Das neue Album von Anohni

Das Dröhnen der Drohnen

Die Transgender-Musikerin Anohni wendet sich auf ihrem neuen Album »Hopelessness« von Identitätsfragen ab. Ihr neues Sujet ist die US-amerikanische Außenpolitik. Leider verwechselt sie Protestsongs mit Elends-Porn.

Antony ist jetzt Anohni. Boy ist Girl. Mann ist Frau. Das kann niemanden überraschen. Antony hatte es angekündigt, 2005 auf »I Am a Bird Now«, dem Durchbruchalbum von Antony & The Johnsons: »One day I’ll grow up, I’ll be a beautiful woman./One day I’ll grow up, I’ll be a beautiful girl./But for today I am a child, for today I am a boy.« Es ist die Stimme, für die Antony geliebt wird, oder besser: die Courage, mit der Antony diese geschlechtlich uneindeutige, aber eindeutig Schmerz und Verletzung transportierende Stimme in den Vordergrund seiner Musik stellt, oft ­genug nur begleitet vom Piano. Darin ähnelt der 1971 in Chichester ­geborene Antony Hegarty der Bluessängerin Nina Simone, die vielleicht das wichtigste seiner vielen Idole ist. »Nina Simone«, so der Künstler, »spielte eine besondere Rolle in meiner musikalischen Entwicklung. Ich verbrachte ganze Tage in meinem Zimmer und hörte wieder und wieder Alben wie ›Baltimore‹ oder ›Nina ­Simone and Piano!‹ Sie traf Noten, von denen ich nicht mal wusste, dass sie existieren.« Nina Simone bringt im jungen Antony Saiten und Seiten zu Hörbarkeit und Kenntlichkeit, von denen er selbst nichts weiß – für derlei Decodierungs- und Dechiffrierungsarbeit wurde Popmusik erfunden. Nina Simone habe alles mit power and emotion durchdrungen, so Antony weiter in der Rubrik »My Life In Music« in der Zeitschrift Uncut 2007. Selten hat jemand so erschöpfend und geradezu überplausibel sein eigenes Making-of, sein »Wie ich wurde, was ich bin« offengelegt wie Antony an dieser Stelle. »Erste gekaufte Platte: Kate Bush. Platte, über die ich Sex entdeckte: Relax von Frankie Goes to Hollywood. Platte, die mich erkennen ließ, dass ich schwul bin: Culture Club, Do You Really Want to Hurt Me. Platte, die mich inspirierte, Künstler zu werden: Klaus Nomi. Song, den ich gerne geschrieben hätte: Velvet Underground, Candy Says.« Die stringente Bilderbuchhaftigkeit, mit der aus diesem Set von Einflüssen und Vorbildern die Figur Antony hervorgeht, hat etwas Beängstigendes.
»Candy Darling on her deathbed«, Peter Hujers ikonisches Schwarzweiß-Foto von 1974 ziert das Cover von »I Am a Bird Now«. Mit »Candy Says« und mehr noch mit »Walk On the Wild Side« machte Lou Reed Andy Warhols Transgender-Superstar Candy Darling berühmt, wie er später Antony berühmt macht, als er ihn 2003 auf seinem Album »The Raven« das Stück »Perfect Day« singen lässt. Wer den späten Lou Reed mal lächeln sehen will, der schaue sich auf Youtube an, wie er mit Antony »Candy Says« singt. Am Ende nickt er zu ihm rüber wie ein stolzer Vater, sagt mit aller Würde, die ihm gegeben ist: »Antony.« Und hat eine Träne im Auge.
Ein Jahr vor seinem Tod habe ich versucht, Lou Reed zu interviewen, er hatte in Frankfurt eine Ausstellung mit Fotografien. Das Gespräch endete, als der kleine, gebrechliche Mann mir Prügel androht, weil ich ihn gefragt hatte, ob er sich als queer artist verstehe. Wir hatten über ­Antony gesprochen, einer der wenigen Momente, in denen sich Lou Reeds Miene aufhellte.
»I love Antony.«
Was empfinden Sie, wenn Antony einen Ihrer Songs singt mit dieser Stimme, die so ganz anders ist als Ihre eigene? Ist das so eine Art Gendercrossdressing?
