Argentinien auf, genannt Triple A, deren Todesschwadronen zahlreiche Aktivisten und Intellektuelle umbrachten. Mitglieder dieser Todesschwadronen mordeten auch für die Militärdiktatur weiter, die weitestgehend deren Methoden übernahm.
Bereits in den letzten Jahren vor dem Putsch waren die Guerillagruppen aufgerieben worden. Obwohl sie keine wirkliche Gefahr für den Staat darstellten, dienten sie den Militärfunktionären als Vorwand, um an die Macht zu gelangen. Der Kampf gegen vermeintlich Subversive wurde die Legitimationsgrundlage der Junta aus Heer, Marine und Luftwaffe, die zunächst mit Kriegsrecht und Ausnahmezustand regierte und sofort Arbeiter, Gewerkschafter, Studierende und andere Oppositionelle verhaften ließ. Sie wurden an klandestinen Orten gefoltert und getötet, viele Tote wurden aus Flugzeugen über dem Atlantik abgeworfen. Insgesamt wurden etwa 30 000 Menschen ermordet und rund 500 in Geheimgefängnissen geborene Kinder geraubt, indem sie unter anderer Identität in regimetreuen Familien aufwuchsen. Der Staatsterrorismus äußerte sich auch im Verbot tausender Bücher und der massenhaften Manipulation der Bevölkerung mit Hilfe von gefälschten Informationen.
Es war keine reine Militärdiktatur, man spricht heute von der bürgerlich-militärischen Diktatur, weil neben den Streitkräften auch Justiz, Kirche, Wirtschaft und große Medienkonzerne das Regime stützten. Die Junta überließ die Wirtschaftspolitik weitgehend dem zuständigen zivilen Minister José Martínez de Hoz, der eine Liberalisierungspolitik betrieb. Der linke Schriftsteller Rodolfo Walsh beschrieb in seinem offenen Brief an die Junta kurz vor seiner Ermordung 1977 das Wirtschaftsprogramm treffend als reine Politik für die »traditionelle Land­oligarchie, die neue spekulative Oligarchie und einige ausgewählte internationale Monopole, darunter auch Siemens«.
Neben dem organisierten Kampf gegen das Regime regte sich vermehrt Protest von Angehörigen der »Verschwundenen« gegen die Verschleppung und Ermordung von vermeintlichen oder tatsächlichen Regimegegnern. Die sogenannten Mütter der Plaza de Mayo verstießen jeden Donnerstag gegen das Demonstrationsverbot, indem sie mit weißen Kopftüchern, auf denen die Namen ihrer entführten Kinder standen, Runden vor dem Präsidentenpalast zogen. Sie wollten die Aufenthaltsorte ihrer Kinder erfahren und forderten, diese sollten lebend wieder auftauchen.
Das Ende der Diktatur kam 1983, nachdem die Junta im Vorjahr den Krieg um die Falkland-Inseln im Südatlantik gegen Großbritannien verloren hatte und sich mit sozialen Protesten im Land und internationalem Druck konfrontiert sah. Raúl Alfonsín, der Spitzenkandidat der gemäßigten Radikalen Bürgerunion, leitete im Dezember 1983 die bis heute andauernde längste demokratische Phase in Argentinien ein. Er widmete sich der Aufarbeitung der Diktatur, etwa indem er die »Nationale Kommission über das Verschwinden von Personen« schuf, ging aber nie ernsthaft auf Konfrontationskurs zu den Militärverbrechern. Durch das 1986 verabschiedete Schlussstrichgesetz, das eine Frist von zwei Monaten für Anzeigen im Zusammenhang mit der Diktatur setzte, sowie das ein Jahr später folgende Gesetz über die Gehorsamspflicht wurden viele Täter vor Strafverfolgung der ohnehin wenig engagierten Justiz geschützt. Viele Militärangehörige wurden zudem in den neunziger Jahren begnadigt.
Als eine der ersten Amtshandlungen stieß der von 2003 bis 2007 amtierende Präsident Néstor Kirchner die Annullierung dieser Gesetze an und leitete damit – für viele überraschend – eine Politik ein, die sich die Forderungen der Menschenrechtsorganisationen zu eigen machte. Er und seine Ehefrau und Amtsnachfolgerin Cristina Fernández de Kirchner, Präsidentin von 2007 bis 2015, stellten die Aufarbeitung ins Zentrum ihres Wirkens: Die Amnestiegesetze wurden für verfassungswidrig erklärt, Prozesse wurden wieder aufgerollt und Folterzentren zu Orten des aktiven Gedenkens. Die Soziologin Estela Schindel stellt fest: »Néstor und seine Ehefrau Cristina haben das, was soziale Organisationen seit Jahren gefordert haben, zum Staatsprojekt gemacht.«
Néstor Kirchner wollte sich so wohl auch die Zustimmung der Menschenrechtsorganisationen sichern, um seine Machtbasis zu verbreitern. Er war mit nur 22 Prozent der Stimmen Präsident geworden, weil der Erstplatzierte Carlos Menem, der bereits von 1989 bis 1999 Präsident war, angesichts einer sicher zu erwartenden Niederlage nicht zur Stichwahl antrat. Mütter-, Großmütter- und auch Kinderorganisationen, die eine Aufarbeitung der Diktaturverbrechen fordern, werden heute nicht mehr als terroristisch gebrandmarkt, sondern sind fester Bestandteil des öffentlichen Lebens. Nach offiziellen Angaben gibt es heute fast 2 000 Anzeigen gegen uniformierte und zivile Täter wegen der zwischen 1974 und 1983 begangenen Menschenrechtsverletzungen, bis dato wurden aber nur 690 Personen verurteilt.
