Die frauenfeindliche Politik der AKP ist Teil der Reislamisierungspläne

Zurück zum Harem

Die türkische Regierung propagiert immer offensiver alte Rollenbilder. Ein Anstieg der Gewalt gegen Frauen, Schwule, Lesben und Transpersonen wird dabei in Kauf genommen.

»Lauf, Tayyip, lauf, die Frauen kommen«, skandierten Tausende beim traditionellen Nachtmarsch am 8. März in Istanbul, nachdem zwei Tage zuvor die verbotene Demonstration zum Internationalen Frauentag mit heftiger Polizeigewalt zerschlagen worden war. Das lautstarke Selbstbewusstsein der feministischen Bewegung konnte den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdo­ğan, der just zum Frauenkampftag sein erzkonservatives Mantra zur Rolle der Frau als Mutter neu auflegte, indes nicht wirklich beeindrucken. Berufstätige Frauen, predigte er in gewohnt paternalistischer Manier, würden im Kapitalismus versklavt, Frauenbefreiung gefährde den »Schutz der Familie« und Geburtenkontrolle und Abtreibung trockneten die türkische Nation aus.
Erdoğans Ansprache bediente das misogyne Ressentiment, das die weibliche Selbstbestimmung als Verrat an der türkischen Nation diskreditiert. Die Ankündigung, das seit 1983 bestehende und liberal gehandhabte Recht auf Abtreibung erhablich einzuschränken, sorgte bereits 2012 für heftige Proteste. In seiner damaligen Funktion als Ministerpräsident hatte Erdoğan Abtreibungen als »tägliche Morde« bezeichnet und Frauen aufgefordert, dem Vaterland idealerweise drei, besser noch fünf Kinder zu schenken. An dem immer reaktionäreren frauenpolitischen Kurs der AKP-Regierung äußerten selbst konservative muslimische Frauenverbände Kritik und prangerten in einem Protestschreiben an die Regierung deren Tatenlosigkeit angesichts der patriarchalen Gewalt an: »Was tun Sie eigentlich dagegen, dass jeden Tag in der Türkei mindestens eine Frau von ihrem Mann oder einem anderen Verwandten ermordet wird?«
Tatsächlich ist die weitverbreitete Gewalt gegen Frauen seit Jahrzehnten ein gesellschaftliches Tabuthema. Zuletzt sorgte im Februar 2015 der Mord an der Studentin Özgecan Aslan, die sich erfolgreich gegen einen Vergewaltigungsversuch gewehrt hatte, für eine landesweite Protestwelle. Der Fall Aslan fachte die Debatte über die Folgen der Reislamisierungspolitik der AKP für das gesellschaftliche Klima neu an.
»Wir können ganz klar sagen, dass die AKP-Regierung aus ihrer Feindschaft gegen Frauen keinen Hehl macht. Fast jeden Monat hören wir von einem Mitglied der Regierung Aussagen, die sich gegen Frauen richten«, berichtet Selime Büyükgöze von der Frauenrechtsorganisation Mor Çatı.
Die AKP verfolge noch in den ersten Jahren nach ihrem Regierungsantritt 2002 einen Reformkurs, von dem Frauen, aber auch Minderheiten wie LGBT profitierten. Zu den rechtlichen Verbesserungen zählen die gesetzliche Gewaltprävention und Reformen im Strafgesetz zur Vergewaltigung sowie zur Abschaffung strafmildernder Umstände bei Verbrechen im Namen der »Fa­mi­lien­ehre«. Homosexualität war auch zuvor nicht verboten, gesellschaftlich jedoch geächtet und wurde repressiv verfolgt. Trotz des konservativen Klimas konnten sich auch Lesben, Schwule und transidente Queers zunächst besser organisieren. Dem Soziologen Zülfukar Çetin zufolge erreichten sie in dieser Zeit eine »eine sichtbare Mobilisierung, Stärkung und Akzeptanz in der Gesellschaft«. Beobachter im In- und Ausland führen die progressiven Schritte der ersten Regierungshälfte bei Menschen- und Bürgerrechten primär auf den EU-Reformdruck zurück. Mit den stagnierenden Beitrittsverhandlungen, spätestens nach dem Beginn der arabischen Revolten und dem Erstarken des politischen Islam und der Muslimbrüder in der Region zeichnete sich jedoch eine grundlegende Neuorientierung der alleinregierenden AKP ab.
Ab 2007 hat sich laut Çetin auch die Lage von LGBT wieder verschärft. Homosexuelle und Transpersonen berichteten vor der letzten Parlamentswahl von einer allgemeinen Atmosphäre der Angst und von Übergriffen durch Banden der AKP-Jugend.
Im mit der Änderung der gesellschaftspolitischen Agenda einhergehenden Bruch mit den alten säkularen Eliten aus den urbanen Mittel- und Oberschichten sieht der Journalist Yusuf Kanli von Hürriyet Daily News einen »de facto system change«. Zählte vor Regierungsübernahme der AKP zum – nie ganz eingelösten – Ausweis der Fortschrittlichkeit die strikt laizistische Verfasstheit der Republik einschließlich der sichtbaren Partizipation von Frauen an der öffentlichen Sphäre, stützt sich die vielbeschworene »türkische neue Mitte« unter der AKP vor allem auf die Förderung der wertkonservativen Familie, eine »religiös erzogene neue Generation«, die möglichst jung heiraten soll, und eine traditionelle Frauen- und Mutterrolle mit osmanischer Tugendhaftigkeit. Die jüngst geäußerten Haremsphantasien von Emine Erdoğan, First Lady und mithin weibliches role model der Republik, wonach die idealisierte osmanische Haremskultur Frauen vor allem »auf das Leben« vorbereitet und ihnen den erwünschten Verhaltenskodex vermittelt hätte, lassen tief blicken. Frauen und Männer seien von Natur aus ungleich und könnten, so der Präsident in wiederkehrenden Reden – mal mit Verweisen auf das »Wesen« der Frau, mal mit Blick auf die angeblich islamisch festgeschriebene Mutterrolle – gesellschaftlich gar nicht gleichgestellt werden. »Männer und Frauen haben gleiche Rechte«, garantiert Artikel zehn der türkischen Verfassung und hält im Nachsatz fest: »Der Staat ist verpflichtet, alle Maßnahmen zu ergreifen, um die Gleichberechtigung zu verwirklichen.« Diesem Verfassungsauftrag sieht sich die auf ein Präsidialregime zusteuernde Regierung offenkundig nicht verpflichtet. Es ist absehbar, dass die Bewegungen für die Rechte von Frauen und LGBT im Bündnis mit Kräften der liberalen, säkularen und linken Opposition, wie es bei den Gezi-Protesten erfolgreich erprobt wurde, noch länger gegen die weitere Institutionalisierung reaktionärer Sexualmoral und Rollenzwänge werden kämpfen müssen.