Die Veteranen der lettischen Waffen-SS marschieren wieder

Familienfest für Geschichtsrevisionisten

In Riga marschierten dieses Jahr am 16. März wieder Veteranen der lettischen Waffen-SS-Verbände mit ihren Unterstützern auf. Den lettischen Staat stören aber vor allem antifaschistische Kritiker. Vielen Letten gelten die Nationalsozialisten als Verbündete im Kampf gegen die Rote Armee.

Sie singen. »Un nežēlīgam naidniekam, likt visu atmaksāt!« (Rache für alles, was der erbarmungslose Feind getan) – die lettische Legionärshymne. Aus Hunderten Kehlen ertönen die Zeilen und legen sich über die Melodie des Originals »SS marschiert in Feindesland«, der Hymne der Waffen-SS. In Riga ist das Stück bei den Teilnehmern des »Tags der Legionäre«, der in Lettland seit 1998 jährlich am 16. März gefeiert wird, ein Evergreen.
Kurz zuvor hatten sie ihren Gedenktag für die verstorbenen Mitglieder lettischer SS-Verbände in der St.-Johannes-Kirche begonnen. Pfarrer Guntis Kalme hielt eine Andacht für die Legion, abgeschirmt von der draußen wartenden Medienmeute. Dann setzt sich Kalme an die Spitze des Zugs, neben ihm laufen die wenigen noch lebenden Veteranen der Truppe in ihren gepflegten Uniformen. Hinter ihm sammeln sich Mitglieder der rechten lettischen Partei Nationale Allianz, Jugendliche im H & M-Einheitslook, SS-Fans aus Estland und Litauen und Familien mit Kindern. Die Flaggen der baltischen Staaten flattern im Wind. Einige Marschteilnehmer halten auf Englisch beschriftete Schilder in die Luft: »No to Nazism and Communism« und »16th of March – the day when we remember Latvian freedom fighters«. Ganz am Ende stehen Vertreter des ukrainischen Bataillons Asow. Die neonazistische Miliz kämpft derzeit gegen prorussische Separatisten in der Ostukraine.
Der Marsch durch die hanseatische Altstadt Rigas mit ihrem markigen Kopfsteinpflaster ist kein langer. Vorbei an restaurierten Jugendstilbauten führt er, vorbei an irritierten Touristen und Bauarbeitern, die mit ihren Smartphones filmen und dem Zug vereinzelt applaudieren. Dann passieren sie die Richard-Wagner-Straße und schreiten dem Freiheitsmonument entgegen, einem Obelisken, der 42 Meter hoch aufragt und an die Unabhängigkeit Lettlands von 1918 erinnern soll. Mitglieder des nationalistischen Verbands Daugavas Vanagi Latvijai stehen Spalier und halten lettische Fahnen. Junge Frauen verteilen Rosen an die Trauernden, die sie wiederum vor dem Denkmal ablegen. Reinis Ozolkāja ist Mitglied des Daugavas-Verbands und hat den Marsch mitorganisiert. »Die Sowjetunion hat schreckliche Verbrechen an Lettland begangen, daran erinnern wir«, sagt er. »Die lettische SS-Division bestand aus einfachen Letten, die zwangsrekrutiert wurden. Das waren keine Nazis, wie diese uninformierten Leute da drüben behaupten.«
Antifaschismus unerwünscht
Die da drüben, das sind nicht einmal 50 Menschen, die sich zum antifaschistischen Protest gegen den Marsch zusammengefunden haben. Es sind größtenteils ältere Menschen und Angehörige der russischen Minderheit, die unter den zwei Millionen Einwohnern des Landes 26 Prozent der Bevölkerung stellt. Sie verlesen Namen jüdischer Opfer der NS-Herrschaft in Lettland und halten Fotografien von ausgemergelten Insassen der Vernichtungslager. Die Polizei hat die Antifaschisten vom Marsch der Legionäre getrennt und sie auf 30 Meter Entfernung vom Freiheitsmonument verwiesen.