Mit dem Amtsantritt des neuen Präsidenten Mauricio Macri im Dezember vergangenen Jahres verbanden viele Konservative die Hoffnung, er werde mit den Menschenrechtsbemühungen der Vorgängerregierungen brechen. Die Verleger der Tageszeitung La Nación schwadronierten etwa in einem mit »Schluss mit der Rache« überschriebenen Editorial, es sei Zeit, »mit den Lügen über die siebziger Jahre und mit den aktuellen Menschenrechtsverletzungen aufzuhören«. Mit letzteren meinten sie die ausstehenden Gerichtsverfahren wegen Diktaturverbrechen. Macri selbst sagte nach seinem Amtsantritt, die ausstehenden Prozesse sollten zügig zu Ende gebracht werden, wobei er an die Unabhängigkeit der Justiz appellierte. Dabei ist die Justiz extrem politisiert, was nicht zuletzt Macris vom Verfassungsgericht gestopptes Dekret zur Einsetzung von zwei Bundesrichtern im Dezember zeigt. Die Richter waren alte Gewährsleute Macris. Im Hinblick auf die ausstehenden Prozesse sprach sich Claudio Avruj, Staatssekretär für Menschenrechte, erst kürzlich dafür aus, gegen Täter über 70 Jahren künftig nur noch Hausarrest zu verhängen. Folgt die Justiz diesem Ansinnen, müssen all diejenigen, die während des Putschs älter als 30 waren, keine konventionelle Haft fürchten.
Wie in anderen Bereichen versucht Macri auch bei der Aufarbeitung der Diktatur den politischen Kern seiner Entscheidungen durch Sachzwangargumente zu verschleiern (Jungle World 9/2016). So spart seine Regierung im Rahmen der Austeritätspolitik dort Ausgaben ein, wo sie sich unliebsamer Meinungen entledigen will. Im heutigen Kultur- und Gedenkort in der Mechanikerschule der Marine (ESMA), die ehemals als klandestines Folterzentrum gedient hatte, wurden bislang 60 Stellen gestrichen, weitere Kündigungen sollen folgen. Einem Künstler, der an einem Denkmal zur Erinnerung an die indigene Vergangenheit des Landes arbeitet, wurde der Raum gekündigt. Die Projektstelle Menschenrechte in der Zentralbank, die unter anderem die Verstrickungen des Banksektors mit der Diktatur erforschte, wurde abgeschafft.
Dass die neue Regierung dem Gedenken einen geringen Stellenwert einräumt, verdeutlicht auch Macris anfängliche Weigerung, sich mit Vertretern der Menschenrechtsorganisationen zu treffen. Erst als der französische Präsident François Hollande im Februar ankündigte, die Großmütter der Plaza de Mayo zu besuchen, sah sich Macri genötigt, ebenfalls ein Treffen zu vereinbaren. Die Großmütter forderten von ihm, die Demonstration am 24. März nicht zu behindern. Seit Jahren gab es wegen Differenzen zur Regierungspolitik keine gemeinsame Demonstration der verschiedenen Menschenrechtsorganisationen an diesem Datum. Das hat sich nun mit der neuen Regierung verändert.
Umstritten ist auch der Besuch von US-Präsident Barack Obama. Ausgerechnet am 24. März hat er sich zum Antrittsbesuch bei Macri angekündigt und will im Rahmen dessen auch die ESMA besuchen. Die Wahl des Datums ist zumindest ungeschickt, waren doch die USA, wie bei allen lateinamerikanischen Diktaturen in den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts, auch in Argentinien eine treibende Kraft hinter dem Militär. Im Rahmen des Plan Condor, der auf die länderübergreifende Verfolgung und Ermordung Oppositioneller und Linker in ganz Lateinamerika zielte, unterstützte die USA auch die Putschisten in Argentinien. Der damalige US-Außenminister Henry Kissinger sagte zwei Tage nach dem Putsch: »Sie sollen nicht denken, dass sie von den USA bedrängt werden« – und gab 50 Millionen US-Dollar für militärische Unterstützung frei. Obama hat nun angekündigt, als geheim eingestufte Dokumente aus Zeiten der Diktatur freizugeben.

Eine der bereits vor dem Putsch von 1976 agierenden Guerillagruppen war der Movimiento Peronista Montonero, kurz die Montoneros, eine vom Linksperonismus und Che Guevara beeinflusste Stadtguerilla. Ihre Mitglieder verübten Anschläge und Überfälle und erpressten Lösegeld. 1974 wurden sie aus dem Partido Justicialista, der Peronistischen Partei, ausgeschlossen. Unter der Militärdiktatur wurden etwa 5 000 Mitglieder der Montoneros getötet. Ende der siebziger Jahre verschwand die Führung der Organisation aus Argentinien und die Montoneros spalteten sich im Exil in verschiedene Gruppen.