@Judenstaat

Doron Rabinovici und Natan Sznaider führen einen fiktiven E-Mail-Verkehr mit Theodor Herzl.

Bis 120!« So lautet im Judentum ein auf die Bibel zurückgehender Glückwunsch zum Geburtstag. Damit wird dem Gratulanten ein besonders langes Leben gewünscht. In diesem Jahr erreicht die Erstveröffentlichung des schmalen Bändchens »Der Judenstaat« des österreichisch-ungarischen Journalisten Theodor Herzl dieses biblische Alter.
Zweifelsohne ist das 1896 erschienene Buch das wichtigste Dokument des Zionismus. Darin hatte der damals 35jährige Herzl knapp, aber präzise seine Vorstellungen von der politischen, ökonomischen und sozialen Gestalt eines jüdischen Gemeinwesens skizziert. Dieser Staat sollte den bedrängten und verfolgten europäischen Juden Rettung bieten und für alle seine Bürger Fortschritt, Wohlstand und Gleichheit garantieren. Es war kein Dokument des Chauvinismus oder Kolonialismus. Der oftmals kolportierte Vorwurf, Herzl habe von Palästina als einem Land ohne Volk für ein Volk ohne Land gesprochen, ist frei erfunden. Im Gegenteil sah Herzl die arabische Bevölkerung Palästinas als Partner in der Staatsbürgerschaft, wie der israelische Politikwissenschaftler Shlomo Avineri dargelegt hat.
Die Wandlung von einem assimilierten Juden zu einem Verfechter der Auswanderung und der Wiedergründung eines jüdischen Staates im Nahen Osten begann, als Herzl die antisemitischen Hetzschriften Eugen Dührings Anfang der achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts intensiv studiert hatte. Bei der Lektüre wurde ihm klar, wie groß der Hass auf die Juden war und dass dieses Ressentiment gegen Aufklärung immun war. Für die Juden gab es keine Zukunft in Europa, so Herzls Fazit, das Jahrhundert der Emanzipation der Juden war buchstäblich an sein Ende gelangt und die Zukunft würde aggressiver, gewalttätiger und blutiger für sie werden.
»Der Judenstaat« wurde schnell zu einem Bestseller, vor allem bei den osteuropäischen Juden, die unter dem grassierenden Antisemitismus im russischen Zarenreich litten. Seinen publizistischen Erfolg nutzte Herzl, um für sein Projekt zu werben. Anders als frühere zionistische Autoren wie Zwi Hirsch Kalischer, Moses Hess, Peretz Smolenskin oder Leo Pinsker wollte er sich nicht mit der Theorie begnügen. Er organisierte 1897 den ersten Zionistischen Weltkongress, traf sich unermüdlich mit Diplomaten, Mäzenen und Staatschefs, erhielt Zusagen und noch mehr Absagen. Am Ende starb er mit gerade einmal 44 Jahren, ohne seinem Ziel eines jüdischen Gemeinwesens nähergekommen zu sein. Allerdings hatte er den Grundstein für spätere Erfolge, für die Balfour-Erklärung 1917, die zunehmenden Zustimmung zum Zionismus unter den Juden und die Gründung Israels gelegt.
So wurde die Unabhängigkeitserklärung des jüdischen Staats Israel auf einem Teil des ehemaligen britischen Mandatsgebietes Palästina im Jahr 1948 zunächst als die Erfüllung des Zionismus gesehen. Doch die fortgesetzte Infragestellung des Existenzrechts Israels und der Versuch seiner Zerstörung machen bis heute deutlich, dass das Kernversprechen des Zionismus, Juden und Jüdinnen in einem jüdischen Staat Sicherheit und vor allem Normalität zu gewährleisten, nur bedingt eingelöst werden konnte.
Natürlich hat sich auch der Judenstaat seit Herzls Niederschrift verändert. Dessen Vorstellung nach war der Staat ein kooperatives, sozialistisches Gemeinwesen. Religion und Staat sollten klar getrennt sein, so der säkulare Jude Herzl. Ebenso verzichtete er darauf, sich mit militärischen Fragen zu beschäftigen. Er sah dafür keine Notwendigkeit und glaubte, dass der Judenstaat in Zukunft mit seinen Nachbarn in Frieden leben werde. Doch die Wirklichkeit vor Ort war eine andere: Die arabischen Pogrome gegen die Juden Palästinas in den zwanziger und dreißiger Jahren, das Abrücken der britischen Mandatsmacht von der Idee eines unabhängigen jüdischen Staates, die Shoah und schließlich der Krieg gegen den jungen israelischen Staat führten dazu, dass der jüdische Nationalismus militanter wurde, dass die Vorstellung einer Koexistenz mit den arabischen Staaten in den Hintergrund und das Überleben in den Vordergrund rückte. Die Auslöschung der Zentren der jüdischen Religion in Osteuropa durch die Deutschen führte dazu, dass der Orthodoxie in Israel eine besondere Stellung eingeräumt wurde. Diese Entwicklungen hatte Herzl nicht vorhersehen können.
Im Buch »Herzl reloaded« versuchen sich nun der israelische Soziologe Natan Sznaider und der österreichische Schriftsteller Doron Rabinovici dem Gründungsvater des Zionismus aus heutiger Sicht zu nähern. Sie haben sich für eine interessante Herangehensweise entschieden: Im Rahmen eines fiktiven E-Mail-Trialogs unterhalten sich die beiden Autoren mit Theodor Herzl über dessen Ideen, den aktuellen Stand des Zionismus und des heutigen Israels. Auf den ersten Blick ein durchaus zeitgemäßer, kreativer Versuch, Bilanz zu ziehen.