Christiane Rothmaler von der Hamburger »Projektgruppe für die vergessenen Opfer des NS-Regimes« ist nach Riga gereist, um sich dem Protest anzuschließen. »Es ist schwer, in einem Land wie Lettland gegen solche Märsche zu demonstrieren«, sagt sie. Rothmaler erzählt, dass sie das am Tag vor dem Marsch selbst erfahren habe. Mitarbeiter des lettischen Geheimdienstes besuchten sie in ihrem Hotelzimmer, um sie über ihre Teilnahme am Protest zu verhören. Erst als sie die deutsche Botschaft kontaktierte, ließen die Verhörer ab. Noch rigoroser traf es eine fünfköpfige Delegation der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA). Sie wurden am Vortag am Flughafen in Riga verhaftet, zu unerwünschten Personen erklärt und per Bus nach Litauen abgeschoben. Thomas Willms, Bundesgeschäftsführer der VVN-BdA, sagt der Jungle World: »Die Beamten haben sich korrekt verhalten. Ich hatte den Eindruck, dass sie eher etwas überfordert waren von der Situation. Sie haben alles bis zur letzten Zahnpastatube katalogisiert. Besonders interessierte sie schriftliches Material. Sorgfältig wurde jedes Plakat abgezählt, aus dem Verhörraum herausgebracht und vermutlich fotografiert.«
Der lettische Staat ist trotz des geringen Widerstands gegen die Verherrlichung der SS-Legion alarmiert. Denn am »Tag der Legionäre« prallen die historischen Narrative aufeinander. 1940 wurde das unabhängige Land auf Grundlage des Molotow-Ribbentrop-Pakts von der Sowjetunion annektiert. Ein Jahr später folgte der Überfall Nazideutschlands auf das Baltikum. Viele Letten feiern die Wehrmacht als Befreier, doch für die jüdische Bevölkerung war es der Anfang ihrer Vernichtung. Lebten vor der Nazi-Okkupation etwa 70 000 Juden in Lettland, waren es Anfang 1942 nur noch 3 500. Alle anderen wurde zumeist von Polizisten des Sicherheitsdienstes der SS ermordet, der sich aus Deutschen und Letten zusammensetzte. Die Formierung der zwei lettischen Waffen-SS-Verbände erfolgte erst 1943 und 1944. Sie kämpften an der Ostfront gegen die heranrückende Rote Armee – für viele Letten ein heldenhafter Kampf für die Unabhängigkeit des Landes.
Verdrehte Geschichte
Efraim Zuroff hält das für blanken Geschichtsrevisionismus. Er ist Leiter des Simon-Wiesenthal-Zentrums in Jerusalem und spürte Kriegsverbrecher wie den Ungarn Sándor Képíró auf. Seit Jahren besucht er Aufmärsche von SS-Veteranen in den baltischen Staaten. Vor kurzem veröffentlichte er gemeinsam mit Ruta Vanagaite ein Buch über die Shoah in Litauen. »Ich bin wahrscheinlich der meistgehasste Jude im Baltikum«, erzählt Zuroff in der Lobby des Metropole-Hotels in Riga. Es reiche schon zur Empörung, wenn er in Lettland auf historische Fakten hinweise. Zwar sei es richtig, dass nur ein Drittel der lettischen SS-Männer Freiwillige waren und der Rest Zwangsrekruten, die an der Vernichtung der Juden nicht beteiligt waren. Dennoch wurden auch mindestens 25 000 Polizisten des Sicherheitsdiensts in die Legion überführt – und die verübten Massenmorde an der Zivilbevölkerung in Lettland, Weißrussland und Russland. »Am lächerlichsten ist es, dass die SS-Leute hier als Freiheitskämpfer gefeiert werden. Die Nazis hatten niemals den Plan, Lettland zu einem unabhängigen Land zu machen.« Die Letten, so Zuroff, hätten Angst, dass ihr Geschichtsbild in Gefahr gerate, wenn das Andenken an die SS-Legion als faschistischer Aufmarsch bezeichnet wird. Zumal die Propagandamaschine in Russland nur darauf zu warten scheine, faschistische und nationalistische Bewegungen in ehemaligen Sowjetrepubliken als existentielle Gefahr für die dort lebenden Russen zu stilisieren. »Im Gegenzug wird den Russen mangelnde Treue gegenüber dem lettischen Staat vorgeworfen«, sagt Zuroff.