(Verzieht das Gesicht) »What? No! Nicht im Entferntesten.«
»Aber was empfinden Sie sonst, wenn er Ihre Lieder singt, ›Candy Says‹ oder ›Perfect Day‹?«
»Er hat eine geniale Stimme und die Fähigkeit zu kommunizieren.«
Das hat also nichts mit Transformer zu tun, dem Spiel mit Geschlechterrollen?
(Verzieht das Gesicht) »Nicht, dass ich wüsste.«
Im Nachhinein ist die Formulierung »Spiel mit Geschlechterrollen« ziemlich bescheuert, gedankenlos dahergeredet. Von einem Spiel kann bei Antony ja eher nicht die Rede sein.
»One day I’ll grow up, I’ll be a beautiful woman. One day I’ll grow up, I’ll be a beautiful girl«, sang An­tony. Der Tag ist gekommen. Antony ist jetzt Anohni. In einem gewissen Sinne sei »Hopelessness« Anohnis erstes Album, beheimatet »in the soulful shelter of sound«, schreibt Hilton Als. Der afroamerikanische Autor ist auf Race- und Gender-Fragen spezialisiert, sein Statement wird von Anohnis Plattenfirma verbreitet, dient also als Deutungshilfe im Sinne der Künstlerin, wie die ebenfalls zu Promozwecken verschickte Laudatio von Laurie Anderson. Für Lou Reeds Stellvertreterin auf Erden ist »Hopelessness« ein ganz neuer Mix aus Liebe und Macht, Sex und Verzweiflung, dargeboten mit ihrer himmlischen Stimme. Anohni habe die Geschichten von Verzicht, Schmerz und Begehren hinter sich gelassen, jetzt gehe es um die größten Themen unserer Zeit und das sei ein revolutionärer Schritt. Die Plattenfirma preist »Hopelessness« als »Dance-Album mit Soul-Gesang und Texten, die nicht näher an den Brennpunkten sein könnten: staatliche Überwachung, Drohnenkrieg und Umweltzerstörung«.
Zum Brennpunkt gleich, erstmal zu den Stilfragen. Da fällt das Wort »Dance« ins Auge. Von »dance-mutated electronica« spricht Geoff Travis, Gründer von Rough Trade Records, ein weiterer Kronzeuge für Anohni. Wer nun bei Dance freudig erregt an »Blind« denkt, den House-Euphorie-Hit von Hercules & Love Affair, dem Antony mit seiner fabelhaften Silvester-Impersonation zu vollem Discokugelglanz verhalf, liegt falsch. »Dance-mutated electronica« trifft den Anohni-Sound besser, weniger Dance, mehr mutated. Verantwortlich für die Produktion sind Hudson Mohawke und Oneohtrix Point Never, große Namen im weiten Feld der tanzmutierten Elektronik. Von beiden war zu erwarten, dass sie sich für einen grundlegend anderen Umgang mit der Stimme Antonys/Anohnis entscheiden würden. Mohawke und Oneohtrix Point Never sind Autoren-Künstler, also nicht nur in dienender oder regieführender Funktion; sie repräsentieren als solche eine Sound-Ästhetik, die mehr (OPN) oder weniger weit (Mohawk) von derjenigen entfernt ist, die wir von dem Künstler formerly known as Antony kennen. Antony war primär Sänger von torch songs, Liedern, die von unerfüllter, unmöglicher Liebe erzählen, mit einer schmerzgeplagten Stimme, die zur Identifikation einlädt, also im Mix weit vorne platziert wird. Antony, Jahrgang 1971, kommt gerade in die Pubertät, als er die queere Postmoderne des torch song im Gewand des britischen soul- und discobeseelten Synthiepop erlebt, mit gendertranszendierenden Stimmen wie Marc Almond, Jimmy Somerville, Alison Moyet und Boy George. Ein »Dance-Album mit Soul-Gesang«, das diese Boom-Zeit heteronormabweichender Pop-Musik in die Gegenwart von House katapultiert, das war vermutlich der feuchte Traum all derer, die mit Anohni Geld verdienen wollten. Da wäre einiges gegangen: Stimme hoch- und runtergepitcht, rein- und rausgemischt, getunt, multipliziert und so weiter. Aber nichts da. Mohawke und OPN lassen Anohni ihre von Antony geerbte torch song-Stimmmacht und dekorieren sie lediglich mit tanzmutierter Elektronik, ein Kulissen-, kein Paradigmenwechsel. Zudem lag die Vermutung nah, dass die Transition von Antony zu Anohni auch eine neue Stimme hervorbringen könnte. Dass die Produzenten sich den Fragen des schwulen Schubert-Liebhabers Roland Barthes stellen: »Welcher Körper singt also das Lied? Was singt mir in meinem, des Zuhörenden Körper das Lied?«
Nein, diese Fragen aus »Die Körnung der Stimme« bleiben aus. Wie überhaupt die Transition von Antony zu Anohni so gut wie ausgespart ist auf »Hopelessness«. Der Verlockung des Geldes und des Ruhms hat Anohni widerstanden und eben kein autobiographisches Coming-out- und Going-trans-Album abgeliefert. Das ist die gute Nachricht.