Natürlich ist Herzl seit über 100 Jahren tot, wie kann also eine Korrespondenz mit ihm aussehen? Sznaider und Rabinovici haben dafür Versatzstücke aus Herzls veröffentlichtem Material ausgewählt. Sie greifen dabei nicht nur auf den »Judenstaat« zurück, sondern wandeln Auszüge aus Herzls utopischem Roman »Altneuland« sowie seinen Briefen und Tagebüchern in E-Mails um.
In der weiteren Dramaturgie des Buches übernimmt dann Rabinovici den Part des universalistischen, linken Kritikers des heutigen Israels und Sznaider den, der auf die identitäre und partikularistische Dimension des Judentums insistiert. Durch diese Rollenverteilung ermöglicht das Buch dem Leser, einer spannenden Diskussion zu folgen, die in ähnlicher Weise auch in den Bars und Cafés Tel Avivs geführt wird. Rabinovici geht dabei mit dem Israel seit 1967 hart ins Gericht. »Nicht mehr der Staat für die Juden, sondern jüdisches Land wurde zum eigentlichen Ziel«, schreibt er an Herzl und betont im weiteren Verlauf immer wieder, dass es die Siedlungen und die Besetzung gewesen seien, die zum Abfall vom ursprünglichen säkularen Zionismus geführt hätten. Sznaider wirft an diesem Punkt berechtigterweise den linken Israelis vor, dass es sich um eine »mythische Verklärung« handele, in der 1967 das »gute« von einem »bösen« Israel abgelöst worden sei.
Auch im weiteren Verlauf schenken sich die beiden Autoren nichts, dabei rücken dann die Person Herzl und der Staat Israel thematisch in den Hintergrund. Es strebt alles auf die Frage Sznaiders an die beiden literarischen Adressaten zu: »Was heißt es nun, jüdisch zu sein?« Sznai­der tritt als Befürworter eines Judentums auf, das für Differenz und Partikularität steht und die religiöse Komponente und die jüdische Geschichte ernst nimmt, während Rabinovicis Vorstellung auf Universalismus und Gleichheit fußt. Die beiden Autoren sprechen noch einmal den Konflikt durch, der so oder so ähnlich zwischen jüdischer Orthodoxie und Reformjudentum oder später zwischen Moderne und Postmoderne ausgefochten wurde. Das liest sich durchaus interessant, ist allerdings etwas kleinteilig und bleibt leider allzu oft bei Allgemeinplätzen stehen. Man weiß nicht so genau, was Sznaider meint, wenn er davon spricht, dass es um »normale Politik und um Souveränität« gehe oder wenn Rabinovici immer wieder auf »Menschlichkeit« und »Frieden« zurückkommt, ohne diese inhaltlich näher zu bestimmen.
Eine weitere Schwachstelle: Die E-Mails des Herzl-Parts wirken oft ausweichend, hölzern und teilweise unpassend, weil sie eben nicht auf die Diskussion eingehen können. Der als Trialog angelegte Austausch wird so zu einem Zwiegespräch, bei dem Herzl nur als Beiwerk dient. Damit geschieht Herzl Unrecht und es wird nicht klar, welcher Gewinn sich für den Leser daraus überhaupt ergibt.
Ein grundlegendes Problem des Buches ist, dass beide Autoren den Antisemitismus als bestimmenden Faktor im Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern abtun. Der mörderische Terror gegen Israel und die Juden kommt nicht zur Sprache, der virulente Judenhass in der palästinensischen Gesellschaft findet keine Erwähnung. Das liegt wohl nicht zuletzt daran, dass keiner der beiden Autoren über einen gehaltvollen Begriff von Antisemitismus verfügt: »Der Antisemitismusvorwurf ist ja nichts anderes als ein Legitimationsargument. Wenn ich zeigen kann, dass sie Antisemiten sind, dann ist ihr Anliegen nicht legitim. Das interessiert mich nicht«, weicht etwa Sznai­der einer Auseinandersetzung mit dem Thema aus.
So bleibt der Leser am Ende etwas unbefriedigt zurück. Herzl und sein Zionismus wurden durch das Buch nicht mit neuem Leben erfüllt, die Herausforderungen für den Wirklichkeit gewordenen Judenstaat Israel sind nicht deutlich geworden und neue Lösungen wurden nicht aufgezeigt.
Dabei wäre es durchaus interessant, den heutigen Zionismus mit Herzls Vorstellungen abzugleichen und den momentanen Zustand des Zionismus zu diskutieren. Denn dieser befindet sich offenkundig in einer fundamentalen Krise: Der jüdische Staat kann die antisemitischen Feinde zwar durch einen Dauerausnahmezustand in Schach halten, was bereits mehr ist, als einige europäischen Staaten ihren jüdischen Bürgern versprechen können. Aber das ist noch weit von dem utopischen Normalzustand entfernt, den Herzl in »Altneuland« entworfen hatte.
Doron Rabinovici/Natan Sznaider: Herzl reloaded: Kein Märchen. Jüdischer Verlag im Suhrkamp-Verlag, Berlin 2016, 207 Seiten, 19,95 Euro