Josef Koren kennt diese Vorwürfe nur zu gut. Er empfängt in einem schmucklosen Rigaer Büro und drückt eine Zigarette nach der anderen im Aschenbecher aus. Von hier aus koordiniert er die Arbeit des Vereins »Lettland ohne Nazismus«, einer Organisation, die er mit einer Gruppe von Freunden gründete. 2005 konnte er mit seinen Mitstreitern zur Demonstration gegen den »Tag der Legionäre« noch 3 000 Menschen mobilisieren. Heutzutage ist das für ihn schwieriger. »Von Januar bis Mitte März werden alle meine E-Mails mitgelesen und Telefonate mitgehört«, sagt Koren. Es sei schwierig geworden, Widerspruch zum lettischen Konsens zu äußern. »Die lokale Bevölkerung hat Angst. Mindestens 50 Prozent der Letten und 100 Prozent der Russen sind eigentlich gegen diesen Marsch.« Dennoch sei der Kampf um das korrekte historische Narrativ beinahe verloren. Die Mehrheit der jungen Menschen in Lettland sage mittlerweile, die lettische Legion sei keine schlechte Truppe gewesen, so Koren. Im Geschichtsunterricht bekämen Schüler zu hören, dass die Legion mit den Verbrechen der SS nichts zu tun gehabt habe. »Die Faschisten werden nach meinem Gefühl jedes Jahr stärker.«
Raum für Antisemiten
Zwar ist der 16. März kein offizieller Feiertag mehr und auch Mitglieder der Mitte-rechts-Koalition von Ministerpräsident Māris Kučinskis marschieren auf europäischen Druck hin nicht mehr mit. Doch Mitglieder der Nationalen Allianz und anderer Parteien lassen sich immer bei den Märschen blicken – und schrecken auch sonst nicht vor offen antisemitischen Aussagen zurück. So sagte Kārlis Seržants, ein Parlamentsabgeordneter vom Bündnis der Grünen und Bauern, am 13. März im russischsprachigen Radiosender LT4, dass Menschen einer »besonders schlauen Ethnie, unter ihnen auch Anwälte«, die Autorität des lettischen Staats untergraben wollten. Auf Nachfrage des Interviewers, ob Seržants damit die Russen meinte, antwortete dieser: »Nein, ich meine die jüdische Ethnie.« Angesichts solcher Aussagen wirkt Koren, der selbst jüdisch ist, resigniert. Wenn jener Abgeordnete wiedergewählt werde und der Nazismus sich verstärke, müsse er langsam über Emigration nachdenken, so Koren. »Schauen Sie, ich wurde in Lettland geboren, bin hier aufgewachsen und diente in der Armee. Ich lebe gerne hier. Aber ich bin 60 Jahre alt und kein Held«, sagt er und zündet sich eine weitere Zigarette an.
Als der Marsch der SS-Verehrer sich dem Ende nähert und alle Teilnehmer ihre Rosen vor dem Denkmal niederlegt haben, beginnen langsam die Abräumarbeiten. Die Polizei stellt die Wellenbrecher weg. Die Demonstrierenden rollen ihre Flaggen ein. Es ist nur ein kurzer Aufzug gewesen. Schon am frühen Nachmittag, nach wenigen Stunden, haben sich die Trauernden zerstreut. Passanten zeigten nur wenig Interesse an dem Spektakel. Einen eigenen Kranz für die Opfer der Waffen-SS haben Josef Koren und seine Mitstreiter in diesem Jahr nicht niedergelegt. Als sie es in den vergangenen Jahren versuchten, wurde der Trauerflor wenig später von Mitgliedern des Daugavas-Verbands zerstört.