Nun zum Brennpunkt. Statt unter Liebeskummer und Gender Trouble wie Antony leidet Anohni unter dem Elend der Welt – bleibt aber im melodramatischen Format. »Drone bomb me, blow my head off«, fordert sie im ersten Song, Anohni stirbt durch Drohnen. Zu forciertem Theaterdonner beklagt sie in »Four Degrees« die zerstörerische Erderwärmung. Um Überwachung geht’s in »Watch Me«. So nah wie nie kommt Anohni in »Execution« dem bittersüßen Schmelz­pop eines Boy George, sehr hübsch. Wäre da nicht der leicht ir­ritierende Text: »Execution/It’s an American dream/Like the Chinese and the Saudis/The North Koreans and the Nigerians.« Aha. Zurück zur Drohne.
»Wenn ich deinen Vater mit einer Drohnenbombe töten würde, wie würdest du dich fühlen?« fragt die Stimme in »Crisis«, den Tränen nah. »Wenn ich Deine Mutter mit einer Drohnenbombe töten würde, wie würdest du dich fühlen?« fragt die Stimme, näher am Wasser. »Und wenn ich deinen Bruder in Guantánamo foltern würde«, schluchzt Anohni schließlich. Der dramatur­gische Bogen spannt schon arg. Dann, ja dann würdest auch du unschul­digen Menschen vor laufender Kamera den Kopf abschneiden. Anohnis Welt ist übersichtlich: islamistischer Terror als legitime Notwehr gegen »imperialistische« Gewalt. Und wer ist schuld? Die USA. Und ihr Präsident. »Obama« ist der Tiefpunkt dieses an Tiefpunkten reichen Albums. »O-O-O-O-O-O-baa-maaaahma«, brumm­dröhnt die diesmal tiefergelegte Stimme. Anohni singt den Blues? »Wer hat mein Land so zerstört, oh Mama, Oh Bama? Wie Kinder haben wir an dich geglaubt. Als du gewählt wurdest, hat die Welt geweint vor Freude und jetzt: Du spionierst, exekutierst, verrätst, bestrafst die Whistleblower … «
Wenn Sahra Wagenknecht zur Drehleier die neuesten Antiimp-Hits von Diether Dehm sänge, wäre das halb so schlimm. Anohnis Ausflug in die Politik ist wirklich ein Drama. So viel hat sich die Hochbegabte vorgenommen, zwei kompetente Produzenten von außen geholt, Namen, Gender und Sujet gewechselt, und dann das. Der künstlerische Transfer vom privaten, persönlichen Schicksalslied, das Antony beherrschte wie kaum ein anderer, das allerdings immer besonders gut zur Wirkung kam, wenn er mit anderen sang, im Duett oder im Duell, mit Lou Reed und Boy George, mit Coco Rosie und Rufus Wainwright, zum Protest-Emo ist gescheitert. Gekippt ins Obszöne. Wenn Anohni klageleiernd in die Rolle kindlicher Drohnenopfer schlüpft, dann ist das schlimmer als jeder Elends-Porn.
Anohni: Hopelessness. Rough Trade/Beggars Group (Indigo)