Der Dreisatz

»Drei!«, ruft Janis sehr laut, aber an seinem Gesichtsausdruck kann ich sehen, dass er nicht von seiner Antwort überzeugt ist. Ich bin es auch nicht. Später im Lehrerzimmer, dem Ort, wo wir Lehrerinnen und Lehrer uns dicht aneinanderdrängen und einander die neuesten Erkenntnisse über die Unzulänglichkeit der Jugendlichen zuraunen, werden wieder alle sehr entsetzt sein. Dabei war meine Klasse gerade noch so stolz auf ihr Mathematikergebnis bei den deutschlandweiten Vergleichsarbeiten der achten Klassen gewesen. Wo in den beiden Parallelklassen rund 70 bzw. sogar 80 Prozent den Mindeststandard nicht erreicht haben, waren es in meiner Klasse nur knapp 50 Prozent, eine Nachricht, die von ihr mit großem Jubel aufgenommen wurde. Nour, die mit zweifelndem Gesichtsausdruck in der ersten Reihe saß und in den Lärm fragte: »Aber heißt das nicht, dass die Hälfte von uns überhaupt nicht rechnen kann?«, gehört vermutlich zu den anderen 50 Prozent. Und sowieso, sie sitzt in der ersten Reihe, das würde Janis nie passieren.
Der ebenso eifrige wie bedauernswerte Student, der bei einem Berufsfindungsprojekt für die Station zuständig ist, an der aus Gründen, die auch er mir nicht richtig erklären kann, der Heizkostenpreis von Holzpellets mit dem von Heizöl verglichen werden soll, muss jetzt allerdings mit Janis und Ali und Can arbeiten und nicht mit Nour. Den zunehmend verwirrten Jungs erschließt sich auch nach einem Erklärungsmarathon das Prinzip des Dreisatzes nicht. Aber ich bin ja auch da, ich kann sie retten, erleuchten, zu ungeahnten Höhen der Erkenntnis führen. »Schaut mal, das ist wie, äh, wenn ihr zehn Äpfel habt, die kosten vier Euro und ihr wollt wissen, wie viel drei Äpfel kosten … ?« Can schaut ratlos zu Ali, der ratlos zu Janis schaut, der »75 Cent!« brüllt. »Ok, nein, erm, hm, und ein Apfel, der kostet … ?« Can schaut ratlos zu Ali, der ratlos zu Janis schaut, der »Zehn Cent!« brüllt. Nach intensiver Beratung kommen sie zu dem Ergebnis, dass man zunächst möglicherweise vier Euro durch zehn teilen muss. »Gut, super, toll! Und was kommt da raus?« Can schaut ratlos zu Ali, der ratlos zu Janis schaut, der in seiner Tasche gräbt und fragt, ob er das nicht vielleicht mit dem Taschenrechner … ? Ich gucke ihn nur an, vermutlich traurig, aber Janis hört trotzdem auf, seinen Rechner zu suchen, denkt erneut nach und ruft dann eben »Drei!« und Can und Ali gucken erst erfreut ihn und dann erwartungsvoll mich an und ich denke, dass ich fragen sollte, ob er drei Cent meint oder drei Euro und dass wir den Grundschulen Bescheid geben müssen, weil da irgendetwas schlimm schief läuft. Und ich überlege, wenn man mit drei Schnäpsen 100 Gramm Wahnsinn vergessen könnte, wie viele Schnäpse man dann für ein Kilo braucht, und komme zu keinem Ergebnis.